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Sammellager

Es ist fast nicht zu glauben, aber - die mit der Parole “Stargard” haben recht gehabt. In dem großen Gebäude der Johstschule (keine Ahnung, wer dieser Johst ist?) werden wir einquartiert; mit denen, die schon da sind, mögen wir jetzt insgesamt etwa 6000 Mann sein. Der Platz in der Schule ist dementsprechend knapp, für uns als die zuletzt Angekommenen bleiben nur die Dachböden. Viel Staub und fast unerträgliche Temperaturen, dazu in der ganzen Schule kein Wasser; und wir sehen nach unseren 8 Tagen Marsch aus wie die Schweine. Das Küchenwasser wird in Fässern herangefahren, zu trinken gibt es einen halben Liter Wehrmachts-Einheits-Gesundheits-Tee-Ersatz täglich, waschen und rasieren (letzteres bei mir zum Glück noch nicht nötig) fallen weiterhin aus. Wir sehen mittlerweile aus wie eine mittelalterliche Räuberbande.

Täglich werden ein paar Leute für irgendwelche Arbeiten in der Stadt gesucht, und eines Tages habe ich das Glück und bin dabei. Aus den Häusern einer Straße, die ja alle verlassen sind, sollen die noch brauchbaren Möbel zum Abtransport auf die Straße gestellt werden. Die Möbel interessieren mich dabei weniger, obwohl ich sie, um nicht aufzufallen, natürlich fleißig mit schleppe; aber in manchen Schränken sind noch Bücher, und darunter räume ich für mich auf. Als wir am Abend ins Lager zurückkommen, habe ich einen ganzen Rucksack voll Literatur - und kriege ihn sogar mit durch die Kontrolle am Eingang . . . 

Damit hat sich für mich das Kapitel “Arbeit” zunächst einmal erledigt. Wenn ich genug zu lesen habe, brauche ich nicht allzu viel anderes zum Leben. Am meisten fesselt mich Shakespeares “Summer Nights Dream” in Englisch. Ja, wenn man Papier und Schreibzeug hätte, könnte man den übersetzen, das wäre Beschäftigung für Wochen . . .

Aber Papier und Schreibzeug hat keiner mehr. Nicht nur das - alle Messer (bis auf ein paar vorsorglich versteckte), alle Rasierapparate, alle Scheren, überhaupt alles, womit man sich oder andere verletzen könnte, haben sie uns abgenommen, als wir hier ankamen. “Deitsche so: gib alte Naggel, macht Gewehrmaschin!”, sagt einer der Russen, die diese Filzerei machen.

Und wieder laufen Parolen um. Diesmal soll angeblich eine Verlegung nach Deutsch-Eylau bevorstehen. Nicht zu Fuß, sondern mit der Bahn; die Waggons stehen, so sagt man,  schon auf dem Bahnhof; es soll welche von uns geben, die waren zur Arbeit dort und haben die Toiletten in die Güterwagen eingebaut. Aber woher wollen die wissen, wohin die Waggons fahren? Hier kann doch wohl kaum jemand, wie früher beim Barras, Beziehungen zur Schreibstube oder zum Putzer des Kompaniechefs haben. Andererseits, wenn es wirklich stimmen sollte - das liegt doch noch weiter im Osten? Da wird es wohl doch nichts mit dem Nachhausefahren, weil der Krieg zu Ende ist . . .?

Das mit den Toiletten war eindeutig gesponnen. Die Waggons haben nämlich nur ein etwa kopfgroßes Loch im Boden, durch das 45 Mann ihre kleinen und großen Geschäfte verrichten müssen - und die meisten haben Durchfall und treffen das Loch nicht richtig . . . Die Luft ist dementsprechend, ganz abgesehen davon, dass 45 Mann für einen normalen Güterwagen bedeuten, dass alles wie die Ölsardinen auf dem Fußboden nebeneinander liegt und daß bei (fast) ständig verschlossenen Türen die Luft auch ohne den Klosettersatz ziemlich knapp wird. Reichlich unhygienisch, aber man muss sich wohl sogar daran gewöhnen.

Der Zug rollt und rollt. Eintönig klopfen die Schienenstöße . . . und die Sonne brennt auf das Dach, und zu trinken gibt es erst am Abend wieder, wenn das Hartbrot aus dem Verpflegungswagen geholt wird. Dann erst kann man sich auch ein bisschen die Beine vertreten und sich mal ungestört am Bahndamm hinhocken und in Ruhe - na ja, jedenfalls ist das besser als dieses im wahrsten Sinne beschissene Loch im Fußboden. 

Die Hitze wird immer größer, und der Durst auch. Der Kaffee von heute früh ist längst alle (zwei Kannen zu je 10 Liter für 45 Mann), Wasser gibt es keins, kann es ja auch nicht geben; wir fahren doch ununterbrochen. Wer wirklich noch ein paar Tropfen hat (was übrigens den Besitz eines solchen Luxusgegenstandes wie einer Flasche voraussetzt), der hütet sie wie eine Kiste voll Gold. Alles liegt und döst vor sich hin. Mir drängt sich immer wieder die Vorstellung vom Sangerhäuser Schwimmbad auf: so viel Wasser! Fünfzig Meter lang, fünfzig Meter breit, und durchschnittlich wohl so 2 Meter tief, und kalt - und nass! Und einen Kopfsprung könnte man hinein machen, und schwimmen, und tauchen, und - trinken! Gibt es so was überhaupt? So viel Wasser? 50 m breit, und 50 m lang, und 2 m tief? Das wären doch - mal rechnen - 5000 Kubikmeter, also fünf Millionen Liter . . . Fünf Millionen Feldflaschen voll Wasser, das heißt, wenn der Zug hier 50 Wagen hat, kämen auf jeden Wagen hunderttausend Feldflaschen, und wenn dann sogar 50 Mann in jedem Wagen wären, dann hätte immer noch jeder 2000 Feldflaschen und könnte trinken und trinken und trinken und würde nie fertig . . .

Fünf Tage geht das so. Dann heißt es eines Morgens “Aussteigen!” - und wieder staunen wir. Wir sind tatsächlich in Deutsch-Eylau.

Vor uns ein scheinbar endloser Stacheldrahtzaun. Antreten, zählen, noch einmal zählen, noch einmal zählen - dann plötzlich: “Alle Ausländer rechts raus!”. Gibt es denn so was beim preußischen Kommiss auch - Ausländer? Was für Ausländer? Und wenn ja - aus welchem Ausland mögen die wohl sein? Immerhin steht nach dem Riesengedränge, das auf diesen Befehl folgt, plötzlich fast ein Viertel des Transportes “rechts raus”.

Der endlose Zaun ist ein Lager. Und was für eins! Eine ganze Eigenheimsiedlung hat man kurzer Hand eingezäunt und so etwa 80 000 Mann hinter Stacheldraht gebracht. 80 000 Mann - und was für welche! Wie die hier herumlaufen! Saubere Uniformen, rasiert, Dienstgradabzeichen, Orden und Ehrenzeichen, umgeschnallt und mit geputzten Schuhen, und die Offiziere sogar mit (aber offensichtlich leerer) Pistolentasche. Das ist wohl ein ganz besonderer Verein?

Sie sind das zwar, wie wir sehr schnell feststellen nicht; aber sie bilden es sich ein. Sie sind nämlich nicht, wie wir alle, einzeln oder in kleineren Gruppen in Gefangenschaft gegangen, sondern sie haben erst nach Kriegsende als geschlossene Einheiten auf der Halbinsel Hela (“Festung Hela”, wie sie das nennen) bei Kriegsende befehlsgemäß kapituliert, sogar auf direkten Befehl des OKW. Für uns war der ganze Unsinn schon 14 Tage früher, dafür aber ohne Befehl, beendet, und deswegen sind wir für diese Herren keine vollwertigen Menschen mehr.

Die Häuser der Siedlung sind alle belegt, erklärt uns ein Spieß von diesen Mustersoldaten, der uns am Lagertor in Empfang nimmt. In denen wohnen jeweils 200 Mann; da ist für uns kein Platz. So führt er uns auf einen freien Platz mitten zwischen den Häusern, neben einer Trafostation - nackter bloßer Sand - und sagt: “Seht mal zu, wie ihr hier unterkommt!”.

Wenn ich etwas gelernt habe in den rund 20 Tagen, die ich bisher in Gefangenschaft bin, dann ist es das: Ein Einzelner wird hier untergebuttert. Fertig werden mit dem Leben unter diesen Umständen kann man nur, wenn man mindestens einen Kumpel hat. Zur Zeit bin ich aber allein; von uns sechsen, die wir in Fürstenberg noch waren, ist der Alte schon auf dem Marsch nach Stargard von uns getrennt worden - Offiziere haben nach der Genfer Konvention Sonderrechte; Hans und Herbert, unser Dolmetscher, sind aus Oberschlesien und reisen jetzt als Polen; Kurt Pohlmann ist eingefallen, daß es in Husum immer schon ein paar dänische Einwohner gegeben hat, und so versucht er jetzt sein Glück auch als solcher, und Kurt Müller ist bei der Verladung in Stargard in einen anderen Waggon geraten und seitdem nicht mehr auffindbar.

Also gehe ich auf die Suche nach Kumpels, die genau so allein da stehen wie ich, und finde auch ganz schnell jemanden. Zuerst stoße ich auf den Wolfgang aus Potsdam; der fällt mir auf, weil er fast einen Kopf kleiner ist als ich und richtig hilflos in all dem Durcheinander steht; und während wir uns noch bekannt machen, kommt ein Kerl mit einem Kreuz wie ein Kleiderschrank dazu und sagt: “Lasst's mi mitmachen; i bin auch alleinig!” - Albert aus Kempten im Allgäu. Alle drei im gleichen Alter; so werden wir uns schon vertragen.

Das Wichtigste ist jetzt eine Unterkunft. Wir haben zusammen vier Wolldecken, drei Mäntel und eine Zeltbahn; also graben wir uns mit den Kochgeschirrdeckeln ein passendes Loch - drei Mann breit, und in meiner Länge - und spannen die Zeltbahn drüber. Dann ziehen wir los, etwas suchen, was ein stabileres Dach gibt; aber alles, was man irgendwie benutzen könnte - Bretter, Gartenzäune, Schuppentüren usw. - ist schon bei den Kameraden von Hela gelandet, die haben offensichtlich ihre Häuser damit eingerichtet. Schließlich finden wir in der alten Trafostation etwa 5 Meter Aluminiumseil von einer Hochspannungsleitung, 25 Drähte von etwa 4 mm Durchmesser miteinander verdrillt; das trieseln wir auf und konstruieren aus den einzelnen Drähten ein Gestell, das immerhin wie ein Gewölbe über unserem Loch steht, etwas wacklig zwar, aber doch so hoch, dass man drunter sitzen kann. Darauf kommt irgendwelche graue Pappe, von der wir einige Bahnen gefunden haben, und dann die Zeltbahn. Eine verrückte Konstruktion, aber besser als unter freiem Himmel.

Die Verpflegung hier ist - also, leben kann man davon nicht. Brot gibt es überhaupt nicht, weil nirgends gebacken werden kann; und die Warmverpflegung reicht nicht für alle, weil die Kochmöglichkeiten nicht ausreichen. So gibt es denn einmal am Tage eine dünne Kartoffelsuppe, eigentlich mehr so ein Wasser, wie es beim Kochen von Salzkartoffeln übrigbleibt - und davon auch nur einen halben Liter. - Den “Kapitulanten” geht es allerdings wesentlich besser; die sind ja als geschlossene Einheiten mit Sack und Pack und also auch mit den Verpflegungswagen und Feldküchen hier angekommen, und so gibt es bei ihnen Verpflegung wie in der Kaserne. Dass das bei uns ganz und gar nicht so ist, fällt anscheinend keinem auf, und keiner der unzähligen Offiziere, die hier gestiefelt und gespornt herumstolzieren, fühlt sich bemüßigt, da mal Ordnung reinzubringen. Das einzige, was wir uns - mit Augenzudrücken bei den Kutschern - ab und zu organisieren können, ist eine Handvoll Kleie, mit der bei den Helaern die Pferde gefüttert werden.

“Schwarzes Brett” einer Kapitulanteneinheit. Ich lese: “Für Tapferkeit vor dem Feinde werden nachträglich ausgezeichnet - mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse . . . mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse . . .” – “Nachträglich zum Geburtstage des Führers und Reichskanzlers wurden befördert zu Gefreiten . . . zu Obergefreiten . . . zu Unteroffizieren . . .” - Da fehlen bloß noch die Anschläge über  Kommandierungen zu Gasschutzlehrgängen und Freiwillig-Meldungen zu Panzerjagdbrigaden, dann sieht die Tafel aus wie im Februar in Reinickendorf. Ich denke, der Krieg ist seit dem 8. Mai zu Ende? Aber es geht weiter: “Es wird darauf hingewiesen, dass Offiziersdienstgrade durch Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung zu grüßen sind!” - Na ja, das möchte wohl sein; die “Erweisung der Ehrenbezeugung mit dem Deutschen Gruß durch Erheben des ausgestreckten rechten Armes und der geöffneten rechten Hand in Augenhöhe”, wie der sogenannte “Deutsche Gruß” in der LDV erläutert wurde, ist ja wohl wirklich nicht mehr aktuell. – “Durch Kriegsgefangene ist bei Fehlen einer Kopfbedeckung die Grußerweisung durch Vorbeigehen in strammer Haltung durchzuführen”. Das bezieht sich offensichtlich auf uns, denn nicht wenige sind mit dem Stahlhelm auf dem Kopf in Gefangenschaft gegangen und haben den dann so bald wie möglich in die nächste Ecke geworfen; aber was die da von uns verlangen, ist wirklich die Höhe. Mögen sich doch die Herren Landser, die auf Hela gesessen und gewartet haben, bis man ihnen erlaubt hat, die Hände hoch zu heben - mögen sich die doch so etwas gefallen lassen - mit mir macht das keiner mehr! Ich bin kein Soldat mehr, und manchmal bin ich darauf sogar ein bisschen stolz! Auch, wenn das gar nicht an mir gelegen hat, kann ich zumindest von mir sagen, dass ich in diesem Krieg nicht geschossen habe und dieses Ravensbrück also nicht verteidigt habe, und ich grüße auch diese merkwürdigen Offiziere nicht, die hier, in Kriegsgefangenschaft, jetzt noch Eiserne Kreuze verteilen. Ich nicht! 

Dann regnet es. Zwar hält unser Aluminium-Pappe-Dach das, was von oben kommt, so einigermaßen ab; aber der riesige Sandberg, den man uns zum Kampieren angewiesen hat, saugt das Wasser in sich hinein, und so werden wir denn nach zwei Tagen Dauerregens von unten nass und könnten wie die Kinderchen in der Eierpampe spielen, wenn wir nichts besseres zu tun hätten. Ich zumindest habe das aber; denn bei mir meldet sich eine anständige Erkältung mit Husten, Schnupfen, Heiserkeit und offensichtlich auch erhöhter Temperatur.

An einem der Häuser habe ich eine Rot-Kreuz-Fahne und ein Schild “Revier” gesehen. Das ist zwar sicher ein Revier der Helaer, aber etwas anderes gibt es nicht; vielleicht findet sich wer, der mir helfen kann. 

Der Stabsarzt, zu dem ich nach einigem Warten (ich bin ja nicht der einzige) vorgelassen werde, stellt eine Bronchitis fest. 39,2 Fieber – “Bleiben Sie liegen, lassen Sie sich das Essen mitbringen, drei mal täglich eine Prontosil!” - Na ja, was anderes als Prontosil war wohl kaum zu erwarten, das Zeug soll ja sogar schon gegen zerbrochene Brillen verordnet worden sein; aber das andere? – “Essen gibt`s doch sowieso kaum; aber in meiner Erdhöhle kann ich doch so nicht liegenbleiben . . .” – “Ach ja, sie gehören ja nicht zu unserem Truppenteil; tut mir leid, aber was glauben Sie, wie viel von Ihrer Sorte so täglich kommen? Das Revier ist schon überfüllt, kein Bett frei - sie müssen schon selbst sehen, wo sie unterkommen!” Schöne Aussichten - 39,2 Fieber, und immer noch Regen in Strömen, und dreimal täglich eine Prontosil - und selbst sehen, wo ich unterkomme!

Nach einigem Suchen bin ich dann aber schließlich doch unter einem Dach untergekommen. Zwar nur ein Hühnerstall, aber mit Wänden ringsherum, und es regnet nicht durch. Der Hühnerstall gehört zu einem der Offiziershäuser (die wohnen nämlich nicht mit 200 Mann, sondern nur zu jeweils acht bis zehn Mann in einem solchen Reihenhaus). Ich hole meine Decke und meinen Mantel, nehme die fällige Prontosil und rolle mich zusammen. Als ich gerade am Eindämmern bin, kommt jemand und stößt mich mit dem Stiefel in die Seite. “Was machst Du denn auf meinem Platz?!”, faucht er mich an. So höflich, wie das in meinem Zustand möglich ist, antworte ich: “Kamerad, das ist heute mal mein Platz, ich habe Fieber”. Der andere wird aufgebracht - zwar verständlich, mir im Moment aber trotzdem so ziemlich gleichgültig, die Angst vor einer Nacht im Matsch unseres Erdloches ist größer als die vor dem Stabsgefreiten, der da vor mir herumbrüllt - und so drehe ich mich einfach von ihm weg und sage laut und deutlich: “Ach, leck mich doch am Arsch!”. Das hilft nicht viel, er zieht zwar zunächst ab - und kommt nach kurzer Zeit in Begleitung wieder. Eine Taschenlampe leuchtet auf - ein Offizier. – “Was machen Sie hier?” - Mir ist nun schon alles egal. “Ich schlafe!” - Der fängt an zu brüllen, als wären wir hier in Friedenszeiten auf dem Kasernenhof. “Das sehe ich selbst, sie komischer Vogel! Steh'n sie gefälligst auf und nehm' Sie Haltung an, wenn sie mit mir reden! Wie laufen sie überhaupt herum! Aufsteh'n, aber ein bisschen dalli, sonst mach' ich Ihnen Beine”. Also - der Ton passt mir nun schon gar nicht, so hat schon seit fast einem Vierteljahr keiner mehr mit mir gesprochen. Aber versuchen wir's doch noch mal in Ruhe; aufstehen tue ich jedenfalls nicht, wenn die mich hier weghaben wollen, müssen sie mich raustragen. – “Ich bin grippekrank, habe Fieber, ich muss heute Nacht hier schlafen.” – “Wenn Sie krank sind, dann geh'n Sie gefälligst ins Revier! Sie blockieren hier den Schlafplatz von meinem Kompaniemelder!”. Das haut mich um. Die haben hier sogar noch Kompaniemelder . . . Nee, also nun erst recht nicht. “Das Revier ist voll!” – “Dann seh'n Sie zu, wo sie unterkommen! Hier verschwinden Sie, aber schnellstens!” – “Ich denke gar nicht dran . . .” – “Das ist Befehlsverweigerung! Zeigen Sie Ihr Soldbuch!” – “Das habe ich nicht bei mir,” sage ich so ernst wie möglich. “Sie können sich's gerne holen; es liegt nördlich von Berlin im Wald.” -

Nun ist es mit seiner Fassung völlig vorbei. “Aha, also einer von diesen verdammten dreckigen Kriegsgefangenen; die Bande hat ja überhaupt keine Zucht und Ordnung mehr. Na warten Sie nur ab, bis es morgen früh hell ist, dann werden wir schon feststellen, was Sie für ein Vogel sind. Kommen Sie, Stabsgefreiter, dann müssen Sie heute mal ausnahmsweise bei mir auf der Stube schlafen.” Damit ziehen die beiden ab. Es geht also doch . . .

Trotzdem mache ich mich am nächsten Morgen schon bei Hellwerden aus dem Staube. Wer weiß; den Idioten hier traue ich sogar zu, dass sie noch irgendwie ein Standgericht zusammenrufen und mir einige Tage “Verschärften” wegen Befehlsverweigerung aufbrummen. Andererseits, fällt mir dann hinterher ein - wäre das ja gar nicht weiter schlimm; dann wäre ich wenigstens unter einem Dach . . . Aber - vielleicht ist das auch “Befehlsverweigerung vor dem Feind” mit Todesstrafe durch Erhängen - wer weiß das schon?

Zum Glück hat es wenigstens aufgehört zu regnen; da kann ich doch in unseren Fuchsbau zurück. Etwas feucht ist der Sand ja noch, aber wir machen tagsüber das Dach auf und lassen die Grube vom Wind austrocknen.

Heute geht der ganze Verein zur Entlausung. Ein Glück; es wird wirklich höchste Zeit, daß wir das Viehzeug mal loswerden. Seit der Übernachtung in Garz habe ich Tag und Nacht das dringende Bedürfnis, meine Klamotten wieder allein zu bewohnen, und dabei hilft das tägliche Absuchen nicht viel. Alle findet man sowieso nicht, und die Eier in den Nähten von Hemd und Jacke sind fast unerreichbar versteckt. Man muss beinah schon froh sein, wenn man morgens noch da aufwacht, wo man sich abends hingelegt hat und nicht von den Tierchen weggeschleppt worden ist.

Fieber habe ich übrigens immer noch. Im Revier kriege ich nach wie vor jeden Morgen meine drei Prontosil, und das ist alles. Na ja, die haben vermutlich auch größere Probleme; es gibt viele Fälle von Durchfall im Lager, und nicht wenig davon mit Blut im Stuhl - das ist sicher wichtiger als meine Bronchitis.

Die Entlausung ist eine wahre Wohltat. Ein ganzer Eisenbahnzug ist als Desinfektionsstation eingerichtet. Heiße Dusche, Wasser, soviel man haben will, Seife (seit Wochen nicht mehr gesehen), die Klamotten werden in einem Ofen erhitzt, und hinterher sind die Läuse tot - man fühlt sich wie neugeboren. Als ich anschließend zur Temperaturkontrolle ins Revier gehe, ist das Fieber auch weg.

Am nächsten Tag dann - Verlegung. Antreten, nach irgendwelchen Gesichtspunkten werden 300 Mann abgezählt, und dann geht es raus aus diesem Riesenhaufen. Direkt vor dem Tor ist ein kleineres Lager, dort werden wir untergebracht. Zwar nur Zelte - aber doch endlich wieder ein Dach über dem Kopf . . .

So mittlerweile habe ich nun auch mitgekriegt, was das für viele Ausländer sind, die wir da mit herumschleppen. Da gibt es zunächst die Ungarn - die erkennt man schon von weitem an ihrer gelbbraunen Uniform mit den riesengroßen Schulterklappen. Die sind auf alle Fälle echt, was ich bei den andern nicht so unbedingt glauben möchte. Die Belgier sind - sagen sie - Flamen von der SS-Division “Langemarck”; die verstehe ich zwar nicht, aber mit den Artilleristen aus der Gegend von Emden unterhalten sie sich ganz fließend (allerdings verstehe ich die auch nicht, wenn sie Platt sprechen). Jeder hat sich irgendein Kennzeichen seiner Nationalität an die Mütze genäht. Da gibt es noch weiß-rote Polen (die konnten alle mal Deutsch, bis nach den Ausländern gefragt wurde), rot-weiß-rote Österreicher (die dürften wohl echt sein), blau-weiß-rote Franzosen (wenn in dem weißen Feld ein Doppelkreuz ist, dann kommen sie aus Lothringen, die kann man noch auf Deutsch anreden), rote, weiß durchkreuzte Dänen (so wie Kurt Pohlmann - ich weiß gar nicht, ob der Dänisch kann; aber Platt kann er jedenfalls  . . .) - und dann läuft da sogar einer rum, der behauptet, Schweizer Staatsbürger zu sein, und man hätte ihn zum Dienst beim Sanitätspersonal gezwungen; sein Deutsch gehört aber eindeutig ins tiefste Sachsen.

Hier treffe ich endlich mal wieder ein bekanntes Gesicht (denn Albert und Wolfgang sind nicht mit hierher umgezogen). Es ist Kurt Müller, einer von uns sechsen, die wir in der Schorfheide gemeinsam in Gefangenschaft gegangen sind. Die anderen sind ja alle “Ausländer” und haben mit uns nichts mehr zu tun.

In den Zelten (richtige 8-Mann-Zelte aus deutschen Dreiecksbahnen) lässt es sich endlich mal wieder ordentlich schlafen, auch wenn wir auf dem blanken Sand liegen. Aber - ewig schlafen kann man auch nicht, und wenn das Essen zwar nicht ausreichend, aber doch bedeutend besser als auf unserem Sandhügel ist, füllt Schlafen und Essen einen ganzen langen Tag schließlich nicht aus. Irgendetwas tun müsste man können . . . Es muss ja nicht gleich Arbeit sein, aber etwas Beschäftigung wäre nicht schlecht, und meine Bücher musste ich alle in Deutsch-Eylau lassen . . . Es gehen zwar jeden Tag irgendwelche Kommandos raus zu allen möglichen Arbeiten, aber da mit rein zu kommen, heißt schon ganz großes Glück haben.

So liegen wir meist im Sand und quatschen. Ich kenne Kurts Lebenslauf bald auswendig, und er meinen genauso. Das Geschehen in den Tagen vor unserer Gefangennahme wird analysiert, dann das, was wir seit Stargard erlebt haben, und dann bleibt schließlich nur die hohe Politik. Stoff dafür liefert uns die “Wandzeitung” die irgend so ein “Nationalkomitee Freies Deutschland” im Lager aufgestellt hat. Da sind zum Beispiel die Bedingungen, unter denen Deutschland kapituliert hat, veröffentlicht, und dann finden wir immer wieder Berichte aus Konzentrationslagern. Die halten ja viele für erfunden oder wenigstens stark übertrieben; aber seitdem wir durch Ravensbrück gekommen sind . . . Also, daran zweifeln wir nicht mehr.

Es wird wieder mal von einem Transport gemunkelt. Nach Dresden - oder nach Russland - so genau weiß man das noch nicht. Ich hoffe auf das erstere und mache mich auf das andere gefasst. Fest steht jedenfalls, daß wir alle untersucht werden, und dass dabei alle Alten über 50, alle Jugendlichen unter 16 und alle Kranken und Schwächlichen aussortiert werden. Irgendwas wird das schon zu bedeuten haben . . .

Dann heißt es plötzlich “Antreten mit allem Gepäck!”. Also ist tatsächlich etwas im Busche? Am Tor wird abgezählt, immer in Gruppen zu 50 Mann; bei der 10. Gruppe sind sie schon . . . Wir stehen - bis unmittelbar vor uns die Entscheidung fällt: 1200 Mann - genug! Wir stehen in der ersten Reihe, die nicht mehr raus geht. Also Glück gehabt - oder auch Pech - wer kann das wissen? Jedenfalls heißt es weiter warten, warten auf irgendwas, was kommen wird und von dem keiner weiß, wie es eigentlich aussieht; warten von einer Mahlzeit auf die andere, von einem Tag auf den anderen, von einem Zählappell auf den anderen . . .

Unendlich langsam vergeht die Zeit. Wir sind uns gegenseitig so über geworden . . . Am liebsten ist man jetzt ganz allein. Hinter der Küchenbaracke habe ich ein stilles Plätzchen zwischen dem Zaun und der Baracke entdeckt; dort verbringe ich die meiste Zeit und versuche, aus dem reichlich vorhandenen Sand ein Reliefmodell der Berge um Stolberg zu formen. Eigentlich ohne jeden Sinn, aber man hat doch etwas zu tun und merkt nicht, wie langsam die Zeit vergeht . . .

Dann wird wieder von einem Transport geredet - nach Russland oder nach Dresden, wer weiß das schon . . . Wieder mal wird sortiert, ausgesucht, mit allem Gepäck am Tor angetreten, angetreten, abgezählt - und mit der letzten der abgezählten Fünferreihen marschieren Kurt und ich hinaus.

Der Transport scheint diesmal bequemer zu werden; in die (breitspurigen russischen) Güterwagen sind Pritschen und einigermaßen vernünftige Toilettenrinnen eingebaut. Heißt das, dass er länger werden wird als der vorige? - Jedenfalls fahren, soviel ist wohl sicher, Breitspurwagen nicht nach Dresden . . .

Wie erwartet, rollen wir in Richtung Osten. Vorläufig sind wir wohl noch in Ostpreußen. Ich habe diesmal sogar einen Fensterplatz, wenn man die Schlafstelle direkt an der Luftklappe so bezeichnen darf, und sehe also etwas von der Landschaft. Auf den - meist gesprengten - Bahnhöfen stehen landwirtschaftliche Maschinen und Möbel herum, werden verladen. Na ja, hier scheint ja weit und breit kein Mensch mehr zu wohnen; was soll das Zeug also herumstehen? Pferdeherden jagen durch hohes Gras, scheinbar verwildert; weit erstrecken sich unbestellte Felder - was hat der Krieg nur aus Deutschland gemacht! Warum haben wir denn überhaupt Krieg geführt? Überfallen worden - schön und gut, aber wenn wir doch immer unmittelbar vor dem Überfall selbst zugeschlagen haben? Merkwürdig, wenn das jedes Mal passiert - oder? Lebensraum, Volk ohne Land? Unsinn - die Belgier, habe ich in Erdkunde gelernt, wohnen noch dichter beieinander, und bei denen sind doch wir einmarschiert . . . Und von wegen “Führungsanspruch der nordischen Rasse” - da wären doch wohl Dänen und Norweger eher berechtigt gewesen, und auch bei denen waren wir die ersten . . . Wozu also diese fast sechs Jahre Krieg? Zu welchem Zweck, zu wessen Nutzen? Oder ist Krieg so etwas wie ein Gewitter oder ein Erdbeben?

Unterdessen rollen wir immer weiter. Allgemeines großes Rätselraten: Wohin wollen die mit uns? Wir sind wohl längst aus Ostpreußen raus, fahren durch eine Landschaft flach wie ein Tisch bis zum Horizont; die einzigen Erhebungen sind von Zeit zu Zeit ein paar strohgedeckte Hütten. Grau und grün sind die einzigen Farben, und wenn es, wie jetzt gerade, regnet und der Himmel auch noch grau herabhängt, sieht die Gegend geradezu trostlos aus.

Im Vergleich zu unserer vorigen Fahrt von Stargard nach Deutsch-Eylau reisen wir jetzt direkt komfortabel. Die Türen dürfen offen bleiben, zwei Mal am Tage wird gehalten - Essenempfang, warmes Essen und steinhartes russisches Trockenbrot - dann dürfen alle raus aus den Waggons und sich das Essen am Küchenwagen abholen; wir dürfen auch, solange der Zug hält, außerhalb der Waggons sitzen und essen, Wasser gibt es zum Waschen und zum Trinken so viel wir haben wollen aus einem Kesselwagen, der zum Zug gehört - man könnte zufrieden sein, wenn man nur wüsste, wo die Reise hingeht . . .

Da man das aber nicht weiß, grübelt man sich, wenn man nicht schläft, von einer Mahlzeit zur anderen durch. Die Landschaft bietet keine Abwechslung mehr, grau und grün, und ab und zu ein paar Strohdächer oder ganz hinten am Horizont ein Streifchen Wald . . .