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Sommer auf dem Lande
 

Tatsächlich ist alles ganz anders gekommen. Zwar hat man uns um das Mittagessen beschissen - plötzlich hieß es “Alle Mann - Klamotten holen und rauf auf den LKW, aber schnell!”, ohne daß man uns an die Küchenschalter ließ - aber dafür fahren wir nun, 25 Mann, alles ehemalige OK-Leute, und der Tatra donnert mit uns über die Dnjeprbrücke. Wohin? Ist doch ganz egal; Hauptsache, raus aus diesem Affenstall, irgendwo anders hin, wo es keinen Ludwig gibt und keine Schubkarre, überall muss es besser sein als hinter uns, und die Sonne scheint, und hinter der Dnjeprbrücke fahren wir nach rechts in den Wald hinein und dann auf Waldwegen weiter - zurück nach Gomel geht es also nicht, und auch nicht nach Orscha oder an die Beresina, sondern scheinbar mehr südlich  - aber Autofahren im Juni durch den Wald macht richtig Spaß . . .

 Gegen Abend landen wir mitten im Wald auf einer größeren Lichtung, halten vor einer Baracke, steigen ab. Ein großer Bretterschuppen, Felder, Pferde und Kühe, landwirtschaftliche Geräte - eine Kolchose? Nein, nicht irgendeine Kolchose - die Landwirtschaft des Stabes, die voriges Jahr um diese Zeit im Lazarett eines der begehrten Ziele aller Genesenden war . . . Wenn das wahr ist - wenn wir wirklich hier bleiben . . .

Wir kriegen Abendessen, einen Strohsack, eine Decke, einen Platz zum Schlafen unter dem Dach eines großen Bretterschuppens, sehen uns erstaunt um - kein Zaun, kein Tor, keine Wachbude, kein Posten, kein “Bewachungs-Kamerad”, keine Zählung . . . Das kann doch nicht wahr sein . . . Das ist ja fast, als wären wir frei . . .

Am nächsten Morgen ein Kanal oder Graben, in dem man baden und sich waschen kann, Frühstück - nicht umwerfend, aber jedenfalls besser als bisher - Strohsack leer machen, alles einpacken, Gepäck aufnehmen . . . Trampelpfade zwischen Feldern, Stege aus Baumstämmen über Gräben, Sonne am Himmel, dann Kiefernwald, wir ziehen die Schuhe aus und hängen sie uns um den Hals - mal wieder barfuß gehen . . .! - und wieder Wald und nach so etwa 15 Kilometern kommen wir aus einer Waldecke und stehen vor einer Laubhütte, hinter der sich eine weite Moorlandschaft ausbreitet. Angekommen . . .

Ein paar Kumpels hausen offensichtlich schon hier und empfangen uns. Viele Fragen, aber zunächst mal nur: “Am besten, ihr baut euch gleich eure Unterkunft; Johann meint, wir kriegen Regen, und unsere Hütte reicht nur für uns . . .”. Und so legen wir das Gepäck ab, schnappen die angebotenen Äxte und Sägen und bauen aus Kiefernstangen und vielen belaubten Eschenzweigen etwas, das wie ein lang gestrecktes Zelt aussieht und in dem wir alle Platz finden. Zwischendurch gibt es Mittag, das in einem großen Kessel auf einem offenen Feuer gekocht wird - nur eine Suppe, aber eine in der der Löffel steht; und als unsere Hütte fertig ist, wir eingezogen sind und das Abendessen hinter uns haben, bezieht sich der Himmel, und der von dem Kumpel namens Johann prophezeite Regen ist da.

Beim Rauschen des Regens auf unser Laubdach könnte man herrlich schlafen; aber das Dach ist nicht richtig dicht, und so ziehen wir uns alle auf die Stellen zurück, über denen es kein Wasser durchlässt, und dort wird es sehr enge und unbequem. Das muss aber morgen unbedingt geändert werden . . .

Wir sind bei der “sernowaja brigada”, beim Getreidekommando, gelandet. Gearbeitet wird völlig ohne Aufsicht oder Anleitung, der deutsche Brigadier, der Brubacher, teilt die Arbeit ein; der ist sicher zuhause Bauer oder Gutsinspektor oder so was gewesen, jedenfalls scheint er was von der Sache zu verstehen. Die Kumpels, die vor uns hier waren, haben die Felder mit Roggen, Hafer und Hirse angelegt - aus dem Moorland heraus gepflügt und gesät. Zur Zeit ist die Saat schon aufgegangen und es gibt nicht allzu viel zu tun, wenn man davon absieht, dass auf den Hirsefeldern die Seggen schneller wiederkommen, als die Hirse wächst. Deswegen sind wir Neuen hier; unsere Arbeit besteht ausschließlich darin, auf allen Vieren über die Hirseschläge zu kriechen und alles, was nicht Hirse ist, rauszureißen. Das kommt uns zwar komisch vor, Unkraut zupfen auf Schlägen zwischen 4 und 10 Hektar, aber wenn's verlangt wird . . .

Der Gewitterregen in der ersten Nacht bleibt ein Einzelfall. Wir haben herrlichen Sommer, die Sonne strahlt vom Himmel, und die 200 Quadratmeter, die wir beim Unkrautzupfen als Norm vor uns haben, sind meist schon kurz nach dem Essen geschafft. Dass Mittag ist, erkennen wir daran, daß der Philipp, der Koch, seine Jacke auf einer langen Kiefernstange in die Luft stellt; das ist von allen Feldern aus zu sehen, und dann laufen wir an die Waldecke zurück. Jacke und Schuhe lassen wir morgens schon in der Hütte liegen - kann keiner klauen, kann sich ja nicht mit sehen lassen - das Hemd ziehen wir aus, sowie die Sonne den Morgennebel verdrängt hat, und bewegen uns so den ganzen Tag mit freiem Oberkörper . . .

Wenn die Norm erfüllt ist, geht es an den Kanal zum Baden. Er ist nicht sehr tief, an den tiefsten Stellen vielleicht anderthalb Meter, und maximal so an die zehn Meter breit; eigentlich also nur ein besserer Graben, aber hier wird so etwas eben “Kanal” genannt. Es ist herrlich, sich mal wieder in so viel Wasser bewegen und waschen zu können - und schwimmen kann ich jedenfalls noch, stelle ich fest . . . Nach dem Baden nehmen sich dann viele das Kochgeschirr und verziehen sich in den Wald. Dort werden die Blaubeeren reif . . .

Sonntags arbeiten wir nicht, und obwohl am Morgen noch der Nebel zwischen den Kiefern hängt, schnappe ich mir gleich nach dem Frühstück meinen Topf und gehe in den Wald. Ich muss doch mal so viel Blaubeeren pflücken, wie da reingehen - zweieinhalb Liter - und dann so richtig darin schwelgen . . . Ein Stück im Wald drin entdecke ich eine Riesenfläche voll Heidelbeerstauden, und scheinbar bin ich der erste am Platz - die Sträucher hängen so voll, daß das Pflücken richtig Spaß macht. Es dauert nicht lange, da ist mein Traum Wahrheit geworden: Der Zinkblechtopf ist voll bis obenhin. Dann also zurück; es wird wohl auch Zeit zum Mittagessen sein . . .

Zurück ist gut - aber wo ist der Weg? Über dem Hin und Her beim Pflücken habe ich die O O Orientierung Richtung verloren, und jetzt sieht im Nebel, der zwischen den Bäumen hängt, eine Kiefer aus wie die andere, und Blaubeeren wachsen auch überall auf dem Boden - in welcher Richtung muss ich nun gehen?

Zunächst mal setze ich mich hin und versuche, mich zu orientieren. Unsere Unterkunft habe ich in östlicher Richtung verlassen, das weiß ich; also müsste ich jetzt nach Westen gehen, um wieder aus dem Wald rauszukommen. Schön und gut - aber wo ist Westen? “Orientieren in unbekanntem Gelände ohne Hilfsmittel”, hieß das früher; aber alles, was ich damals gelernt habe, geht jetzt nicht. Die Sonne kommt nicht in Frage, ich sehe nicht mal die Baumkronen; Ameisenhaufen, deren flache Seite nach Süden zeigen soll, gibt es hier nicht, und die Wetterseite der Bäume kann man nur am Waldrand feststellen. Bleibt nur, nicht unnötig herumzulaufen, weil ich sonst vielleicht noch tiefer in den Wald reinkomme, und zu warten, bis sich der Nebel verzieht . . .

In der Nähe entdecke ich die Reste eines alten Erdbunkers, ziemlich primitiv und auch schon sehr zusammengefallen; aber eine Ecke bietet doch noch etwas Schutz, und so verkrieche ich mich dort, futtere meine zweieinhalb Liter Blaubeeren und rolle mich, als es dämmrig wird, in meinen Mantel. Bloß gut, dass ich den am Morgen mitgenommen habe . . . Ob es in den Wäldern hier wohl Wölfe gibt? Bisher haben wir davon noch nichts gemerkt, aber Mücken gibt es jedenfalls genau so viele wie draußen im Moor . . . Was die im Lager wohl denken? Vermissen müssen die mich doch schon mindestens seit Mittag . . . Unter solchen Überlegungen schlafe ich schließlich ein.

Irgendwann in der Nacht wache ich auf. Der Nebel ist endlich weg, und durch die Baumkronen blitzen die Sterne am klaren Himmel. Nun muss ich den Polarstern suchen . . . Das ist nicht ganz einfach, denn die Kronen der Kiefern machen die Sternbilder ziemlich unkenntlich, und so dauert es eine Weile, bis ich den “Großen Bären” gefunden habe; aber dann - Hinterkante des Kastens vom “Wagen”, sieben Mal verlängern - dort also steht der Polarstern, und senkrecht darunter ist Norden . . . Ich lege mir einen großen Ast in die Westrichtung und rolle mich wieder zusammen.

Als ich nach einer Weile zum zweiten Male aufwache, graut schon der Morgen. Das ganze Gesicht ist von den Mückenstichen angeschwollen, und ich komme mir richtig krumm und lahm vor . . . Es ist doch ganz schön frisch so in der Frühe; ich stehe auf, suche mir eine markante Kiefer gegenüber der Richtung, die ich in der Nacht als Westen erkannt habe, und marschiere los, und indem ich das immer wieder mache, gelange ich nach einer Weile tatsächlich an den Waldrand. Zwar nicht dort, wo wir unsere Hütten haben, aber doch immerhin aus dem Wald raus. Im Moor ist die Orientierung viel leichter, und so komme ich noch vor dem Frühstück ins Lager zurück - und laufe auch gleich dem Brubacher in die Arme. Er lässt, ganz wie ich mir das vorgestellt habe, ein mächtiges Donnerwetter los - natürlich hat keiner gedacht, daß ich abhauen könnte, aber schließlich wäre er auch dafür verantwortlich, wenn mir was passiert wäre, und das wäre doch immerhin möglich gewesen . . . Er hat ja recht, und ich bin von der Nacht im Walde ja auch nicht begeistert, aber - kann doch mal vorkommen, nicht wahr, und ist doch auch gut gegangen . . .

Im Großen und Ganzen ist jetzt so richtig faule Zeit. Auf die meisten Hirsefelder dürfen wir nicht mehr rauf, weil die Hirse jetzt wächst und schon so groß ist, dass sie bei unserer Kriecherei Schaden nehmen würde. Wir bauen unsere Laubhütte um und konstruieren aus Kiefernstangen und Ästen ein Dach über die Kochstelle, damit der Philipp nicht nass wird, wenn es mal wieder regnen sollte. Im Wald gibt es immer noch Mengen von Blaubeeren, dazu die ersten Pilze, die suchen wir jetzt gemeinsam und bessern damit die Küchenverpflegung auf, und so lässt sich das Leben eigentlich ertragen.

Das einzige, was stört, sind die Mücken. Kein Wunder, so mitten im Moor . . . Über jedem Menschen, der sich im Moor bewegt, steht eine richtige Säule von Insekten, und stechen tun die Viecher ganz gemein. Sie bringen eine Krankheit mit, die bei uns unter der Bezeichnung “Malaria” läuft, obwohl wir hier doch gar nicht in den Tropen sind; von Zeit zu Zeit Anfälle von Schüttelfrost und hinterher Fieber bis 41 Grad, und dann auch mal wieder Zeiten, in denen man ganz gesund ist. Behandelt wird sie mit kleinen gelben Tabletten von Bayer aus Deutschland; sicherlich alte Wehrmachtsbestände, Atebrin heißen sie, und wer sie nehmen muss, sieht danach aus wie ein Chinese. Der gelbe Farbstoff geht ins Blut und färbt die Haut . . .

Wegen der Mücken kann man ohne Rauch nicht stillsitzen, und so fange ich trotz meiner ursprünglich sehr gegenteiligen Vorsätze an und verbrauche meine Tabakzuteilung selbst, statt sie weiterhin gegen Brot oder Zucker zu vertauschen. Geschmack am Rauchen finde ich ja nicht, aber irgendwas muss man doch gegen die Mücken tun . . .  Abends sitzen wir selbst an den wärmsten Tagen alle am Lagerfeuer, und das muss so stark qualmen wie nur möglich, damit wir etwas Ruhe haben. Diese Abende am Lagerfeuer werden meist richtig gemütlich; irgendwer hat immer irgendwas zu erzählen, und zum Glück sind das nur sehr selten Geschichten darüber, wie schön es in Frankreich oder in Italien war. Manchmal gibt es sogar richtigen Streit zu irgendwelchen Problemen, und wenn ich auch meist nicht mitreden kann, so höre ich doch gerne zu, was die anderen so erlebt haben oder welche Meinungen sie vertreten . . .

Dann ist Kommissionierung, und : “Emu nada rabotatj na kuchne!”, sagt die Konni, die wohl hier die zuständige Schwester ist. Warum nicht in der Küche arbeiten - obwohl ich nicht weiß, was das bringen soll; das Essen ist doch gut hier, und bei uns paar Mann kann doch in der Küche außer Arbeit nichts besonderes für mich abfallen? - Letzten Endes findet sie aber für die Küche dann noch einen anderen, der bedürftiger ist als ich; und nach einigem Überlegen macht der Brubacher mich stattdessen zum Nachtwächter. Wahrscheinlich hat sie eine leichte Arbeit für mich verlangt, und die habe ich damit wirklich. Abends, wenn die anderen schlafen gehen, muss ich am Lagerfeuer sitzen bleiben, aufpassen, dass das Feuer nicht ausgeht, dabei oft Gesellschaft, weil die meisten, die mal zur Latrine müssen, sich am Feuer noch eine Zigarette anstecken und sitzen bleiben, bis sie aufgeraucht ist; und - als schwerstes - muss ich etwa alle halbe Stunde mit zwei Eimern zum Brunnen gehen und Wasser holen.

Obwohl - oder wahrscheinlich gerade weil - wir mitten im Moor sitzen, ist Wasser nämlich knapp. Man könnte zwar Moorwasser genug haben; aber das taugt nur zum Waschen, es ist braun angefärbt und schmeckt hässlich nach Torf. Also ist für die Küche ein Brunnen gegraben worden, aber der liegt fast einen halben Kilometer vom Lager weg, auf einem Sandhügel. Zwei leere Dieselfässer ohne Boden und ohne Deckel hat man senkrecht übereinander eingegraben, und darin sammelt sich etwa alle halbe Stunde so viel Wasser, dass man zwei Eimer voll schöpfen kann. So bin ich denn einen Teil der Nacht unterwegs, hin mit leeren Eimern, zurück mit vollen.

Wenn früh um sieben Uhr die Arbeitsgruppen auf die Felder gehen, habe ich frei. Ich schlafe dann bis Mittag, und am Nachmittag stromere ich herum, Pilze suchen oder einfach die Gegend erkunden - und die ist interessant genug. In unserer Waldecke muss im Krieg Artillerie gelegen haben - theoretisch ist das zwar unsinnig, denn diese Ecke ist in jedem Luftbild deutlich auszumachen, praktisch aber kann man es an den Geschützstellungen klar sehen - und da liegt von der Kartuschhülse bis zur leeren Weinflasche noch so manches rum, was irgendwann mal nützlich sein könnte; sogar ein Autowrack - eine Krupp-Boxer-Zugmaschine - stöbere ich noch auf . . .

Die drei Arbeitsgruppenleiter haben sich eine Erdhütte gebaut, wie sie der Brubacher und der Koch gemeinsam auch schon haben, und sind aus der Laubhütte ausgezogen. Weil sie ja nur zu dritt sind, ist bei zwei Doppelstockbetten ein Schlafplatz frei, und den haben sie mir angeboten. Ob sie ihre Unterkunft tagsüber unter Aufsicht haben wollen, oder ob der Brubacher für den Nachtwächter ein anständiges Bett braucht - ich weiß es nicht; fest steht nur, daß ich damit plötzlich zur “Prominenz” gehöre, soweit man bei uns fünfzig Mann von “Prominenz” überhaupt sprechen kann. Aber das bringt hier nur in Bezug auf die Unterbringung Vorteile, und die anderen könnten sich solche Erdhütten auch bauen . . .

Die Nächte sind klar und hell, und es wird eigentlich gar nicht so richtig dunkel, denn wir haben ja jetzt - Ende Juni - die längsten Tage im Jahr. Heute Nacht aber, als ich zum Wasserholen ging, wurde es plötzlich noch heller am Himmel vor mir, als es ohnehin schon ist, und als ich erstaunt hochsah, dachte ich im ersten Augenblick an Fliegeralarm, “Christbäume” und Scheinwerfer. Aber dann fiel mir rechtzeitig ein, dass wir ja schon seit zwei Jahren Frieden haben, und daß die Lichter da vor und über mir eine andere Ursache haben müssten. Das sah aus, als wenn dort jemand riesengroße leuchtende Gardinen auf- und wieder zuzog - lange hellblaue, violette und grünliche Bänder, die sich auf- und ab bewegten wie Nebelschwaden - und dann dachte ich an “In Nacht und Eis" von Fridtjof Nansen, eines meiner Lieblingsbücher zuhause, und wusste: Das konnte nur ein Nordlicht sein . . . Und keiner da, dem ich das zeigen konnte, denn extra jemanden deswegen wecken, das ging doch nicht . . .

Und dann wache ich eines Tages schon vor dem Mittagessen auf, weil ich so erbärmlich friere und mit den Zähnen klappere und zittere; und weil draußen die Sonne scheint wie immer, wird mir klar: “Schüttelfrost” und “Malaria” und “Hat es mich also auch erwischt . . .” - Zur Behandlung brauchen wir hier keinen Arzt, das macht der Brubacher selbst: Er misst die Temperatur und gibt mir aus einem großen Schraubglas 10 Tabletten Atebrin – “Fünf Tage lang morgens und abends eine - und bleibst liegen, bis Du kein Fieber mehr hast!”.

Damit bin ich aber den Posten als Nachtwächter auch los, denn wenn ich auch nachts in Ordnung bin, so macht einen doch das Fieber derartig schlapp, daß jeder Schritt zuviel wird. Dazu kommt noch, dass einem der Appetit völlig vergeht - einmal wegen des Fiebers und dann aber auch wegen der gallebitteren Tabletten, deren Geschmack man den ganzen Tag nicht mehr aus dem Mund kriegt. So liege ich auf meiner Pritsche, habe die Tür unserer Erdhütte weit auf und sehe zu, wie das Haferfeld direkt vor der Tür mit zwei pferdebespannten Ablegern gemäht wird, die regelmäßig wie ein Uhrwerk an der Tür vorbeischnurren, und wie dann auf dem gemähten Feld ungefähr einen halben Kilometer weiter ein großes Gestell aus Kiefernstangen entsteht: unsere Feldscheune, in der der Hafer eingelagert wird bis zum Dreschen.

Weil es natürlich auch während meiner Krankheit einen Nachtwächter geben muss, ist mein Platz längst vergeben, als ich nach sechs Tagen wieder gesund bin. Stattdessen macht mich der Brubacher zur Nachtwache an der neuen Scheune. Dort soll ich auf den frisch eingefahrenen Hafer aufpassen. Wer wird den schon klauen, denke ich mir; am einfachsten wird sein, wenn ich mich oben auf den Berg Garben drauf setze, dann muss ich ja merken, wenn einer was will; und nebenbei kann ich ja noch ein bisschen schlafen.

Zwei Nächte lang geht das gut; in der dritten treiben die Pferdehirten unsere Gäule an der Scheune vorbei, und als ich aufwache, weil der Grauschimmel mir direkt ins Gesicht pruscht, da ist es schon zu spät. Fast zweihundert Meter weit haben die Pferde die Garben mitgeschleift . . .

Das gibt natürlich wieder ein mächtiges Donnerwetter vom Brubacher - und diesmal hat er unbedingt Recht. Ich hätte eben nicht einschlafen dürfen und muss eigentlich noch heilsfroh sein, dass mit dem Anschiss und einer anderen Arbeit alles erledigt ist. Er hätte mich ja genauso gut wieder zurückschicken können ins Lager, wo die Baracke steht, und dann wäre das freie Leben vorbei gewesen . . .

Die neue Arbeit ist, wenn das überhaupt möglich ist, noch einfacher, als alles, was ich bisher getan habe. Mit einem anderen Kumpel bewache ich das große Hirsefeld am Kanal . . . Es könnte ja sein, dass jemand aus dem Dorf, das hier irgendwo liegen soll und aus dem sich ab und zu mal Leute im Moor sehen lassen, dort für sich zu ernten versucht. Wir teilen uns die Arbeit auf: jeder am Tage 2 mal 6 Stunden, das heißt für mich: nach dem Frühstück raus aufs Feld und ablösen, Wache bis nach dem Mittagessen, nachmittags frei, nach dem Abendbrot raus und ablösen und nach Mitternacht ins Bett. Es sind zwar so drei oder vier Kilometer Weg bis hin, aber das kann nur kompliziert werden, wenn es nachts mal richtig dunkel sein sollte und ich zurück ins Lager will. Ansonsten macht uns so ein Weg nichts aus . . .

Die ersten sechs Stunden benutze ich, um einmal um das ganze große Feld herumzulaufen und die Gegend richtig kennen zu lernen. Man muss ja schließlich wissen, worauf man da aufpassen soll . . . Außer dem Kanaldamm gibt es keinen Weg, der zu dem Feld hinführt. An einer Seite ein kleines Stück Wald - Birken und Kiefern - an der gegenüberliegenden der Kanal, und der Rest ist unberührtes Moor. Im Kanal müsste es eigentlich Fische geben; aber die werde ich kaum irgendwie rauskriegen, denn eine Angel bauen - das dürfte ich kaum schaffen. In dem Wald finde ich Birkenpilze, Butterpilze und Preiselbeeren, und hinter dem Wald liegt eines unserer Kartoffelfelder; eigentlich müssten doch schon Kartoffeln unter den Stauden zu finden sein, denn sie sind schon verblüht . . . Zu essen gibt es hier also einiges - es wird sich leben lassen.

Es lässt sich leben - wenn man davon absieht, dass ich nach kurzer Zeit den zweiten Malariaanfall kriege. Diesmal lasse ich mir die Arbeit aber nicht wieder aus den Fingern nehmen; wir haben uns am Kanaldamm eine Unterkunft gebaut, halb in die Erde hinein, und oben drüber ein Laubdach; da verkrieche ich mich, wenn ich Schüttelfrost und Fieber habe, mein Kumpel Georg sagt dem Brubacher Bescheid, wie es mir geht, und bringt mir die 10 Atebrintabletten und das Essen mit, und im übrigen bleibe ich hier und mache meine Wache . . . Was soll ich in unserer Erdhütte? Da liege ich auch nur rum . . .

Um mich irgendwie zu beschäftigen, versuche ich mal, ob ich vielleicht auch Körbe flechten kann . . . Einer von uns im Lager ist nämlich seit Tagen damit beschäftigt, aus den Ruten der Weiden, die an jedem Graben wachsen, Körbe für die Ernte zu flechten. Der hat das offensichtlich gelernt, und ich habe ihm öfters zugesehen. Nun will ich es selbst mal versuchen . . . Weil das so leichter ist, nehme ich aber Weidenruten nur für die Gestelle und flechte mit den Binsen, die am Kanalufer reichlich wachsen, und ich mache meine Körbe auch viel kleiner; aber sie gefallen mir recht gut und wären das richtige Spielzeug für meine Schwester. Doch die ist weit weg . . .

Dafür kriege ich eines Tages anderen Besuch. Ich sitze in unserer Hütte und versuche, mir so etwas Ähnliches wie einen Gehstock zu schnitzen; ich habe da ein Stämmchen gefunden, das ist irgendwie verwachsen und erinnert mich an die “Ziegenhainer”, die Wanderstöcke der Handwerksgesellen, die ich im Heimatmuseum zuhause gesehen habe, und nun will ich so etwas für mich machen. Plötzlich höre ich jemanden auf dem Damm singen, und es dauert nicht lange, da stehen zwei kleine Mädchen - etwa 8 bis 10 Jahre alt - vor meiner Hütte. “Was ist denn das?2 und “Ich seh' mal nach!” - und die Kleine, die da hereingekrochen kommt, sieht mich erst gar nicht, weil sie ja aus dem hellen Sonnenlicht ins Dunkle kommt, und kriegt einen Mordsschreck, als sie plötzlich beinahe bei mir auf dem Schoß sitzt, und dann fängt sie an zu brüllen, und die draußen brüllt zur Gesellschaft mit, und als ich draußen bin, staunen sie über mein gelbes Gesicht, stellen aber schnell fest “Das ist ja ein Frietz!” und “Der ist ja krank . . .” und beruhigen sich.

Die beiden waren im Wald, Blaubeeren suchen, und setzen sich neben mir auf den Damm und erzählen mir irgendeine lange Geschichte, von der ich kaum etwas verstehe. Als sie meine kleinen Körbchen entdecken, sind sie hell begeistert und wollen sie gar nicht wieder hergeben. Meinetwegen - sollen sie das Spielzeug mitnehmen . . .

“Morgen kommen wir wieder”, haben sie gesagt; aber da werden sie mich nicht finden, denn heute geht alles, was Beine hat, raus zur Roggenernte. Die Roggenfelder haben wir bis jetzt noch nie gesehen, die liegen etwa 10 Kilometer entfernt am Sosch-Ufer, und weil der Weg so weit ist, muss die ganze Ernte an einem Tag erledigt werden. Sogar Philipp verlädt seine Küche samt Kessel auf einen Pferdewagen; er wird draußen kochen . . .

Das wird ein langer Tag . . . Die beiden Grasmäher rattern ununterbrochen, nur die Pferde werden von Zeit zu Zeit gewechselt, ein Dutzend Leute mäht die Ränder mit der Sense, und wir anderen haben vollauf zu tun, Garben zu binden und aufzustellen. Sogar über Mittag wird durchgearbeitet, mit Ablösung auf den Maschinen und an den Sensen, und so stehe ich auch plötzlich in der Kolonne und mähe . . . Das geht besser, als ich denke; aber mein Hintermann drängelt, wenn ich zu dicht vor ihm bin, und so bin ich froh, als die “richtigen” Mäher nach dem Essen wiederkommen und ich wieder Garben aufstellen darf.

Irgendwann am Abend sind wir fertig. Es gibt Abendessen, und bis alles zusammengeräumt ist, machen wir erst mal große Pause und baden im Sosch. Der hat eine ganz schöne Strömung; irgendwer spricht von “Rüberschwimmen”, aber das scheint mir etwas gefährlich. Schon, als ich so knapp 10 Meter vom Ufer weg bin, hat es mich gute 50 Meter flussab getrieben, und ich mache, daß ich an Land komme. Statt dessen sammle ich mir einen der Pferdetränkeimer voll große Flussmuscheln. Die muss man doch essen können . . .

Es wird eine schöne Schlepperei, die 10 Kilometer ins Lager zurück mit dem Eimer; und dann muss ich, als wir angekommen sind, die Dinger auch noch zurechtmachen - aufbrechen, ausschaben und kochen - und schließlich bleibt am Ende von dem ganzen Eimer nur ein Kochgeschirrdeckel voll glibbriges Fleisch übrig, das so besonders nun auch nicht schmeckt . . . Und sowas soll eine Delikatesse sein?

Nach diesem Intermezzo bewache ich die Felder 7, 8, 10 und 12. Die haben zusammen so etwa 25 Hektar und liegen an einem Feldweg, der vom Dorf in den Wald führt. Das Dorf hat zwar noch keiner von uns gesehen, aber irgendwo am Ufer des Sosch soll es liegen; und irgendwo müssen ja die Leute, die hier ab und zu vorbeikommen, wohl wohnen . . . Meist sind es Frauen mit Körben voll Pilze, die sie im Wald gesucht haben, die kümmern sich nicht weiter um mich; grüßen und machen, dass sie weiter kommen - als wenn sie Angst vor mir hätten. Ab und zu kommt auch mal der eine oder andere Mann; die bleiben dann einen Augenblick stehen, spendieren Machorka und Papier für eine Zigarette, warten, bis ich mit Stahl, Stein und Zunder Feuer geschlagen habe, rauchen an und ziehen dann auch weiter.

Feuer schlagen - jetzt verstehe ich, wieso das im Mittelalter so hieß . . . In ein Läppchen gewickelt, habe ich einen scharfkantigen Feuersteinsplitter, etwa 5 Zentimeter von einer großen Flachfeile und ein Röhrchen (abgesägte Patronenhülse) mit einem angekohlten Baumwolldocht in der Tasche. Zum Feuermachen hält man den Feuerstein neben den Docht und schlägt mit dem Feilenstück solange daran entlang, bis die Baumwolle von den entstehenden Funken ins Glimmen gerät - und dann heißt es pusten, was man kann, , damit die Glut größer wird und zum Anrauchen oder notfalls sogar zum Entzünden von ein paar trockenen Blättern ausreicht. Ein etwas mühsames Geschäft, und man lernt dabei zu verstehen, wieso man in den Märchen zum Nachbarn ging, um Feuer zu holen . . .

Die beiden Kleinen vom Kanaldamm sind heute auch vorbeigekommen. “Sieh mal, der Fritz!” und “Sei gegrüßt” und “Wie gehts?” - und ein Geschnattere wie auf einem Hühnerhof, von dem ich kein Wort verstehe - und dann ziehen sie weiter in den Wald - und mein Kochgeschirr ist auch weg. Hätte ich den beiden eigentlich nicht zugetraut, aber ich bin nun mal so ein vertrauensseliger Dussel . . .

 Nun bleibt mir wohl doch nichts anderes, als aus einer alten Konservendose zu essen, denn hier draußen sind die Aussichten auf einen neuen Topf denkbar ungünstig . . . Es war zwar immer noch der alte Topf aus verzinktem Dachblech, für den ich vor Weihnachten in Rjetschiza sieben Rubel bezahlt habe, aber es war eben mein Essgeschirr . . . Viel schlimmer ist aber, dass ich nun kein Gefäß mehr zum Kochen habe - ringsum Lebensmittel und kein Topf! So etwas Blödes . . .

Gegen Abend wird mir das dauernde Hin- und Herlaufen auf dem Weg zu langweilig. und ich lege mich zwischen den Feldern 7 und 8 auf den Feldrand. Dort ist etwas Weidengebüsch stehen geblieben, das ein wenig Schatten gibt, und dort will ich mich etwas ausruhen. Die Sonne scheint immer noch ziemlich warm, und müde wird man sogar vom Nichtstun . . . Irgendetwas krabbelt mir auf der Stirn herum - eine Fliege oder eine Ameise? Als ich hin fasse, ist natürlich nichts da - klar, wird eine Mücke gewesen sein; die kriegt man immer erst, wenn sie anfangen zu stechen, vorher sind sie zu schnell. Wieder ist das Vieh da - und als ich jetzt hinfasse, habe ich einen langen Schilfhalm in der Hand. Na ja, vielleicht der Wind . . . aber da höre ich etwas kichern, und als ich mich aufgerappelt habe, sehe ich - mein Kochgeschirr, das knapp einen Meter hinter mir im Gras steht. Bis obenhin voll Blaubeeren . . . und irgendwo zwischen der übermannshohen Hirse kichert es immer weiter weg . . .

Da müssen die beiden aber fleißig gesucht haben, denn die Blaubeerzeit ist eigentlich schon vorbei; und ich kann mich nicht mal bedanken dafür, denn sie sind irgendwo zwischen den Feldern verschwunden . . .

Mit Beginn der Hirseernte werden dann die Wachen an den Feldern alle eingezogen. Jeder muss mit zur Ernte; denn Hirse kann nicht mit der Maschine gemäht werden, weil die Rispen dabei ausfallen würden. Sie muss wie in Urgroßväterzeiten mit der Sichel geerntet werden, und dafür werden alle Hände benötigt. Die Norm für das Ernten sind zwei Sotki, 200 Quadratmeter, pro Mann und Tag, und zwar Schneiden, Binden und Aufstellen. Das lässt sich schaffen; zwar nur knapp, aber schließlich haben wir ja genügend faule Zeit hinter uns und können ruhig mal wieder etwas mehr tun . . .

Und dann fängt es an zu regnen. Es regnet einen Tag, es regnet den zweiten Tag - und als es den dritten Tag regnet, behaupten die Wetterspezialisten unter uns, Spinnennetze und Mückenflug und Ameisenstraßen deuteten ganz klar auf Landregen - mindestens 14 Tage . . . Und die Hirse ist reif und muss rein, und also muss auch bei Regen geschnitten werden. Aber - wie lange das dauern soll . . .?

Irgendwie scheint die Sache dringend zu sein. Ein paar Offiziere vom Stab und ein paar Zivilisten - eine “Kommission” - sind dagewesen und haben uns, nachdem sie bei der Arbeit zugesehen haben, versprochen: soviel Kartoffeln und Kohl, wie wir wollen - aber das muss schneller gehen! Nur - wie - das wussten sie auch nicht. Wir rutschen ja schon den ganzen Tag auf Knien über die nassen Felder und machen kaum Pause, obwohl wir von oben und von unten nass werden; aber viel mehr als die zweihundert Quadratmeter pro Mann werden es einfach nicht . . .

Schließlich hat der Brubacher einen Einfall. Wir werden einfach die Arbeit aufteilen . . . Bis jetzt hat jeder solange gesichelt, bis er den Arm so voll hatte, dass es für eine Garbe reichte, hat sich ein Band aus Roggenstroh geholt (Hirse kann man nicht zum Binden nehmen, die ist zu steif), hat seine Garbe gebunden, hat sie auf die nächste Mandel gestellt und hat weitergemäht. Brubacher will jetzt in Fünfergruppen arbeiten, wie damals beim Unkrautrupfen; vier Mann schneiden und legen neben sich ab, was sie geschnitten haben, und der fünfte bindet und stellt auf. Hört sich nicht schlecht an; zumindest fallen dabei die Wege zum Bänderholen und zum Aufstellen für die vier mit den Sicheln weg . . . Man kann's ja mal ausprobieren . . .

Als dann am nächsten Tag nach diesem Vorschlag gearbeitet wird, sind am Abend alle auf das Ergebnis gespannt. Wir haben nicht, wie bisher, Flächen zugeteilt, sondern vom Feldrand aus frei vor uns her geschnitten, alle Mann, jeder auf etwa ein Meter Breite, und die, die zum Binden eingeteilt waren, haben dahinter ihre Arbeit gemacht - und es ist ein ganz beträchtliches Stück geworden, was wir da aus dem Feld herausgeholt haben. Der Brubacher lässt es sich nicht nehmen und läuft selbst mit dem Zwei-Meter-Schreitzirkel die Seiten ab - und dann verkündet er nach kurzem Rechnen: achthundert Quadratmeter pro Mann - viermal mehr als verlangt!

Damit geht es nun den Hirseflächen trotz der Nässe zu Leibe. Die kahlen Flächen auf den Feldern werden immer größer, und gleichzeitig wird das Essen immer besser - soweit man mit praktisch unbeschränkter Kohl- und Kartoffelzuteilung gutes Essen machen kann . . .

Da gibt es etwas, was uns vier Mann in unserer Erdhütte ärgert. Den ganzen Tag haben wir mit der Hirse zu tun - aber zu essen gibt es nur Kohl und Kartoffeln . . . Dabei könnten wir doch selbst kochen auf dem Ofen, den der Johann uns für unsere Behausung aus einer alten Blechtonne gebaut hat; nur - Hirse muss vor dem Kochen geschält werden. Die russischen Bäuerinnen machen das mit großen Holzmörsern, in denen sie die Körner stampfen; dabei werden die Schalen fein zerrieben, und dann werden sie raus geblasen. So einen Mörser haben wir aber nicht, und der müsste auch aus Hartholz sein, und hier wachsen weder Eichen noch Buchen . . .

Johann tut sehr geheimnisvoll. Mit Axt, Säge und Hammer, altem Blech und großen Birkenklötzen bastelt er irgendetwas zusammen, von dem sich keiner so richtig vorstellen kann, wie es am Ende aussehen soll. Johann ist in Zivil Dorfschmied in Ostpreußen gewesen, und von da ist er wohl wesentlich mehr an Improvisation gewohnt als wir anderen. Jedenfalls hat er uns schon mit so manchen Dingen in Erstaunen versetzt: mit der Tür für unsere Hütte, die er aus handgehackten Brettern ohne jeden Nagel gebaut hat, mit dem Schloss für diese Tür, das aus kleinen Holzklötzchen besteht und nur zu öffnen ist, wenn man den Schlüssel dazu - auch aus Holz - hat; mit dem Fenster, für das er die leeren Weinflaschen aus den Geschützstellungen hinter uns verwendet hat, und schließlich auch mit unserem Ofen und den “Rohren” dafür aus Korbgeflecht und Lehm . . .

Als er diesmal fertig ist, staunen wir noch mehr. Sehr plump zwar und reichlich unbeholfen, aber letzten Endes doch funktionsfähig, steht da vor uns etwas, das entfernt an eine Kaffeemühle im Großformat erinnert - und auch so funktioniert . . . Oben schüttet man die Hirsekörner rein, und wenn man an einer ziemlich klobigen Kurbel dreht, wird sie zwischen zwei Blechmänteln, die wie Reibeisen mit Zähnen ausgestattet sind, zermahlen und kommt unten als Mehl wieder raus. So etwas hat uns gefehlt . . .

Wenn jetzt die Arbeit des Tages getan ist, geht in unserem Bunker die Nachtschicht los. Die Hirse, die wir tagsüber gesammelt haben (sie lässt sich ja ganz leicht von den Rispen abstreifen) wird von den Spelzen befreit und gemahlen, und dann wird gekocht, bis so gegen elf, halbzwölf in der Nacht zu Tisch gebeten werden kann. Längst geht es nicht mehr um das Essen schlechthin - es kommt darauf an, etwas Besonderes auf den Tisch zu bringen: Fladen aus Hirsemehl und Wasser, die zwar nie ein Ei gesehen haben, aber trotzdem "Eierkuchen" heißen, Klöße aus Hirsemehl, zu denen es geschmorte Pilze gibt, und schließlich werden Kohlblätter mit einer Mischung von Hirse- und Kartoffelbrei gefüllt und heißen dann “Kohlrouladen” . . .

Als wir mit dem Hirseschnitt fertig und die Felder abgeerntet sind, wird die Hirse in die Feldscheune gefahren, und Johann übernimmt mit ein paar Mann das Dreschen. So ist der Nachschub für unsere “Mühle” weiter gesichert, und wir anderen gehen in die Kartoffelernte.

Im Zusammenhang mit den Kartoffeln von “Ernte” zu sprechen, ist leicht übertrieben, denn die meisten Kartoffelfelder existieren eigentlich gar nicht mehr. Die Kartoffeln haben wir nämlich fast alle auf den tiefer gelegenen Feldern angebaut, und die stehen nach dem Dauerregen der letzten Tage unter Wasser. Die “Ernte” ist danach; auf den meisten Flächen genügt es, wenn man rübergeht und die Kartoffelstauden aus der Erde zieht. Die Knollen unten dran sind längst verfault. Eigentlich ist das schade; denn dort, wo die Kartoffeln trocken geblieben sind, können wir unter jeder Pflanze so ungefähr einen Eimer voll Kartoffeln vorholen . . . Das wäre eine gute Ernte gewesen; aber so sind die paar Zentner, die wir abends mit nach Hause bringen, natürlich viel zu wenig, und wir setzen unsere ganze Hoffnung auf das große Feld vor dem Dorf; das liegt am höchsten von allen und ist trocken geblieben.

Dort gibt es dann auch tatsächlich eine Rekordernte, nicht nur, was die Zahl der Knollen unter den einzelnen Pflanzen angeht, sondern auch, was die Größe der Knollen betrifft. Die größte Kartoffel, die wir dort ernten, wiegt zweieinhalb Pfund, 1250 Gramm, und ist ungefähr so groß wie ein Säuglingskopf . . . Man stelle sich das vor: das sind mehr als drei Tagesrationen zu 400 Gramm - in einer einzigen Kartoffel! - Als wir das Riesending abends am Feuer von Hand zu Hand gehen lassen, erzählt der Brubacher von der Ernte anderer Brigaden. Die bisher größte Mohrrübe hat eine Länge von 75 Zentimeter und ist so dick wie ein Männerunterarm; eine Gurke haben die Kumpels geerntet, die ist anderthalb Meter lang, und Kohlköpfe gibt es, da hat der feste Kopf - ohne die losen Außenblätter - einen Durchmesser von über 60 Zentimetern . . . Na, und unsere Hirse? Bei der hatte ja auch jedes gesäte Korn mehrere Halme getrieben; das meiste, was wir gezählt hatten, waren 27 Halme aus einem Korn . . .

Als wir die Kartoffeln von dem großen Feld so etwa zur Hälfte drin haben, kommt mittags mit dem Essen der Brubacher auf den Acker und liest eine Liste vor; so etwa 15 Namen, und - wie kann es anders sein - meiner ist natürlich dabei. Sofort zurück ins Lager in den Wald . . . Was das wohl wieder werden soll?

Dabei habe ich morgen Geburtstag, und der sollte, wie jedes Jahr bisher, gefeiert werden . . . Gefeiert - soweit das hier draußen und bei unserer augenblicklichen Verpflegungslage noch möglich schien; immerhin war im Dorf ein Liter Milch bestellt, um Hirsebrei mit Milch und Zucker machen zu können (Milch im Tausch gegen Seife, mit der wir mehr als ausreichend versorgt werden), drei Eier für die “Eierkuchen” habe ich auch schon (mit Atebrintabletten bezahlt, denn die kriege ich ebenso regelmäßig wie die Fieberanfälle, und sie werden pro Stück für einen Rubel gerechnet), und als Überraschung für die anderen habe ich eine Packung Papirossy besorgt, “Kasbek”, das soll ganz was Gutes sein . . . Aber das wäre ja auch zu schön gewesen, das kann ja gar nicht sein, da musste ja irgendwas dazwischen kommen . . .

So trinke ich meine Eier auf dem Weg ins Lager selbst aus, achte dabei nicht auf den Weg und rutsche mit beiden Beinen in einen Graben. Ist aber nicht so schlimm, denn aus alter Sommergewohnheit habe ich die Schuhe an den Schnürsenkeln um den Hals gehängt und die Hosen hochgekrempelt. Na, das wird wohl nun auch vorbei sein . . .

Im Lager steht der große Tatra, und die Konni nimmt uns in Empfang. Die beiden sind in letzter Zeit wohl so etwas wie mein Schicksal, geht es mir durch den Kopf . . . Immer, wenn ich auf sie treffe, verändert sich etwas, mal zum Schlechten, mal zum Guten. Was wird es diesmal? Besser als da draußen im Moor könnte es nur werden, wenn es nach Hause ginge - aber ob es das wird? Bleibt also nur mal wieder, um mit Unteroffizier Krause aus der Reinickendorfer Zeit zu reden , “das Beste zu hoffen und sich auf das Schlimmste gefasst zu machen . . .”.

Wir werden noch mal untersucht, drei von uns gehen zurück ins Moor, dafür wird bis dreißig Mann aus dem Waldlager aufgefüllt - rauf auf den LKW, und ab geht´s. Wohin, hat uns keiner gesagt - aber das werden wir bald sehen, sowie wir erst aus dem Wald raus sind . . .

Die Straße kenne ich - hier waren wir vor zwei Jahren oft zum Holzholen. Also fahren wir in Richtung Gomel, und das tröstet mich; denn es ist in jedem Falle besser als in die Gegenrichtung, nach Rjetschiza. So feiere ich gerührtes Wiedersehen mit den zerschossenen Autos an der Straße - das Panzerwrack mit der Aufschrift “Nicht abschleppen - wird ausgeschlachtet!” steht auch immer noch da - dann sind wir schon in Nowo-Beliza. Der Basar - die Einfahrt zur “Krasnaja Swesda”, der Streichholzfabrik - da unten am Fluss haben wir im Dezember 45 Sand gefahren, “pissok” , und die Leute waren so freundlich zu uns - das Fleischkombinat (jetzt zu “Schmal” gehen können zum Haare schneiden, was der wohl sagen würde? Und er hätte was zu schneiden, den ganzen Sommer kein Friseur . . .) - dann die Soschbrücke, und unten am Floßhafen schleppen zwei Gespanne Stämme auf das Hochufer (könnten direkt Olga und Nina sein . . .) - die Proletarskaja Wuliza entlang - Mensch, haben die hier gebaut, in den Wohnungen über dem Kino wohnen schon Leute, und das große Eckhaus an der Ecke Komsomolskaja ist auch voll bezogen - im Stadtbad wird offensichtlich schon Publikum abgefertigt - und dann kommt der Flugplatz, und wir sind durch die Stadt. Was soll denn das - hier draußen liegt doch nur noch die Ziegelei Nr. 17, das Lager 7? Sollen wir dahin?

Wir sollen. Absteigen, Unterkunft in einen großen Saal mit Bühne (“Das ist unser Kulturraum!”) auf dem Fußboden (“Ihr bleibt bestimmt nicht lange hier, unser Lager wird aufgelöst!”) - Ja, was sollen wir denn dann hier? - Mensch, da ist einer, den kenn ich doch . . .! – “Das ist unser Lagerführer!” - Ja, und mein ehemaliger aus dem Lager 11 auch - der Helmut Fischer . . . Der kennt mich tatsächlich auch noch – “Na, Langer, was willst Du hier? Bist gut über den Sommer gekommen, ja? Weiß auch nicht, was das hier werden soll; ein Transport wird zusammengestellt, aber wohin . . . keine Ahnung . . . vielleicht nach Hause?”.

Und dann ist termingemäß ausgerechnet jetzt wieder ein Malariaanfall fällig. Kranke werden auf Transport nicht mitgenommen, also jetzt nicht auffallen, nichts anmerken lassen . . . Vielleicht geht es wirklich nach Hause, so eine Chance darf man doch nicht verpassen, da werde ich doch nicht wegen so einer dämlichen Krankheit hier bleiben . . . Ich kann mir “nach Hause” ja fast nicht mehr vorstellen, aber immerhin . . .

Nebenbei werden wir völlig neu eingekleidet - frische Wäsche (wurde auch Zeit, mittlerweile hat die meinige das dauernde Selbstwaschen auf dem Lande denn doch übel genommen und ist mürbe geworden), dann Jacke, Hose und Mantel und schließlich etwas, worauf ich den ganzen Sommer scharf war: ein paar Langschäfter, die mir richtig passen. Es sind zwar nur alte russische Armeestiefel, mit Schäften aus einem Kunstleder, das an geteertes Sacktuch erinnert, aber sie sind stabil mit alten Autoreifen besohlt. Dann - frisch gebadet, gezählt, auch wieder mal durchsucht (der Dolmetscher aus dem “Stadtbad” fällt mir wieder ein – “Wann einer hat Schissgewehr . . .”) - aufgeschrieben und in Listen erfasst, in Gruppen zu 50 Mann zusammengestellt - und ab zur Bahn, 500 Mann hoch. Wohin wohl?

An den Gleisen stehen schon 500 Mann, zusammen also 1000 - und ausgerechnet jetzt wieder Schüttelfrost . . . Mist, verdammter, wenn bloß keiner was merkt . . . Warten, eine Stunde, zwei Stunden, das Fieber fängt an - immer noch warten, dann kommt der Zug - Mensch, das sind ja Personenwagen, nicht die Güterwagen, die wir bisher gewohnt waren . . .? Das kann ja interessant werden . . .

Einsteigen - und ich kann kaum kriechen, mein Fieber muss, soweit ich das aus dem Puls schätzen kann, so etwa bei 41 Grad liegen. Als ich endlich die Möglichkeit finde, in den Wagen zu klettern, ist die große Balgerei um Fenster- und andere Sitzplätze längst abgeschlossen. Alles besetzt! Was bleibt mir übrig - ich rolle mich unter den Bänken auf dem Fußboden zusammen. Finster, und auch nicht sehr sauber - aber ich kann in Ruhe liegen . . .

Dann fährt der Zug. Wohin? der Teufel mag's wissen; die am Fenster sagen, wir wären über den Sosch hinweg und gleich hinter der Brücke nach links abgebogen. Das hieße also, wir fahren in Richtung Kiew, und über Kiew geht es wohl nicht nach Hause. Dazu hätten wir rechts abbiegen müssen, in Richtung Baranowitschi . . . Vielleicht hätte ich mich doch besser krank gemeldet?