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In der Kohle vor Ort 

Ich glaube, es fällt einem nirgends so auf, wie monoton die Räder auf den Schienenstößen klopfen, als wenn man tagelang im Halbdunkel unter den Bänken in einem Personenzug liegt . . . Aber ein anderer Platz für mich findet sich einfach nicht, es sei denn, ich wäre mit einem Stehplatz zufrieden. Das aber wird bei der Länge der Fahrt denn doch recht anstrengend, wenn ich auch tagsüber versuche, etwas von der Landschaft mitzukriegen, durch die wir fahren. Jedenfalls erweist sich das Fahren im Personenwagen auf die Dauer für mich als recht anstrengend, zumal ja die ersten Tage der Fahrt noch durch Schüttelfrost und Fieber “garniert” gewesen sind . . .

Draußen wandert die Gegend vorbei. An den ersten beiden Tagen war es noch Wald, jetzt sind es endlose Felder. An den Ausweichstellen und den Stationen liegen riesige Berge von Zuckerrüben, die gepflügten Äcker sehen rabenschwarz aus - Ukraine!

Essen gibt es zweimal am Tage an den Ausweichstellen, dann wandert alles waggonweise vor zum Küchenwagen, ansonsten wird gefahren und gefahren und gefahren . . . Wie üblich, schmeckt mir nichts, solange ich Fieber habe, aber nach drei, vier Tagen wird das besser . . . Das Essen ist dafür, daß wir ja fast ständig rollen und der Küchenbetrieb in den Güterwagen da vorn recht kompliziert sein muss, ganz anständig; es gibt sogar Tee, aber wer davon etwas haben will, braucht ein zweites Kochgeschirr oder eine Feldflasche - und wer hat das schon?

Beim Essenholen rennt mir jemand über den Weg - Mensch, das ist doch . . .? Na klar, Kurt, von dem ich seit meinem Besuch im Lazarett im vorigen Jahr um diese Zeit nichts mehr gehört habe! Große Freude auf beiden Seiten, schnell ein paar Worte - der Zug kann jeden Augenblick weiterfahren – “Vom Lazarett ins Lager 2 und dort bis vorige Woche - wohin jetzt? Donbass, Stalino, Arbeit im Schacht, hat unser Kommandant gesagt - los, einsteigen, bis nachher, mach's gut solange . . .”.

Wieder mal Halt und Essenholen, und wieder ein bekanntes Gesicht - Helmut, mein Bettnachbar aus der Brigadestube in Rjetschiza . . . “Woher jetzt? Na, aus Rjetschiza! Nee, war dann gar nicht mehr so schlimm, nachdem die Kommandantur und die Lagerleitung abgelöst waren - ach, das hast Du ja gar nicht mehr miterlebt . . . ja, Ludwig weg - Straflager, hat man erzählt - Propagandist weg - soll nie Antifaschist gewesen sein, sondern irgendwas bei den Nazis in einer Gauleitung - alles neue Leute aus anderen Lagern dafür - und dann wurde es eben besser. Ja, stimmt, hat man uns auch gesagt - Stalino, Bergwerk, unter Tage . . . mach's gut, wir seh'n uns sicher noch . . .”.

Äcker, Zuckerrüben, größere und kleinere Stationen, in irgendeinem -owka drei Tage Aufenthalt (kein Brot mehr im Zug, muss nachgebacken werden); währenddessen jede Menge Handel am Zug, Bäuerinnen mit Pasteten, Weißbrot, Quark, Tabak, Speck - wo das Geld her ist? Na, hast Du denn nichts verdient?

Das ist nun der Nachteil dieses Sommers, den wir da draußen im Moor so herrlich ungebunden verbracht haben . . . In den Lagern, die direkt für irgendwelche Betriebe tätig waren, ist im letzten Sommer für die übererfüllte Norm Geld ausbezahlt worden . . . Davon haben wir in unserer Wildnis natürlich nichts mitgekriegt, und nun dürfen wir zusehen, wie die anderen ihre Rubel umsetzen.

Eine große Stadt mit Straßenbahn und vielen Kirchen mit goldenen Kuppeln - also Kiew ist das? - Pflügende Traktoren auf den Äckern, Dörfer mit weißgekalkten Häusern, die Dächer mit Stroh oder mit grüngestrichenem Blech gedeckt, an der Strecke Telegrafenmasten und Kilometerpfähle, und um jeden Kilometerpfahl aus roten und weißen Steinchen ein Rondell ausgelegt mit einem roten Stern, von Zeit zu Zeit ein Wärterhaus mit einer großen weißen Nummer dran und vor dem Häuschen jedes Mal ein Mädchen, das dem Zug ein zusammengerolltes rotes Fähnchen entgegenstreckt - einmal ein wüstes Durcheinander von Eisenresten neben den Schienen, das sind sicher noch Überbleibsel aus dem Krieg, Luftangriff oder Sprengung durch Partisanen - jeden Tag zwei Mal Essen holen, sonst Schach spielen oder aus dem Fenster sehen . . .

Nach 14 Tagen etwa halten wir eines Morgens neben einer riesigen Fabrikanlage. Parolen schwirren herum - hier bleiben wir, das wird unser zukünftiger Arbeitsplatz - ach was, das ist doch kein Schacht, da müssen wir mindestens noch 10 Tage fahren, und dann . . . Einer fragt einen vorbeikommenden Eisenbahner, wo wir hier sind – “Makejewka - Elektrostanzija” - aber das hilft auch nicht weiter, das Kraftwerk Makejewka kennt keiner von uns. Muss aber ein Riesending sein, direkt vor uns liegt ein Umspannwerk, so an die 20 Trafostationen, und die Leitungen, die da raus kommen und auf großen Stahlmasten in alle Richtungen gehen, haben mindestens ihre 300 Kilovolt . . .

Wir rollen wieder an, fahren noch etwa eine halbe Stunde weiter, und dann heißt es Aussteigen. Um uns Halden, Fördertürme, Steinkohlenhaufen - also wohl tatsächlich Arbeit im Schacht . . . Schlammige, ausgefahrene Wege - nur gut, daß ich die Stiefel habe - ein Bretterzaun, ungefähr zweieinhalb Meter hoch, da drüber noch eine Zeile Stacheldraht, auf jedem Zaunpfahl eine elektrische Lampe, Wachtürme an den Ecken, hinter dem Zaun drei große dreistöckige Häuser - das neue Lager!

Nun geht der übliche Neueinrichtungsbetrieb los. Küche, Bad, Latrine, Revier, Sauna - ist zwar alles vorbereitet, muss aber für uns passend gemacht werden, für tausend Mann wird so einiges benötigt, damit das Zusammenleben so einigermaßen funktioniert. Untergebracht werden wir in richtigen Wohnungen, jeder Zug - das sind jeweils 50 Mann - in einer Etage, das sind zwei Drei-Zimmer-Wohnungen; vier Doppelstockbetten in einer Stube, da bleibt sogar noch Platz für einen Tisch und zwei Bänke, da haben wir schon viel dichter aufeinander gesessen; na, und daß die ehemaligen Badezimmer jetzt unsere Waschräume sind, das ist schon fast Luxus, obwohl die Badewannen fehlen . . . Dabei gibt es in der Sauna auch noch einen großen Duschraum mit heißem Wasser . . .

Gleichzeitig läuft aber etwas ab, das für uns vollkommen neu und ungewohnt ist. Da kommen irgend welche Russen mit Lederjacken, und die nehmen uns zugweise zusammen und halten uns lange Vorträge, teilweise auf Deutsch, teilweise auf Russisch, und dann überschlagen sich die Dolmetscher fast beim Übersetzen - Was man unter Tage muss, und was man darf, und was man nicht darf, und was man auf überhaupt keinen Fall darf (Rauchen zum Beispiel), und was man tun muss, wenn was passiert, und was passiert, wenn man was tut . . . Und anschließend muss jeder von uns unterschreiben, dass er dabei war, als der Vortrag gehalten wurde, und daß er verstanden hat, was da gesagt worden ist. Dabei weiß schon nach dem zweiten Vortrag kaum noch einer, was eigentlich im ersten gesagt wurde . . .

Dann werden Brigaden aufgestellt, und schließlich ist es soweit - Wir sollen raus zur Arbeit. Vorher aber hat jeder noch einen Helm verpasst gekriegt, damit er sich unter Tage den Kopf nicht einrennt - lackierte dicke Pappe, aber durch die merkwürdige Konstruktion unheimlich stabil - und ein Paar Segeltuchschuhe und einen Drillichanzug. Das soll unsere Arbeitsbekleidung sein, aber die Sachen sind funkelnagelneu und sehen so sauber aus, dass es uns leid tut, sie zur Arbeit anzuziehen. Wir lassen sie uns für den Feierabend und ziehen im Schacht unsere alten Uniformen an.

Wir sind das Kommando “Schacht No. 5”. Dieser Schacht liegt nur etwa zwei Kilometer vom Lager entfernt, und wir gehen zu Fuß zur Arbeit. Der Weg führt als Trampelpfad durch ein Feld mit Roten Rüben, und schon balgt sich im Laufen alles um die Rüben, die mit den Stiefeln losgetreten werden. Mich ärgert das. Ist ja möglich, dass im ich letzten Sommer genug Rüben gesehen habe, aber ich kann nun mal nicht leiden, wenn unsere Leute öffentlich so gierig sind . . .

Auf dem Hof des Schachts dann große Einteilung zur Arbeit. Es gibt Häuer, Schlepper und “lessagony”. Kann sein, daß das auch “lessahony” heißt - der Steiger (oder wie so ein Chef, der mit einfährt, hierzulande heißt) spricht das Wort tatsächlich mit “h” . . . Aber ganz gleich, ob “h” oder nicht - einer davon, von diesen “lessagony”, bin ich. Keine Ahnung, was man da machen muss; aber es muss wohl mit “less”, also mit Holz oder Wald, zu tun haben.

Wir empfangen Grubenlampen. Das sind aber nicht die kleinen Karbidleuchten, die die Bergleute bei uns zu Hause auf dem Schachthut trugen; hier gibt es mächtig schwere Elektrolampen mit einem großen Stahlhaken oben dran, und mit einer angenieteten Aluminiumplakette, auf der eine Nummer steht – “Die Nummer muss sich jeder merken, die gehört jetzt zu ihm, und die Lampe muss jeder selbst an der Lampenstation abholen und auch wieder selbst hinbringen, und solange die Lampe nicht auf der Station ist, heißt das: Du bist noch unter Tage . . .”.

Das Einfahren ist ziemlich unbequem. Keine Seilfahrt mit Förderturm und Korb, wie ich das auf dem Flussschacht zuhause gesehen habe, auch keine Leiternfahrt wie auf der Grube “Silberbach”, in der wir (verbotenerweise) als Jungen herum geklettert sind - ein Schleppschacht, und noch dazu ein ziemlich steiler. Das Gleis geht etwa unter 40 Grad in die Erde hinein, und daneben sind in ungleichmäßigen Abständen Rundhölzer wie Treppenstufen in die Erde eingelassen. Klettern und klettern - mächtig anstrengend, und dabei gehen wir jetzt nach unten; was das wohl beim Ausfahren wird? Die Steigerei nimmt kein Ende. Längst haben wir die Lampen angemacht, an der Seite laufen irgendwelche Rohre und Kabel, die Rundhölzer, auf die wir treten, sind oft lose, irgendwoher tropft Wasser - aber da unten verschwinden die Lichter vor uns, da geht es scheinbar um eine Ecke.

Ein Stollen. Hoch genug, dass ich stehen kann, stabil mit Rundholz verzimmert, dahinter verbrettert, auf dem Boden das Gleis - Füße hoch beim Gehen, sonst stolpert man über die Schwellen (aber das bin ich vom Frühjahr vom Eisenbahnbau gewohnt, da hatten wir die gleichen Gleise) - dann vor uns helles Licht und Lärm - der Füllort . . .

Oben an der rechten Seite des Stollens das Flöz. Sehr flach, nur etwa 60 Zentimeter hoch; 90 Zentimeter werden abgebaut, aber auch 90 Zentimeter sind eng genug, wenn man drin arbeiten soll. Zum Glück fällt das Flöz nicht so steil ein wie der Schleppschacht, aber etwa 20 Grad Neigung wird es auch haben. Einen Meter vom Abbau entfernt läuft im Streb das Förderband, eine Kette mit quer angebrachten Winkeleisen auf Stahlplatten; macht einen unheimlichen Lärm, wenn es in Betrieb ist. Daneben ist noch mal ein Meter freier Raum, und dann kommt der Versatz, der ausgekohlte Berg, der mit taubem Gestein wieder ausgefüllt wird.

In der Enge zwischen Flöz und Förderband, im Abbau, hocken 24 Häuer. Jeder bearbeitet drei Meter Kohle und muss seinen Arbeitsplatz, sowie er die Kohle losgehauen und weggeschippt hat, mit Holz abstützen; und der “lessagon” ist der, der ihm das Holz dafür an den Platz bringen muss. Wir sind zwar zu zweit, aber auch zu zweit ist es eine irre Schinderei, in der Enge und bergauf. Jeder braucht mal Holz von uns, und jeden stören wir, wenn er gerade keins braucht, und schließlich bin ich mit meinen mehr als 180 Zentimeter immerhin doppelt so groß wie der Raum, in dem ich mich da bewegen soll . . .

Streb hoch, Streb runter, Streb hoch, Streb runter - und dabei hochwärts immer mindestens ein Dutzend der meterlangen Rundhölzer, die hier als Stempel verarbeitet werden, vor mir herschieben oder -werfen - jedem sind wir im Wege, aber jeder schreit nach Holz  - Staub, Schwitzen, Dunst, den das Licht der Lampen kaum durchdringt, glänzende Kohlebrocken, glänzende schweißnasse Körper, das Förderband dröhnt, die Schrämmaschine, die das Flöz von unten freischneidet, kreischt wie eine Horde Teufel – “Holz her, verdammt noch mal - Holz her!” - Wo war das? Also wieder ganz hoch . . .

Wie spät das wohl sein mag? Überhaupt keine Zeitvorstellung . . . Runter auf dem laufenden Förderband - ist zwar verboten, geht aber schneller und ist leichter - und das schlimmste, was ich riskiere, ist eine Schippe Kohle in die Visage . . . Unten geht ein Waggon Kohle nach dem anderen ab, und mit jedem Waggon, der zurück kommt, kommt Holz mit, und das muss alles nach oben . . . und schon wieder schreit da oben einer . . .

Und dann ist Feierabend. Alles strömt ziemlich müde nach oben, ans Tageslicht, und daß der Schleppschacht so steil ist, macht weniger Mühe als gedacht. Es geht ja noch oben, ans Licht, an die Oberfläche . . . Licht ist nicht mehr, es ist schon dunkel; aber Luft ist, und Platz . . . Es dauert lange, bis die Letzten oben sind; da unten gibt es keine Sirene, und so mancher kriegt den Feierabend erst mit, wenn ihm der Kumpel von der nächsten Schicht auf die Schulter klopft - und so müssen wir denn warten . . .

Im Lager als erstes Waschen . . . Heißes Wasser in der Duschanlage, Seife, die zweite Garnitur Wäsche, das neue Drillichzeug . . . dann das (erheblich verspätete) Mittagessen, dann Zählung, und dann schon Abendbrot - und dann ins Bett und schlafen, nichts als schlafen . . .

Was hat eigentlich früher so ein Zentner Steinkohle gekostet? So was gegen zwei Mark, ja? Viel zu billig, viel zu billig! So eine Schinderei - die kann ja gar keiner bezahlen!

Aber das haben wohl die Russen auch schon gemerkt; jedenfalls gibt es hier für die Untertagearbeit Verpflegungssätze, von denen haben wir bisher noch nie gehört.  1000 Gramm Brot pro Tag statt der üblichen 600, 50 Gramm Fleisch statt sonst 25, und 2400 Kilokalorien statt sonst 1800 - das macht sich schon bemerkbar; aber das braucht man wohl auch, um die Arbeit einigermaßen zu bewältigen . . .

Müde, immerzu müde . . . Immer, wenn man versucht zu schlafen, ist Zeit zum Essen, oder die Nachtschicht kommt, oder die Frühschicht geht, oder es ist Zählung . . . Und das geht auch über den Schichtwechsel so; man denkt, man könnte zwei Tage ausruhen, aber irgendwie ist immer etwas, das einen stört. Wenn wenigstens die Zählungen nicht so lange dauern würden - aber der Lagerführer, der Raimund, kann scheinbar genau so wenig rechnen wie die anderen Lagerführer, die ich bisher hatte . . . 

Aber wir haben wenigstens warme Zimmer. Zwar müssen wir uns die Kohle vom Schacht selbst mitbringen - wahrscheinlich wird das billiger, als wenn das Lager welche anfahren ließe - aber das wird uns gestattet, da kommt keiner und filzt uns, wie wir das bei anderen Gelegenheiten gewohnt waren.

Es friert. Eis auf den Pfützen am Wege, kalte Füße - aber im Schacht ist es warm, und bei der Arbeit wird einem noch viel wärmer. Holz, Holz, Holz - Streb hoch, Streb wieder runter, das Förderband dröhnt, die Lampen blinzeln durch den Dunst, den die Ventilation ins Streb bläst, und Holz, und Holz . . .

Kommissionierung - und “On budit distrofija!”, sagt die Schwester, als ich vor ihr stehe. Übrigens ist das die dicke Njura, die mich im Lazarett über den Küchenfußboden gejagt hat, und die dann auch mit in Rjetschiza war. Da habe ich es ja weit gebracht in den knapp vier Wochen, die wir jetzt hier sind - Dystrophie . . . Die meisten von uns halten das ja für eine Arbeitsgruppenbezeichnung, wie I, II, III und OK - aber als ehemaliger Sani weiß ich, daß das eine medizinische Diagnose ist: hochgradige Unterernährung . . .

Auffallend viele Dystrophiker werden diesmal eingestuft, fällt uns auf - und sofort geht die Spinnerei los: “Kannst glauben, da wird ein Transport vorbereitet . . . Der Otto hat's vom Karl, und dem hat's der Revierfriseur erzählt, und der hat dabeigestanden, wie die Schwester zum Arzt . . .”. Es ist furchtbar, was da so alles zusammenphantasiert wird. Fast drei Jahre geht das nun schon so, und immer wieder gibt es welche, die felsenfest dran glauben und sich an diesen Gerüchten festhalten wie Ertrinkende an den berühmten Strohhalmen - und dann bitter enttäuscht sind, wenn es eben doch wieder nur Latrinenparolen waren . . .

Immerhin - schlecht wäre es ja nicht - nach Hause fahren - wieder zu Hause sein . . . Gibt es das überhaupt noch? Irgendwo - ganz weit weg - ganz lange her . . .

Dann: “Alle Dystrophiker mit Gepäck antreten!” - Ach was, das hat nichts zu bedeuten - die legen wieder wie jedes Jahr die Arbeitsunfähigen in ein Quartier zusammen, damit sie den Tagesablauf der Arbeitsbrigaden nicht durcheinander bringen . . . OK-Kompanie - kennen wir doch . . . Hat mir grade noch gefehlt, so ein Haufen Verrückte . . .

Aber dann: Listen, Bekleidungsaufnahme, Drillichzeug abgeben, zwei LKW, die Schwester am Lagertor - das heißt, wir kommen raus aus dem Lager. Wohin wohl? Vielleicht Erholungslager? Ob es hier so etwas gibt? Oder - vielleicht doch nach Hause?

Der Wind pfeift uns um die Köpfe; es geht in Richtung Stalino. Noch liegt kein Schnee, aber es ist schon verdammt kalt - doch das ist jetzt alles egal, denn als wir losfuhren, hat die Schwester gesagt, dass es jetzt nach Hause geht . . . Wirklich wahr, ich habe es selbst gehört . . . Dass es das noch gibt!

Fördertürme, Bahnübergänge, Schornsteine, Halden - dann die Stadt. Rote Fahnen, Spruchbänder mit Losungen, Girlanden aus Fichtengrün - übermorgen ist der 7. November, Jahrestag der Oktoberrevolution, der größte Feiertag hierzulande. - Da wird drei Tage nicht gearbeitet . . . oder im Schacht im Schichtbetrieb vielleicht doch? Aber was geht uns das noch an, wir fahren ja nach Hause, das ist besser als alle Feiertage auf einmal . .
Mitten in der Stadt neben einer Schachtanlage ein großes Lager; dort werden wir untergebracht. Schlafplätze in einem großen Flur auf dem blanken Fußboden - also geht es bald weiter, denn sonst hätten wir Strohsäcke gekriegt - und dann Listen mit Namen, neue Listen - alle mit “A” für sich, alle mit “B”, und so weiter, das ganze Alphabet durch - und am nächsten Morgen auf dem Hof nach Alphabet antreten und Abmarsch.

Auf dem Güterbahnhof ein langer Zug aus Güterwagen, aus den Lichtklappen ragen Ofenrohre, und die qualmen sogar - also geheizte Waggons - na ja, wäre sonst wohl auch etwas kühl, und wir wollen ja schließlich nicht als Gefrierfleisch zuhause ankommen . . . Dann wird eingestiegen, streng nach Alphabet, immer 50 Mann in einen Waggon, erst alle mit “A”, dann alle mit “B” und immer so weiter . . . Aber was soll denn das, die sind doch schon bei “R”, was ist denn mit mir . . .? Immer weniger stehen neben mir, und als ich zum Schluss dann ganz allein übrig bin - da kann ich mich doch einfach nur überhört haben, nicht wahr? Ist mir ja noch nie passiert, aber da habe ich doch sicher nicht aufgepasst . . .? Das kann es doch gar nicht geben, dass ich da nicht dabei gewesen bin . . . ich will doch auch nach Hause fahren . . . das geht doch nicht, was die hier mit mir machen . . . wie ich heiße? Und Papiere rascheln, ein Zeigefinger läuft auf den Listen runter und wieder hoch, und dann: "Petersen, Siegfrid Ernestowitsch? Nje na list!" - Nicht auf der Liste - das kann doch nicht sein, dass die mich erst bis hierher schleppen und mich dann nicht auf der Liste haben . . . Was nun mit mir wird? "Nasat na swoje lager!" - Also zurück . . .

Wie konnte ich mir nur einbilden, die ließen mich nach Hause . . . Irgendwas muss ja bei mir dazwischen kommen, irgendwas . . . Bloß - was eigentlich? Haben die mich einfach vergessen - oder haben die was gegen den Truppenteil, in dem ich gedient habe? Es soll ja solche Einheiten geben, die sich hier - vorsichtig ausgedrückt - sehr unbeliebt gemacht haben . . . Aber die Division “Hermann Göring” war doch nie in Russland oder Polen eingesetzt, daran kann es wohl nicht liegen . . . Oder halten die mich für einen aktiven Nazi? Aber das können die sich doch ausrechnen, dass es bei mir bloß bis zur Hitlerjugend gereicht hat bei den 16 Jahren, mit denen ich Soldat geworden bin - und die Hitlerjugend ist doch in Nürnberg bis zum Bannführer amnestiert worden . . . Oder hat sich vielleicht einer auf eigene Faust entlassen, so wie der Rudi vorigen Sommer, und für den bleibe ich jetzt hier?

Ein LKW aus unserem Lager nimmt mich wieder mit zurück. Vorher aber geht es noch kreuz und quer durch ganz Stalino, Verpflegung empfangen. Die Stadt könnte mir gefallen, es gibt zwar auch Trümmer, aber es ist insgesamt doch viel mehr stehen geblieben als in Gomel, und es ist auch vieles schon wieder in Ordnung gebracht. Alle Straßen und Plätze sind geschmückt, morgen ist ja Feiertag; vom LKW aus kann ich den Leuten in die Fenster sehen, sie sitzen beim Abendbrot, auf Stühlen an Tischen, wie zuhause; und beinah wäre ich auch . . . So ein Blödsinn, so ein Blödsinn . . .
Im Lager werde ich bestaunt wie ein Kalb mit zwei Köpfen. Die Schwester ist ganz entgeistert, als der Kraftfahrer mich bei ihr abliefert - Ich sollte doch nach Hause fahren! Warum ich da wieder zurück gekommen bin? - Das muss die ausgerechnet mich fragen, ausgerechnet mich . . . An mir hat das doch nicht gelegen, das habe ich doch nicht freiwillig gemacht - Ich weiß doch nicht, warum . . .Was denn - beim nächsten Mal? Die hat gut reden, die ist ja hier zu Hause, die braucht ja nicht zu warten; und wann das nächste Mal sein wird - das weiß der Teufel . . .

Max Engel, der Kompanieführer der 2. Arbeitskompanie, holt mich als Kompanieschreiber zu sich ins Büro. Dabei gibt es dort gar nichts zu schreiben . . . Er meint es gut und will mir auf die Art und Weise die Verpflegung für die Arbeiter unter Tage zuschanzen, aber ich kann das einfach nicht, den ganzen Tag nur dasitzen und auf den Karteikasten mit den 200 Zementsack-Zetteln aufpassen - Ich grübele und grübele und grübele . . .

Nach zwei Tagen halte ich das nicht mehr aus. Ich gehe zu Max und bitte ihn, mich wieder weg zu lassen. Ich halte das nicht aus hier drin, ich gehe bei diesem Nichtstun kaputt . . . Was ich machen will? Ganz egal - aber arbeiten, so arbeiten, dass mir keine Zeit zum Denken bleibt . . . Nachtschicht an der großen Kreissäge im Lager? Meinetwegen, das könnte was sein, ich probier's mal . . . 

Die Kreissäge steht zwischen dem Bad und dem Block III unter freiem Himmel und wird von einer 200-Watt-Lampe beleuchtet. Schön ist die Arbeit nicht gerade - wir schneiden Bohlen aus Kiefernstämmen, Floßholz, also nass und vereist, und dann - runde Stämme, die einzige Führung ist eine abgeflachte Seite, die mit der Axt gehauen wird . . . Da heißt es höllisch aufpassen, daß die Säge sich nicht verläuft und festfrisst, und dass die Keile, die den fertigen Schnitt auseinander spreizen, auch festsitzen; denn wenn die rausgedrückt werden, da sitzt dann Schwung dahinter, die haben dann einen Druck . . .

Ich könnte fast verrückt werden - oder bin ich es vielleicht schon? Ich weiß das wirklich nicht. Fast jeder, der mich sieht, fragt mich, ob ich nicht derjenige wäre, der da beinah nach Hause gefahren wäre . . . Wenn ich diesen blödsinnigen Tag doch nie erlebt hätte - oder wenn ich ihn wenigstens vergessen könnte . . . Aber so was kann eben bloß mir passieren . . . nicht mehr dran denken, am besten überhaupt nicht mehr denken . . . und plötzlich - Peng! - und finster - und die Kreissäge heult auf wie ein getretener Köter - festgelaufen! - Und dann zischt mir etwas am Kopf vorbei, und dann singt der Motor in den höchsten Drehzahlen, und endlich hat Franz den Schalter erwischt und schaltet ab - was ist eigentlich los?

Ich hole eine Grubenlampe aus der Lagerleitung, und wir besehen uns den Schaden bei Licht. Beide Keile raus geflogen; der erste offensichtlich über uns in die 200-Watt-Glühbirne, und das hat die übel genommen, und der zweite ist wohl das gewesen, was mir da am Kopf vorbeigerauscht ist. Wenn ich den abgekriegt hätte . . . “Hätt´st keine Heimfahrt mehr nötig gehabt, dann!”, sagt der Kalli und grinst. Jetzt fängt der auch schon an . . .
Für den Vormittag habe ich noch eine Beschäftigung gefunden: Saubermachen in der Stube der Köche - nicht allzu schwer, bringt obendrein noch einen Schlag Suppe ein und hilft, über die Zeit zu kommen. Wenn ich damit zu Mittag fertig bin, haue ich mich nach dem Mittagessen auf mein Bett und schlafe durch bis zum Abendessen, und da stört mich keine Früh- oder Spätschicht, wenn die nach Hause kommen.

Wieder mal Kommissionierung . . . “Diesmal fährst Du”, sagt die Njura und lacht. Die auch, natürlich . . . Alles macht sich über mich lustig. Wenn die wüssten, wie einem nach so viel Pech zumute ist . . . Die sollten das alle mal mitmachen, schon auf dem Bahnsteig stehen und den Zug sehen und nicht einsteigen dürfen . . .

Wenn die sechs Stunden Kreissäge und der Vormittag Reinemachen vorbei sind, falle ich auf meinen Strohsack und schlafe sofort ein. Ich kann aber noch gar nicht lange geschlafen haben - es ist noch richtig hell draußen - da will mich einer wachrütteln. “Du - wach doch mal auf - Du bist doch der Petersen  - Mensch, schläft der Kerl aber fest . . .”. Ich bin eigentlich schon wach - aber - was geht das den an? Ich habe meine Arbeit hinter mir, und da darf ich jetzt schlafen, und da hat mich keiner zu wecken!  - “Du - Petersen - Mensch, der Kerl verschläft Dir doch glatt seine Heimfahrt!”. Diese verdammte Stichelei - können die einen denn nicht mal in Ruhe schlafen lassen? Das macht der nicht noch mal mit mir! Und ich hole aus und haue mitten hinein in das Gesicht, das da vor mir ist. Schadenfrohes Gelächter in der Stube ringsum – “Siehst Du - das haben wir dir doch gesagt - mit so was darfst Du dem nicht kommen, der denkt, Du willst ihn aufziehen!” - Dann rüttelt mich wieder jemand: “Mensch”, - das scheint doch Kalli zu sein? – “Die Schwester wartet auf Dich, Du sollst wirklich fahren!” - Was - ich und fahren? Wenn das man nicht wieder ein Irrtum ist . . . Und ich setze mich erst mal auf und sehe Kalli an. Der ist ganz aufgeregt: “Die Schwester war eben hier und hat Dich gesucht - der neue Transport tritt draußen an, die warten nur noch auf Dich!” - und schleppt mir schon meine Klamotten zusammen – “Jetzt beweg'  Dich bloß ein bissel, sonst fahren die wirklich noch ohne Dich ab . . .”.

Wieder werden wir auf LKW verladen, wieder geht es rein in die Stadt . . . Wieder ein Lager, in dem wir untergebracht werden, aber ein anderes, fünf langgestreckte Baracken, und wir werden in leeren Stuben untergebracht, und die sind völlig verwanzt, da wird nichts mit Schlafen . . .

Diesmal müssen wir fast eine Woche warten, bis die Formalitäten losgehen. Wieder Listen, Kleidung tauschen, Listen, Baden und Entlausen, Listen nach Alphabet - und jedes Mal, wenn eine Liste kommt, werde ich nervös und warte gespannt auf meine Stelle - den Namen vor mir und den Namen hinter mir kenne ich schon genauso gut wie meinen eigenen - dann läuft mir die Njura noch einmal über den Weg – “Skoro domoi budish, prawilno, prawilno!” - hoffentlich hat sie recht . . .

Meeting im Speisesaal. Meeting? So was hatten wir doch schon mal? Richtig, am 1. Mai in Rjetschiza, der Propagandist, der sich später als ehemaliger Nazi entpuppt haben soll - der hat da eine Rede gehalten, über Frieden und so, und dann hat es geschneit . . . Was das wohl hier wird? Na ja, auf der verwanzten Bude herumsitzen bringt ja auch nichts; ich werde mal hingehen . . .

Hier wird auch eine Rede geredet. Der Redner stellt sich vor - irgendein Name, der mir nichts sagt, aber dann “ . . . vom deutschen Volke gewählter Reichstagsabgeordneter der KPD . . .”. Das muss doch wohl ziemlich was Hohes gewesen sein - was der uns wohl erzählen will?

Und dann stelle ich fest, dass das da vorne offensichtlich der Mann ist, den ich die ganze Zeit, schon viel früher, hätte treffen müssen . . . Wenn ich den da hätte jedes Mal fragen können, dann wäre vieles sicherlich einfacher gewesen - der spricht so, als wenn er meine ungeklärten Probleme alle kennen würde, und als er am Ende über eine “Resolution” abstimmen lässt, in der wir, die wir nach Hause fahren sollen, erklären, dass wir zuhause für die Freundschaft mit den Russen eintreten wollen - da hebe ich, ohne noch lange zu überlegen, die Hand hoch. Warum nicht - mir hat doch hier keiner was getan - und dass ich nun fast drei Jahre hier sein musste - dafür ist ja schließlich vorher Krieg gewesen, und was für ein Krieg, für ein Scheißkrieg . . .

Und dann geht alles wie im Traum. Klamotten packen - Marsch zum Bahnhof - Einsteigen nach Aufruf - alle “A” - alle “B” - und so weiter - und bei den “P” bin ich tatsächlich dabei, gleich hinter “Panjas, Paul Wilhelmowitsch” und vor “Petrasch, Hermann Karlowitsch”, wie schon die ganze Zeit vorher . . .

Der Zug rollt und rollt, die Landschaft rauscht draußen vorbei, und wir sitzen und warten . . . Worauf? Eigentlich immer noch auf die nächste Mahlzeit, denn das Essen ist das einzige, was den Tag unterbricht; aber irgendwo im Hinterkopf warten wir auf das Ende dieser Fahrt, auf das letzte Aussteigen, darauf, dass wir jeder für sich losgehen können . . . Und immer wieder muss der Zug an den Ausweichstellen stehen und andere Züge vorbeilassen - na ja, so wichtig sind wir nun auch wieder nicht, da gibt es sicher wichtigere Dinge zu transportieren, wir fahren ja nicht zur Arbeit, wir fahren ja nach Hause . . .

In Brest stehen wir dann sogar volle drei Tage - hier hört die Breitspur auf und die Normalspur fängt an, und wir sollen umgeladen werden. Es ist aber kein Zug für uns da, wir müssen warten, bis einer aus Deutschland kommt, einen Tag, einen zweiten Tag  . . ... Als dann endlich einer angekommen ist, sind das lauter ganz normale gedeckte 20-Tonnen-Wagen ohne Einbauten (in den Breitspurwagen hatten wir dreistöckige Pritschen und Toilettenrinnen) und ohne Öfen; da wird es genauso unbequem wie damals auf der Fahrt von Stargard nach Deutsch-Eylau, und kalt dazu . . .

Dazu kommt, dass die Waggons auf der Fahrt durch Polen verschlossen bleiben müssen, weil die Polen nicht sonderlich gut auf uns zu sprechen sind (wird uns erklärt), und dass wir nur unter strengster Bewachung raus dürfen - in den Bremserhäuschen der Wagen stehen schussbereite MGs . . . Nicht, dass man glaubte, hier würde noch wer stiften gehen - alles nur, damit die Polen uns nichts tun können . . .

Aber schließlich ist von Brest bis nach Frankfurt ja nicht mehr weit, und schon am Abend des ersten Tages stehen wir auf einem großen Güterbahnhof, um den herum nur eine Trümmerwüste ist . . . Nichts, was irgendwie an ein Haus erinnert, kilometerweit nur Ziegelsplitt. Das soll Warschau sein? Das war doch mal eine Großstadt - wo ist die hin? So hat es ja nicht mal in Gomel nach Kesselschlacht und Rückzugskämpfen ausgesehen . . .

Am Morgen des dritten Tages in den engen Waggons ruft dann plötzlich einer, der an der Luftklappe liegt: “Leute - das muss die Oder sein!” - und alles drängelt und will gucken; als ich endlich dran bin an der Klappe, rollt der Zug aber schon merklich langsamer, und als er dann steht und die Türen aufgehen - da sind wir wirklich in Deutschland . . .