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Von Frankfurt bis nach Hause 

Da stehen wir nun - 1500 deutsche Kriegsgefangene, die wir gemeinsam mit dem Transport aus Stalino im Donbass gestern in Frankfurt an der Oder angekommen sind - und warten. Wenn wir auch vor wenigen Minuten unsere Entlassungsscheine in die Hand gedrückt bekommen haben, und wenn uns jetzt auch ein sowjetischer Major fast feierlich - und in gutem Deutsch - verabschiedet und sagt, wir seien nun freie Menschen in einem neuen Deutschland - wir warten. Wir haben uns in mehr als zweieinhalb Jahren so sehr an Stacheldraht und Torposten gewöhnt, dass das große Tor der ehemaligen General-Horn-Kaserne, in der das Entlassungslager untergebracht ist, für uns das einzige wirklich existierende Zeichen für unsere Freiheit ist. Wenn der Major da vorne - hoffentlich recht bald, der erzählt den Schmus doch sicherlich bei jedem Transport und kann ihn bestimmt schon auswendig, und zuhören tut sowieso keiner - wenn der also fertig ist mit seiner Rede, und wenn das Tor, auf das wir alle starren, dann aufgeht, und wenn wir dann losgehen dürfen, ohne dass uns einer abzählt und ohne dass ein Posten mitkommt - dann ist es wirklich ernst, dann sind wir tatsächlich zuhause . . .

Das, worauf wir alle warten, geschieht dann plötzlich sehr schnell, und ehe ich mich versehe, laufe ich schon vor der Kaserne auf der Straße. Natürlich schön brav auf meinem Platz in der Fünferreihe in der Kolonne; schließlich ist man ja gut erzogen - und dann wüsste ich ja auch gar nicht, wo dieses Gronenfelde, dieses Heimkehrerlager der deutschen Behörden, eigentlich liegt. Dort müssen wir uns nämlich melden, und, was mir und wohl auch den anderen im Moment viel wichtiger ist, dort soll es Mittagessen geben.

Wie oft haben wir abends auf der Pritsche oder - im letzten Sommer - am Lagerfeuer davon gesponnen, was wir nach der Entlassung als erstes machen würden . . . Anfangs war mein großer Traum, mir sofort fünf Semmeln und eine Dose Ölsardinen zu kaufen und das so richtig mit Genuss zu verzehren; später wurde ich dann bescheidener, da hätten es dann auch die Semmeln und 100 Gramm Leberwurst getan - und jetzt, da es so weit ist? Da laufe ich schon eine ganze Weile wie vorher auch in einer endlosen Fünferkolonne über die Straßen . . . Na ja, meine Vorstellungen von Leberwurst und Semmeln oder gar Ölsardinen scheinen wohl auch etwas verstiegen gewesen zu sein; soweit sich das aus der Kolonne heraus feststellen lässt, sind die Schaufenster der Läden rechts und links an der Straße restlos leer . . .

Das deutsche Entlassungslager Gronenfelde ist offensichtlich früher mal ein Arbeitsdienstlager gewesen. Diese Baracken sehen doch wirklich überall gleich aus . . . Wir werden gleich hinter dem Tor von einer großen Gruppe Zivilisten in Empfang genommen. Schön, sie tragen alle Zivil, und sie sprechen auch alle Deutsch mit uns; aber sie stehen wieder hinter einem Tor, und ringsherum um den ganzen Barackenkomplex ist Stacheldraht, wie eben noch um die Kaserne. Hört denn das nie wieder auf?

Dann werden wir aufgefordert, uns nach unseren Heimatländern auseinander zu sortieren; und das trifft bei den meisten auf erhebliche Schwierigkeiten, weil wir ja seinerzeit aus irgendwelchen preußischen Regierungsbezirken oder sächsischen Kreis-Hauptmannschaften weggefahren sind und nun kaum einer weiß, wie das heute heißt, wo er zu Hause ist . . . Aber alles wird geklärt, und so erfahre denn auch ich, dass der Kreis Sangerhausen jetzt zum Land Sachsen-Anhalt gehört. Nichtsdestotrotz bleibt aber noch ein ziemlich großer Rest übrig von denen, die nur wissen, daß ihr Heimatort östlich der Oder oder in den Sudeten liegt und damit nicht mehr zu Deutschland gehört, und die oft nicht mal wissen, wo ihre Familie sich jetzt überhaupt aufhält; und so dauert diese Sortiererei denn recht lange, und das versprochene Mittagessen rückt immer weiter fort.

Schließlich ist aber doch jeder irgendwo untergebracht, und da glücklicherweise das Land Sachsen-Anhalt als erstes fertig ist mit der anschließenden Registriererei, kommen wir auch als erste an die Küchenschalter. Dann aber sind wir schwer enttäuscht: Mittagessen haben sie uns versprochen; aber das, was sie uns da - wenn auch auf Porzellantellern - vorsetzen bzw. was wir uns da abholen dürfen, ist doch eigentlich eine - noch dazu ziemlich dünne - Morgensuppe, zu der es nicht mal Brot gibt . . . Nur Suppe aus Nudeln und Mohrrüben, und keine Kascha - und so was nennt sich Mittag!

Nach dem “Mittagessen” wird jede Gruppe in eine der Baracken geführt und dort von einem Vertreter “ihres” Landes begrüßt. Muss der nun auch noch eine Rede halten . . .? Vorhin, den Major in der Horn-Kaserne, den haben wir ja noch ertragen; der hatte die Uniform an, der wir zuzuhören gewohnt sind; jetzt aber haben wir - spätestens nach dem typischen deutschen Eintopfessen - kapiert, dass wir wieder in Deutschland sind, und jetzt wollen wir auch das letzte Stückchen Weg so schnell wie möglich hinter uns bringen . . .

Dann aber wird plötzlich alles aufmerksam. Der da vorne spricht nämlich von Überbrückungsgeld, das uns gezahlt werden soll - 50 Reichsmark pro Kopf -  und von vier Wochen Erholungszeit, die uns zustehen, bevor wir wieder arbeiten müssen - und von Marschverpflegung, die wir anschließend empfangen sollen - und (da geht ein lautes Murren durch den Saal) von unserem geschlossenen Weitertransport in ein Quarantänelager . . . Also immer noch nicht nach Hause . . .

Marschverpflegung und Überbrückungsgeld werden uns mit der schon gar nicht mehr gewohnten deutschen Akribie ausgehändigt - mit Unterschrift in einer Quittungsliste und Stempel auf dem Entlassungsschein - und dann werden alle, die noch nicht 21 Jahre alt sind, aussortiert und noch einmal einzeln zu einer Aussprache in ein Zimmer geschickt. Was wollen die denn immer noch?

So stehen wir Jüngeren denn alle in dem langen Barackenflur herum und warten, dass man uns hineinruft, und einer zitiert im Gedanken an frühere Zeiten den alten Spruch vom Soldaten, der über die Hälfte seines Lebens meistens vergebens wartet. Diejenigen, die bereits abgefertigt sind, verlassen das Zimmer allem Anschein nach durch eine andere Tür; jedenfalls kommt keiner zurück, den man befragen könnte, und so rätseln wir herum, was man eigentlich von uns will. Das ganze geht nach dem Alphabet vor sich, und da ich dort relativ weit hinten stehe, darf ich dementsprechend lange grübeln. Schließlich aber ist es soweit, die Tür geht auf und jemand ruft “Herr Petersen, bitte!” - Herr Petersen - wie sich das anhört - das hat noch nie jemand zu mir gesagt . . .

Im Zimmer sitzen - ich glaube meinen Augen nicht zu trauen - zwei Mann in Uniform . . . Sie tragen zwar eine Uniform, die ich noch nie gesehen habe, dunkelblau mit grünen Kragenspiegeln und silbernen Knöpfen, aber eben eine Uniform . . . Der ältere der Beiden, scheinbar auch der Ranghöhere, bietet mir einen Stuhl an und fängt, als ich sitze, an, mir etwas zu erzählen. Ich bin aber von der Uniform zunächst so “begeistert”, dass ich kaum auf das achte, was er sagt, und nur einzelne Brocken mitkriege - von “Sicherheit und Ordnung” und “Schutz des Aufbaus” und “Aufgaben der Volkspolizei” - und schließlich nur das eine verstehe: Die wollen mich nicht nach Hause lassen, die wollen mir wieder eine Uniform verpassen - und da stehe ich auf und sage ziemlich patzig: “Sehen Sie sich mal die Klamotten hier an; in denen laufe ich jetzt seit drei Jahren rum, und wenn ich die ausziehe, dann ziehe ich Zivil an und nichts anderes. Ich will jetzt nach Hause und sonst überhaupt nichts!” - Der, der bisher gesprochen hat, ist aber so etwas scheinbar gewöhnt. Er steht ebenfalls auf, entschuldigt sich dafür, dass er mich aufgehalten hat, und macht mir mit den Worten “Viel Glück zuhause!” eine Tür in der Außenwand der Baracke auf.

Als Marschverpflegung hat es ein Dreipfundbrot (deutsches Brot, nicht wie das russische in Formen gebacken und also entsprechend trocken), ein Klümpchen Margarine, einen Löffel Marmelade und ein paar Zentimeter Blutwurst gegeben. Wozu soll ich das lange mit mir herum schleppen? In weniger als einer Stunde ist die ganze Herrlichkeit verputzt, und ich habe dann durchaus das Gefühl, etwas gegessen zu haben. Ich bin grade fertig, da stößt mich jemand von hinten an. “Du, hast Du noch Hunger?” – “Wieso?” frage ich, “hast Du noch was für mich?” – “Nicht direkt”, sagt er, “ich dachte nur, Du würdest vielleicht mein Brot kaufen?” - Na, warum nicht? Und so werde ich für 35 Mark Besitzer eines zweiten Brotes, zwar ohne den Aufstrich, aber den sind wir ja ohnehin fast nicht mehr gewohnt.  Dann fällt mir ein, dass ich voriges Jahr in Rjetschiza ja mal 20 Mark gefunden und mir in den Mantelkragen genäht habe - Der Teufel weiß, wie die in den Mülleimer dort gekommen sein mögen; jedenfalls hole ich sie raus, und siehe da - es findet sich noch jemand, dem Geld wichtiger ist als Essen. Damit bin ich also sowohl satt wie auch gut versorgt für die nächste Zeit.

Über all dem ist es später Nachmittag geworden, und alle sind recht zufrieden, als es durch den Lautsprecher heißt “Landestransport Sachsen-Anhalt am Tor sammeln!” und wir anschließend geschlossen - aber in Dreier- statt in Fünfer-Kolonne - zum Bahnhof ziehen. Vom Weg durch Frankfurt haben wir dabei nicht allzu viel, denn es ist stockdunkel.  Immerhin haben wir schon Mitte Dezember, und nirgends brennt Licht, weder in den Häusern noch an den Straßen. “Wieder mal Stromsperre!” sagt einer der Zivilisten, die unseren Transport begleiten. So etwas gibt es hier jetzt also auch . . .

Die Bahnfahrt ist recht erträglich. Ich weiß nicht - fahren wir mit einem Sonderzug, oder haben die an einen fahrplanmäßigen Zug Wagen extra für uns angehängt, oder sind die Züge hier immer so leer - jedenfalls ist außer uns Entlassenen kein Mensch im Zug zu sehen. Da man von der Landschaft, durch die wir fahren, ohnehin nichts sieht - zum ersten ist es stockfinster, und zum zweiten sind die Fenster bis auf kleine Öffnungen von etwa 20 mal 20 Zentimeter mit dicker Pappe zugemacht - erinnere ich mich an meine Fahrschülerzeit, schwinge mich in das mit Brettern ausgelegte Gepäck“netz”, lege mir den Gasmaskenbeutel mit den zwei Broten unter den Kopf (den Broten kann dabei nichts passieren, die sind mindestens von voriger Woche), und schlafe.

Als ich geweckt werde, ist es draußen schon wieder hell. “Los, raus, wir sind da!”, brüllt mir jemand ins Ohr. Ich schwinge mich aus dem "Bett" und sause mit dem gleichen Schwung zur offenen Tür raus und auf den Bahnsteig. Nicht sehr groß, das Nest, ist meine erste Feststellung; dann erst fällt mir ein, dass wir ja in Deutschland sind und mir also der Ortsname etwas sagen könnte . . .”Apollensdorf” steht auf den Bahnhofsschildern. Da war doch . . . was war da? Richtig - Kurt hat mal davon gesprochen . . . das lag bei ihm zu Hause in der Nähe, also bei Wittenberg. Da könnte man ja schlimmstenfalls schon nach Hause laufen . . .

Laufen tun wir denn auch, aber zum Quarantänelager. Das liegt nicht allzu weit vom Bahnhof, scheint früher auch eine Kaserne gewesen zu sein und ist jetzt bis an den Rand voll mit irgendwelchen Leuten, wie es aussieht. Jedenfalls hängen aus allen Fenstern Gesichter, die uns neugierig bestaunen. Das stört ja nicht weiter; viel unangenehmer finde ich, dass an der Tür ein Posten in der gleichen dunkelblauen Uniform steht, die die beiden gestern in Frankfurt anhatten, und dass, als wir dann drin sind, uns die schon Anwesenden erzählen, wir müssten 14 Tage lang hier bleiben, bevor wir den Stempel kriegten, mit dem wir nach Hause fahren dürften. Sie seien auch schon einige Tage - zwischen drei und zwölf hier . . . Das kann ja niedlich werden; mir ist zwar klar, wozu so eine Quarantäne gut ist, aber - wir hatten uns doch schon so gefreut . . .

Die anderen, die schon im Lager sind, kommen aus aller Herren Länder. USA, Kanada, Frankreich, Marokko, Ägypten, Italien, Australien - da können wir nicht mithalten, zumindest, was Kleidung und Versorgung angeht. Die Kumpels tragen englische und amerikanische Uniformen, auf zivilen Schnitt geändert, und rauchen “Camel” und “Chesterfield” - und wir laufen in “Sowjetski Armi” oder sogar noch “Deutsche Wehrmacht” rum und rauchen unseren Machorka in der “Prawda” . . .

Dafür sind wir aber auch kaum drin im Lager, als mit uns auch schon ein lebhafter Rummel veranstaltet wird. Als erstes zur “Desinfektion” - nichts anderes als unsere gute alte Entlausung, nur, daß einem nach dem Bad mit einem Blasebalg ein grauer Puder unter die Arme und in den Hosenschlitz gestäubt wird – “DDT - das Neueste, was die Amerikaner zur Insektenbekämpfung anbieten”, sagt der Sani. Dann wieder eine Rede darüber, daß und wie sich alle freuen, dass wir, und gerade wir, und ausgerechnet wir gerade jetzt nach Hause kommen, weil es ja viel zu wenig Männer und viel zu viel zu tun gibt, daß wir uns aber erst noch vier Wochen ausruhen dürften, daß uns die Landesregierung viel Glück zum neuen Anfang wünscht, und so weiter, und so fort, kaum einer hört richtig hin - und nur, als der Redner uns alle die Behörden aufzählt, die wir benötigen, um wieder richtig zu Hause sein zu dürfen, wird das Interesse etwas größer.

Anschließend gibt es - zwar noch etwas früh; aber das stört nicht weiter - Mittagessen, und dabei wird wieder jedem ein Brot mit einem Klecks Margarine und einem Löffel Marmelade verabfolgt. Sicher die Tagesverpflegung; aber bisher hat uns noch keiner gesagt, für wie viel Tage die reichen soll, denn dass es hierzulande täglich ein ganzes Brot pro Mann gibt - das wäre zu schön, um wahr zu sein. Das Mittagessen gleicht dem gestrigen wie ein Ei dem anderen; die gleichen Nudeln, und die gleichen Möhren. Nur steht heute auf den Tellern der Name eines großen Dessauer Hotels. - Jedenfalls müssen wir uns an diese Art Mittagessen erst wieder gewöhnen . . .

Nach dem Mittagessen werden uns die Entlassungsscheine, die wir beim Betreten des Lagers abgeben mussten, wieder ausgeteilt, und dann will schon wieder einer zu uns sprechen. Die müssen doch wohl fürs Reden bezahlt werden, denke ich gerade - da sagt der da vorne ganz schlicht und einfach: “Und damit wünsche ich Euch allen gute Fahrt nach Hause, Kameraden; der Entlassungsschein gilt als Freifahrtkarte bis zum Heimatort. Alles Gute und viel Glück!".

Von wegen - 14 Tage Quarantäne . . . Man muss offenbar wohl nur von der richtigen Seite kommen!

Von Apollensdorf nach Wittenberg fahren keine Züge, also heißt es laufen; und auf dem Wittenberger Bahnhof, wo wir den Zug nach Halle erreichen können (wir sind zu zweit, mit mir fährt ein Kumpel aus Querfurt, der hat bis Oberröblingen den gleichen Weg) - da ist der Zug gerade fort, und der nächste fährt erst am späten Nachmittag und wird, sagt uns ein Bahner, sicherlich Verspätung haben.

So schön leer wie gestern der Zug in Frankfurt ist der Zug nach Halle dann nicht; aber als die Leute merken, wo wir herkommen, rücken sie zusammen, und so werden für uns auch noch zwei Plätzchen frei. Dann sollen wir erzählen; aber - was gibt es eigentlich zu erzählen? Wie es uns gegangen ist? Na ja - mal so, mal so - das kann man doch nicht so allgemein mit ein paar Worten sagen . . . Das Essen? Meistens jedenfalls mehr, als man uns bis jetzt hier angeboten hat, zumindest, was die Warmverpflegung angeht . . . Manchmal haben wir mehr gekriegt als die Bevölkerung, fällt mir ein - aber das will keiner glauben . . .

Dann wird es Zeit für das Abendbrot, und wir holen unser Karo einfach heraus (der Aufstrich ist schon in Wittenberg auf dem Bahnhof alle geworden; schließlich mussten wir ja vor lauter Warterei etwas tun, und essen kann man eigentlich immer) und wollen anfangen zu futtern. “Moment mal, Jungens”, sagt eine ältere Frau und kramt aus dem Gepäcknetz eine zugebundene Emaille-Milchkanne. “Hier, schmiert Euch was drauf!”. In der Kanne ist, soweit sich das bei der zittrigen Beleuchtung durch ein Hindenburg-Licht (die Gasbeleuchtung der Wagen geht offensichtlich nicht) erkennen lässt, eine bräunliche breiige Masse, die wir etwas verwundert betrachten. “Prima Marmelade, selbst gekocht, aus Zuckerrüben und Roten Beten”, sagt die Frau und gibt jedem einen Löffel davon auf die Scheibe Brot. Sie will uns damit ganz bestimmt etwas Gutes tun, das merken wir an ihrer ganzen Art; aber das Zeug riecht so widerlich nach gesüßtem Rübenacker, daß es mich sofort an die gefrorenen Wasserrüben erinnert, die wir vorigen Winter in Rjetschitza in der Suppe hatten. Es schmeckt auch fast genauso; sein einziger Vorteil ist, daß es feucht ist. Ohne Feuchtigkeit hat man nämlich mit dem hiesigen Brot (und bei dessen Alter) erhebliche Probleme. Das russische Brot gefiel uns besser . . .

In Halle erkundigen wir uns nach dem nächsten Zug nach Kassel - und erreichen damit, daß uns der Eisenbahner, den wir gefragt haben, ganz verwundert anstarrt. “Wo wollt Ihr hin?”. Ich versuche, ihm klar zu machen, was wir meinen: “Wir suchen einen Zug nach Kassel, über Oberröblingen, Eisleben, Sangerhausen, Nordhausen, Leinefelde . . .”. (Diese Litanei habe ich als Fahrschüler täglich mindestens einmal gehört, sie kommt raus wie bei einem gelernten Zugabfertiger.) – “Na ja, das habe ich schon verstanden”, sagt der Mann, “bloß - nach Kassel fahren von hier keine Züge mehr! Wo wollt Ihr denn nun wirklich hin?”. Als er dann “Querfurt” und “Stolberg” hört, ist er beruhigt. “Kassel liegt doch schon drüben, hinter der Zonengrenze, beim Tommy; unsere Züge fahren nur bis Arenshausen, das liegt gleich hinter Leinefelde, und da ist Endstation. Der nächste Zug fährt so etwa in drei Stunden.”

Also wieder warten . . . “Geht doch solange vor den Bahnhof”, sagt der Eisenbahner, “dort ist in der Baracke die Heimkehrerbetreuung vom Roten Kreuz; wenn Ihr Glück habt, gibt es bei denen sogar einen Schlag Suppe, und auf alle Fälle sitzt Ihr im Warmen.”

Suppe zieht immer, und Wärme wäre eigentlich auch nicht zu verachten; also versuchen wir unser Glück. Die Baracke selbst sieht nicht sehr einladend aus, aber sie ist tatsächlich geheizt, und an dem einen Ende des großen Raumes, in dem lange Brettertische und -bänke stehen, kann man hinter einem großen Ausgabe-Schalterfenster einen dampfenden Kessel sehen. Allerdings haben wir insofern Pech, als warmes Essen nur bis 19  Uhr und Kaltverpflegung nur auf den Entlassungsschein verabreicht wird (steht auf einem Schild über dem Fenster);  na, und unsere Entlassungsscheine haben erst heute früh in Apollensdorf einen Datumstempel mit dem Vermerk “Marschverpflegung erhalten” gekriegt. In dem dampfenden Kessel ist Fleischbrühe; jedenfalls sagt das die Küchenfrau, die uns davon jedem einen Becher voll einschenkt, und “davon könnt Ihr noch mehr haben, davon ist genug da”.

Heiß ist das Zeug ja, und salzig auch; aber es wegen der paar (vermutlich Pferde-) Knochen, die da im Kessel liegen, gleich “Fleischbrühe” zu nennen, erscheint mir etwas gewagt. “Kakerlakenbrühe” wäre wohl richtiger; die ganze Wand hinter dem Kessel und die Decke darüber ist mit einer wimmelnden Schicht dieser unangenehmen Viecher bedeckt, und von Zeit zu Zeit löst sich ein Exemplar daraus und fällt - meistens in den Kessel. Mir kommt die Lazarettküche in Gomel in den Sinn, in der ich im Frühsommer 1946 Heizer und Aushilfskoch war; oh je, wie hätte mich die Njura gescheucht, wenn es da so ausgesehen hätte . . . Aber ich mache mir klar, dass ja so eine kleine Kakerlake in so einem großen Kessel fast verschwindet, und daß sie ja bei der Temperatur siedenden Wassers restlos desinfiziert wird, und hole mir den zweiten und auch noch den dritten und vierten Becher, denn das deutsche Brot kann man eben nicht essen, ohne dazu zu trinken . . .

Der Zug, den wir dann so gegen 21 Uhr erwischen, fährt nur bis Sangerhausen. Also noch einmal mehr auf einen Anschluss warten . . . Es ist grade zu, als ob die Eisenbahn was gegen meine Heimfahrt hätte. Aber immerhin bin ich in Sangerhausen schon beinahe auf heimischem Boden; immerhin ist das die Stadt, in der ich zur Schule gegangen bin und in der wir als Fahrschüler, wenn wir unsere Mittagszüge wegen Fliegeralarm verpasst hatten, stundenlang den “Wartesaal 3. und 4. Klasse” (die “4” hatte man überpinselt) bevölkerten und unsicher machten. Wie viele Teller “Stamm” (Stammgericht, markenfreies Eintopfessen) und wie viele Gläser “Fliegerbier” (alkoholfrei, aber was sonst drin war, wusste keiner) haben wir dort vertilgt!

Wenn Sangerhausen Endstation ist, dann kann ich ja das Aussteigen kaum verpassen; ich steige wieder in das hölzerne Gepäck“netz” und lege mich zum Schlafen zurecht. Der Zug ist ziemlich leer, und daß die wenigen Mitreisenden, die unterwegs zu- und wieder aussteigen, mich da oben etwas verwundert ansehen, stört ja nicht weiter. Schließlich schlafe ich richtig ein und werde erst wach, als wir kurz vor Sangerhausen durch den Blankenheimer Tunnel donnern. Schade, daß es draußen so finster ist, sonst könnte ich jetzt mit der Umgebung gerührtes Wiedersehen feiern; aber so viel ich mich abmühe, ich finde nichts Bekanntes - nicht mal die Bahnhofslichter sind mir irgendwie vertraut, denn ich kenne mich hier ja nur bei Verdunklung aus . . .

Auch mit dem Bahnhof selbst gibt es das “gerührte Wiedersehen” nicht; der existiert nämlich nicht mehr. An seiner Stelle steht eine Ruine, bei der das Ausbauen beim besten Willen nicht mehr lohnt, da hilft nur noch Abreißen (wie ich als Fachmann für solche Abrisse sofort feststelle). Sprengbombenvolltreffer - oder in die Luft gejagt? Nichts mehr mit “Wartesaal 3. und 4. Klasse” - wo der gestanden hat, steht jetzt eine Baracke, und die ist Wartesaal für alle Klassen und ganz wie Baracke eingerichtet - Brettertische und -bänke, ein paar verlaufende Stühle mit ausgefransten Rohrsitzen, ein Tresen mit einer Zapfsäule - aber da schenkt jetzt keiner etwas aus, weder “Fliegerbier” noch etwas anderes. Ist ja immerhin schon so gegen 23  Uhr . . .

Also wieder warten . . . Sitzplatz an einem der Tische findet sich, sind ja nur wenige Leute hier; und so hole ich denn mein Brot aus der Gasmaskentasche und fange an zu essen. Ich bin noch nicht mit der ersten Portion, die ich mir abgesäbelt habe, fertig, da sitzt plötzlich einer neben mir und tuschelt mir etwas zu. Was will der von mir? – “Feuersteine kann´ch Dir besorjen, prima Ware - für Brot, janz jünstich - wirst zufrieden sein!” - Mensch, was soll ich mit Feuersteinen? Da müsste ich ja erst mal ein Feuerzeug haben . . . Ich komme nun schon fast zwei Jahre mit Stahl und Stein und Zunder aus, da ist mit mir kein Geschäft zu machen. – “Zigaretten kann´ch ooch besorjen, aktive, deutsche oder Amis - aber die kosten Jeld!” - Was will der Kerl bloß von mir? Mir reichen die zwei Glas Machorka, die ich beim Umladen in Brest für die beiden letzten 3-Rubel-Scheine gekauft habe, völlig aus. “Komm, Kumpel, schieb´ ab”, sage ich, “mit mir machst Du kein Geschäft!” - Er ist kaum weg, da sitzt ein anderer an seiner Stelle. “Kamerad, schenkst Du mir ein Stück Brot? Ich war auch in Russland!” - Kamerad - und Brot schenken - und der will dort gewesen sein, wo ich herkomme? Kann der mir doch nicht erzählen . . . “Kamerad” haben wir dort schon 1945 nicht mehr zueinander gesagt, und nun noch um Brot betteln? Ist doch gar nicht drin! – “Mensch, zieh Leine!”, sage ich ziemlich grob, “ich bin doch kein Wohltätigkeitsverein!” – und er verschwindet, ohne noch ein Wort zu sagen. Im gleichen Augenblick tut er mir eigentlich leid. Vielleicht hatte er wirklich bloß Hunger? Wenn er jetzt noch mal fragen würde - ich würde ihm was geben. Aber er fragt nicht mehr . . .

An einem der Stützbalken, die das Barackendach tragen, in der Nähe des Ofens sitzt auf der Erde ein einbeiniger Invalide mit einem Schifferklavier, das offensichtlich auch mal bessere Tage gesehen hat, und quält sich und die anderen mit den Tönen, die er dem Instrument entlockt. Er kann scheinbar nur ein einziges Lied, und nur von dessen Refrain beherrscht er den Text mehr oder weniger; und so hören wir den immer wieder “Riieesengebiiirge - deeeuuutsches Gebiieerge - wo der Riieebeezaahl mit seinen Zwerglein . . .” - bis der Musiker es aufgibt, sich auf die Seite rollt und einschläft. Wenn der hier gespielt hat, weil er damit Geld verdienen wollte, hat er sich offensichtlich den falschen Ort ausgesucht; die paar Figuren, die hier rumsitzen, sehen nicht so aus, als ob sie etwas zu verschenken hätten . . .

Kurz nach 24 Uhr drängt sich dann eine Gruppe junge Leute in die Wartebaracke. Sehr lebhaft und sehr ausgelassen stehen sie vor dem geschlossenen Tresen und unterhalten sich. Irgendwie erinnert mich das - aber was heißt hier erinnern, das sind sie! Das sind die Fahrschüler von vor drei Jahren - oder wenigstens einige von ihnen! Klar, der mit der roten Mähne ist der Peter aus Roßla, und der Lange aus Bennungen, und “Kackchen” , und . . . Was machen die denn hier? Was heißt “machen”? Die müssten ja wohl noch zur Schule gehen? Na ja - aber doch nicht nachts um zwölf?

Ich stelle mich unbemerkt zu ihnen und klopfe Peter auf die Schulter. “Entschuldigen Sie, aber Sie kommen mir so bekannt vor?”, sage ich. - Er sieht mich flüchtig an. – “Tut mir leid aber Sie müssen sich wohl irren” - Na ja, vor drei Jahren war ich wohl noch etwas besser ernährt und hatte auch noch mehr Haare auf dem Kopf als heute; etwas anders habe ich da sicherlich ausgesehen. – “Aber nein, mein Herr”, spiele ich das Spiel weiter, “kennen Sie das noch: Lepus - der Hase - sedebat - er saß - in herba - im Grase - edebat - er fraß . . .” - Da schlägt mir der Lange auf die Schulter: “Mööönsch - Sissi! Wo kommst Du denn her! Dass Du noch lebst . . .”.

Das komische Verslein stammt aus unserem ersten Lateinunterricht. Der Lateinpauker hat es uns seinerzeit auswendig lernen lassen, und offensichtlich hat es nun doch zu etwas genützt.

Nun können sich die drei gar nicht genug daran tun, mir - möglichst alle drei gleichzeitig - zu erzählen, was so alles jetzt in der Schule los ist. Der Direx, der mich 1944 “zur Verteidigung des Abendlandes” verabschiedet hat, ist tot - Volltreffer auf sein Haus bei einem Tieffliegerangriff April 1945, bei dem es auch den Bahnhof erwischt hat -  der “Divide”, Studienrat Theile, unser Klassenlehrer, ist raus aus dem Schuldienst und jazzt in irgendeiner Kapelle, der “Fonsch”, der Lateinpauker, von dem das Sprüchlein von vorhin stammt, war im April 45 Volkssturmhäuptling, ist dann mit den Amis abgezogen; von den alten Paukern ist nur der “Urvogel”, der Biologe, noch da. Gut ein Drittel der alten Klasse ist auch mit den Amis mitgegangen, alle die Gutsbesitzerskinder aus der Aue und die Söhne der Stadthonoratioren mit ihren Eltern; dafür ist aber die Mittelschule aufgelöst worden, und die Schüler sind alle zu uns gekommen - aber die kenne ich alle nicht, die sie da jetzt aufzählen. In einem halben Jahr ist Abitur, was dann kommt, weiß noch keiner so richtig; ist eigentlich auch egal, heute war Schülerball, tolle Kapelle, bis 24 Uhr durften wir machen, getanzt wie die Wilden; na, und das Kleid, das die anhatte (ich kenne das Mädchen nicht, muss wohl eine von den Neuen sein) - also, wie die das bloß macht, jetzt, in diesen Zeiten, so ein Kleid . . .

Ich kann mir nicht helfen - ich kann das gar nicht so richtig ernst nehmen, was sie da erzählen. Wir haben in unseren Diskussionen in den letzten drei Jahren oft gesagt, wenn ein Kriegsjahr (bei der Dienstzeitanrechnung für die aktiven Soldaten) für zwei Friedensjahre zählen sollte, dann müsste ein Jahr in Gefangenschaft mindestens dreifach zählen; na, und so komme ich mir auch fast vor, denn dann wäre ich jetzt sechs Jahre älter als meine Ex-Kumpel . . .

Da sitzen sie nun, meine ehemaligen Mitschüler, in diesem total zertöpperten Bahnhof, unter Hungrigen und Schiebern und wer weiß was noch für Leuten, und das wichtigste, über das sie sich unterhalten können, ist das Kleid, das “die” heute Abend anhatte . . . Sie wissen nicht, was sie nach dem Abi machen werden, ob sie studieren oder arbeiten oder was sonst, und als ich in einer Pause in ihrem Gespräch in dieser Richtung nachfrage, bloß so, um zu wissen, was ich mir so für Möglichkeiten ausrechnen kann, da winken sie ab. “Mensch, das ist Politik; damit bleib´ uns vom Leibe - wir wollen erst mal leben!” und “Das bringt nichts ein, man muss die Dinge laufen lassen !”

Dann aber fällt dem Langen etwas anderes ein. Der Zug, mit dem ich um 3  Uhr fahren will, fährt zwar bis Stolberg durch, hält aber zum ersten Mal erst in Roßla, so dass der Lange, um nach Bennungen zu kommen, bis 5  Uhr auf den nächsten Zug warten muss. Wenn ich nun dem Lokführer sagen würde, ich sei aus Bennungen, dann würde der vielleicht dort halten – “Machst Du dabei mit?” - Na klar, warum soll ich ihm die kleine Freude nicht gönnen? Ich lasse mich also mit vorschleppen zur Lokomotive, der Lange erzählt dem Lokführer eine rührselige Geschichte vom “Heimkehrer, der in Bennungen aussteigen möchte” - der mustert mich eingehend und stimmt zu. Hoffentlich merkt er dann in Stolberg nicht, daß ich immer noch im Zuge bin?

Der Zug hält dann tatsächlich wie vereinbart in Bennungen, und der Lange steigt aus. Nachdem die beiden anderen in Roßla auch ausgestiegen sind, bin ich mit mir ganz allein. So schön die unverhoffte Begegnung mit den drei Knaben war - jetzt muss ich ernsthaft über Einiges nachdenken. Irgendwo in mir hat es nämlich die ganzen drei Jahre die stille Hoffnung gegeben, nach der Entlassung dort weiter machen zu können, wo ich 1944 aufgehört habe: Schule zu Ende bringen, Abitur machen, studieren . . . Das kommt mir jetzt aber fast unmöglich vor. Mir fehlen bis zum Abi noch fast drei Jahre; soll ich die mit solchen kleinen Jungen auf einer Schulbank verbringen? Halt - die, mit denen ich dann zur Schule gehen müsste, wären ja noch drei Jahre jünger, also erst 15 Jahre - das wäre ja fast ein Opa im Kindergarten . . .Das will wirklich reiflich überlegt sein.

In Berga steigt ein älterer Mann in mein Abteil, der auf seinem Mantelaufschlag ein kleines rotes Dreieck aus Emaille trägt. So viel weiß ich schon - das ist das Abzeichen der politischen Häftlinge in den KZs gewesen. Er mustert mich und meinen ungewöhnlichen Anzug - Russenmantel, Budjonnymütze, Gasmaskentasche - eingehend und fragt dann: “Heimkehrer? Aus Russland?” - und dann soll ich wieder mal erzählen. Was sich die Leute immer so denken - erzählen . . .? Als ob man die drei Jahre hinter mir so einfach auf zehn oder zwanzig Minuten zusammenpressen könnte . . .

Er will aber scheinbar unbedingt etwas von mir hören, und so fragt er mich aus. Ich antworte, so gut es geht; aber es ist merkwürdig: Was den Leuten von Frankfurt bis hierher nicht so recht glaubhaft vorkam, weil sie sich russische Gefangenschaft ganz furchtbar vorzustellen scheinen, das ist dem Kumpel hier nicht schön genug. So kann es einfach nicht gewesen sein, es muss mir doch besser gegangen sein . . . Als wenn drei Jahre hinter Stacheldraht überhaupt irgend wie gut sein könnten . . . Ich kann dem da vor mir doch nicht, nur, weil er dieses rote Dreieck trägt und offensichtlich viel für die Russen übrig hat, erzählen, es flössen dort Milch und Honig - wenn ich doch immer nur in zerstörten Städten und gesprengten Fabriken gewesen bin! Ich bin mir zwar sicher, dass die dort alles tun werden, was sie können, um wieder Ordnung in ihr Leben zu bringen; aber bis jetzt haben sie die eben noch nicht, wenn es mir auch scheint, als ob sie in einigem weiter sind als die hier zu Hause . . .

Dann rollt der Zug hinter Rottleberode ins Tal hinein, und nun kann ich einfach nicht mehr sitzen bleiben; ich muss ans Fenster und sehen, was da draußen los ist, auch, wenn man durch die kleinen Gucklöcher nur recht wenig zu sehen kriegt. Immerhin habe ich seit fast drei Jahren keinen richtigen Berg mehr zu sehen gekriegt . . . Es ist zwar immer noch fast dunkel da draußen, aber diese Strecke bin ich so oft gefahren, daß ich bei jeder Kurve auswendig weiß, welcher Berg jetzt auf der linken und welcher auf der rechten Seite liegt - und jeder davon ist wieder ein Schritt näher nach Hause . . .

Dann fährt der Zug plötzlich langsamer und immer langsamer – “Aha”, denke ich, “die Steigung 1:45 am Karlshütter Teich” - an der haben die Lokomotiven schon immer zu tun gehabt; aber daß der Zug dort ganz stehen geblieben oder gar rückwärts gefahren wäre, wie es jetzt geschieht - das gab es früher nicht. “Nanu”," sage ich verwundert, und der Kumpel erklärt: “Keine Steinkohle, und die Rohbraunkohle gibt nicht genügend Hitze, da reicht der Dampf oft nicht, und die Loks sind den ganzen Krieg nicht überholt worden. Jetzt stehen wir solange, bis der Druck wieder reicht, und dann versucht der Lokführer es mit Anlauf noch einmal.”

Nach einer Verschnaufpause für die Maschine schaffen wir die Steigung dann tatsächlich, und wenig später laufen wir in den Bahnhof ein. Der ist noch vollständig erhalten, nicht so ramponiert wie der in Sangerhausen; es ist etwa 5 Uhr, und als ich aus dem Bahnhofsgebäude auf die Straße trete, fängt es ganz sachte an zu schneien.

Nun muss ich doch lächeln. Im Sommer 1945, als das Problem, hinter Stacheldraht zu leben, für uns noch etwas völlig Neues war, die Parolen mit den Heimfahrt-Terminen wie die Pilze aus der Erde schossen und die Frage “Wann sind wir zu Hause?” das universelle Gesprächsthema überhaupt war - da habe ich wenigstens ein halbes Dutzend Mal geträumt, ich käme nach Hause und es begänne zu schneien. Es schien ja damals so logisch, dass wir den Winter 1945/46 zu Hause erleben würden . . . Nun hat mein Traum sich sogar erfüllt - allerdings mit einer kleinen Korrektur: wir haben nicht Winter 1945/46, sondern Winter 1947/48, volle zwei Jahre später . . .

Meine Befürchtungen aus dem Frühjahr 1945 scheinen jedoch umsonst gewesen zu sein. Zwar meldete damals am 17. April der Wehrmachtsbericht “schwere Kämpfe an den Zugängen zum Harz”, und ich habe seitdem Hunderte von Malen gegrübelt, ob damit wohl unser Tal gemeint gewesen sein könnte - aber nun stelle ich fest: Es ist alles heil. Wenn hier überhaupt gekämpft worden ist, dann jedenfalls nur vorübergehend und nicht schwer. Wahrscheinlich hat sich damals jemand diese Kämpfe gewünscht, aber stattgefunden haben sie offensichtlich nicht.

Unter solchen Überlegungen bin ich nun auch mit den über 100 Treppenstufen vom Markt zum Schloss hinauf fertig geworden (es gab Zeiten in den letzten Jahren, da war ich dem Treppensteigen so entwöhnt, daß ich mich vor diesem Weg regelrecht gefürchtet habe) und stehe vor der Haustür, hinter der meine Leute jetzt wohnen. Klingelknopf - draufdrücken - ob die Klingel wohl geht? War doch sonst meine Aufgabe, so etwas in Ordnung zu halten . . . Sie geht aber, das ist zu hören; oben geht ein Fenster auf, jemand fragt: “Wer ist da, bitte” - und als ich darauf etwas verdattert “Ich . . .” antworte (wie soll man auf so eine Frage sonst so schnell reagieren?) - Da geht im Hause ein ziemlicher Trubel los. Wäre sicher besser gewesen, ich hätte mich vorher anmelden können . . .