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........und Lernen

Vor den Olympischen Spielen hatte mir der April des Jahres 1936 noch zwei andere Ereignisse beschert, ich war mit zur „Erstkommunion“ gegangen und hatte die Schule gewechselt. Zwar hatte Rektor Mertens, der immer pflichtgemäß die Hand zum „Deutschen Gruß“ hob aber dazu „Guten Tag“ murmelte, meinen Eltern vorgeschlagen, wegen meines Alters noch ein Jahr zu warten und mich dann aufs Gymnasium zu schicken, doch das wollte ich nicht. Ich wollte unbedingt und mit aller Gewalt dahin, wo mein Vetter Hubert schon seit einem Jahr war, auf die Elberfelder „Knaben-Mittelschule Nord“! 

Stolz lief ich nach bestandener Aufnahmeprüfung mit der grünen Schülermütze herum, wollte ein Jahr später auch noch die blaue für das zweite Schuljahr haben, da kam das Verbot für diese alte Tradition, durch die man in Form und Farbe die verschiedenen höheren Schulen und die Jahrgänge erkennen konnte. Nun hieß es, Mützen, mit denen man sich von anderen jungen Leuten gewissermaßen „elitär“ absetzte, passten nicht mehr in die Zeit. Es sollte nur noch eine einheitliche Kopfbedeckung geben, die Mütze der „Hitler-Jugend“. 

Der Hitler-Jugend gehörte ich schon seit Anfang 1936 an. Ich war Vetter Hubert nicht nur auf die Schule gefolgt, er, der mehr als ein Jahr ältere hatte mich auch vorher schon einige Male nachgezogen: Kindergarten, Pfadfinder, Fußballverein, Messdiener, und nun wollten wir eben gemeinsam in die Hitler-Jugend, genauer, in das „Deutsche Jungvolk in der Hitler-Jugend“. Die „Katholische Pfadfinderschaft St. Georg“ gab es nicht mehr, sie war wie alle anderen  bündischen Jugendorganisationen zwangsweise aufgelöst worden und nun war da für uns vermutlich eine Freizeitlücke entstanden, die wir wieder schließen wollten. 

Unsere Väter hatten uns nach anfänglichem Zögern eigentlich überraschend ihre Zustimmung gegeben und so gingen wir an einem Nachmittag zum HJ-Heim in einer ehemaligen Schule in der Marienstraße. Wir meldeten uns bei dem für unsere Straße zuständigen Jungzugführer Rudi Hemmelmann und wurden ohne weitere Formalitäten aufgenommen. Der Mitgliederstand war zu diesem Zeitpunkt noch recht gering. Erst als ein Gesetz Mitte 1936 die Hitler-Jugend zur einzigen Jugendorganisation in Deutschland erklärte, kam es zu einer weitgehenden Erfassung, der sich kaum ein Jugendlicher entziehen konnte.  Das ärgerte uns, denn wir waren nun nicht mehr in einer freiwilligen, selbstgewählten Gemeinschaft, jetzt gehörten plötzlich fast alle dazu. 

Weitaus Schlimmeres stand uns aber noch bevor. Schon als zehn- oder elfjährige Knaben schätzten wir möglichst kurze Kniehosen. Wer Hosen trug, in die er noch ein paar Zentimeter hineinwachsen konnte, trug „Hosen mit Knieschonern“ und wurde mit Hohngelächter entsprechend gehänselt. Deshalb war es für uns fast entwürdigend, wenn wir im Winter lange Wollstrümpfe anziehen mussten, die an ein Leibchen geknöpft wurden. Protest half nichts, die meisten Eltern waren fest davon überzeugt, aus gesundheitlichen Gründen darauf  bestehen zu müssen. 

Es gab daher einen ungeheuren Aufschrei, als wir völlig unerwartet in der HJ angewiesen wurden, die kratzigen Dinger an kalten Wintertagen auch zur Uniformhose zu tragen. Harte Jungs sollten, wollten wir werden und dann so etwas, wir hätten uns lieber den Hintern abgefroren. Unser Gezeter änderte nichts, es gab einen klaren Befehl von oben, der unteren Führerebene sollten unangenehme und schwierige Auseinandersetzungen mit besorgten Eltern erspart bleiben. 

Aber etwas konnten wir gelegentlich doch erreichen, wenn wir weit genug weg waren, durften wir die „Kommunionstrümpfe“ nach unten rollen. Zum Glück kam im folgenden Jahr die schwarze Skihose in Mode. Sie wurde bald Bestandteil der Winteruniform und konnte auch außerhalb des HJ-Dienstes getragen werden. Der Kampf gegen die Wollstrümpfe war damit endgültig gewonnen. 

In  meinen Unterlagen habe ich nicht ein einziges Bild von mir in HJ-Uniform gefunden. Das ist erstaunlich, denn Gelegenheiten zu Aufnahmen hat es sicher reichlich gegeben. Aber die Erinnerung an diese Zeit ist geblieben, die vielen Lieder, die wir aus voller Lunge gesungen haben und deren wirklicher Sinn uns damals häufig verborgen blieb, die Spiele, die  Sportfeste, die Zeltlager, die Jugendherbergen, in der Gemeinschaft fühlten wir uns irgendwie stark und sicher. 

Es störte meinen Vetter Hubert und auch mich nicht, dass wir gleichzeitig Messdiener waren. Wenn wir  öffentlich in der Laurentius-Prozession mitzogen und am Straßenrand feixende Kameraden vermuteten, beschlich uns zwar ein etwas unbehagliches Gefühl, aber zu irgendwelchen Beschimpfungen oder Benachteiligungen ist es nie gekommen. Wir waren ja nicht die einzigen Kirchgänger und auch unter den Führern gab es gute Katholiken. Kleine Sticheleien, Witze, ja, aber das oberste Gebot hieß Kameradschaft. Hatte nicht der Alte Fritz gesagt, jeder solle nach seiner Façon selig werden?! Und eines war besonders wichtig: Für einen Krieg würde man alle brauchen, als Soldaten, nebeneinander, nicht gegeneinander. 

Der Dienst in der Hitler-Jugend blieb ja außerdem auf relativ wenige Stunden beschränkt. Eine totale Inanspruchnahme war es jedenfalls nicht. Wir hatten genügend Zeit für viele andere Freizeit-Aktivitäten, auf der Straße, im Sportverein, im Freundeskreis. Ja, und dann waren da noch die Kinos, mit Sicherheit habe ich in den Elberfelder Lichtspielhäusern wöchentlich mehr Stunden verbracht, als im „Jungvolk“. Mit dem Übergang vom Jungvolk zur Hitler-Jugend, war es 1940 ohnehin vorbei mit dem Interesse. Nach den Jahren des kindlichen Aufbruchs in eine neue Zeit, verlor die Organisation für mich jede Bedeutung. Aus den Pimpfen-Klamotten war ich raus gewachsen und für eine neue Uniform hatte ich im Krieg sowieso keine Bezugscheine zur Verfügung, Zivilkleidung war wichtiger. 

Natürlich waren auch in der Schule Unterricht und Rahmenprogramm staatstragend aufgebaut. „Flaggenparaden“ bei besonderen Gelegenheiten, vor allen Dingen vor und nach den Ferien, Filme und Vorträge zur nationalsozialistischen Weltanschauung, gemeinschaftlicher Empfang von Führerreden, eben alles, was den nationalsozialistischen Zielen diente. 

Nach einer solchen Führerrede wäre einem Klassenkameraden beinahe ein recht leichtsinniges Verhalten zum Verhängnis geworden. Beim Verlassen der Aula hatte er mitten im Gedränge eine Stinkbombe fallen lassen. Es war allerdings nicht der üble Geruch der zu einer groß aufgebauschten Tätersuche führte, es war der dringende Verdacht, dass hier gegen „unseren Führer“ gestänkert werden sollte. Irgendwie kriegte man den Übeltäter raus und nur mit großer Mühe konnte von einigen wohlwollenden Lehrern der Verweis von der Schule abgewendet werden. 

Unser Lehrer „Eu“ Voss brachte eines Tages zum Deutsch-Unterricht einen Stapel Zeitschriften mit.  Ich weiß den Titel nicht mehr, aber die Geschichten und Berichte in diesem nun regelmäßig erscheinenden Druckerzeugnis waren in ihrer Tendenz ganz stramm auf „nationalem“ Kurs und sollten im Unterricht gemeinsam gelesen werden. In jeder Folge stand eine Erzählung unter dem Titel „Till ist wieder im Lande!“. Und dieser Till war ein Ausbund an Intelligenz und Schlagfertigkeit, mit Patentrezepten für den Umgang mit Leuten, die vielleicht aus Dummheit den einzig richtigen Weg doch noch nicht so ganz verstanden hatten. 

Im Gedächtnis geblieben ist mir die Geschichte, in der eben dieser Till mit einem Nachbarn über die Juden redete. Der Bekannte wollte nicht alle über einen Kamm scheren und vermutete, es gäbe doch schließlich auch anständige Juden. Als der Mann am nächsten Tag auf die Straße  kam, sah er, wie Till mit einer Laterne in seiner Hand in alle Haustüren und Kellerfenster leuchtete. Was er denn da am hellen Tag mit einer Lampe um alles in der Welt nur suche, wollte der Nachbar wissen. „Ich suche einen einzigen anständigen Juden!“, war die Antwort. So etwas sollte natürlich nicht nur gelesen, es musste auch verstanden werden. 

Ohrfeigen verteilen konnte unser „Eu“ mit einer leicht gekrümmten Handstellung, die immer eine große Fläche im Gesicht erreichte. Als er nach einem Bruch des Mittelhandknochens wieder zum Unterricht kam, hatte seine Hand sogar diese Krümmung als Dauerform angenommen. Mir hat er auch einige leichte Hinterkopfschläge verpasst. Er wollte nämlich unbedingt meine miserable Handschrift verbessern und glaubte, dass die erste Voraussetzung hierfür eine bessere Haltung des Füllfederhalters sein könnte, ich würde nämlich mit der Feder immer nur auf einem Balken  schreiben. Bei Schreibarbeiten schlich er sich deshalb leise von hinten heran, schaute mir über die Schulter, schlug leicht zu und murrte: „Du schreibst ja schon wieder auf einem Balken!“.

Um den ständigen „Schlägen“ und Meckereien zu entgehen, kaufte ich mir einen Füllhalter mit Glasfeder. Das merkte er aber erst, als er gewohnheitsmäßig schon wieder zugeschlagen hatte und ich ihm wortlos die Glasfeder entgegen hielt. Er murmelte arg überrascht etwas vor sich hin, hat mir aber diese „Verlade“ übel genommen. Schade übrigens, dass seine berechtigten Bemühungen fruchtlos geblieben sind, meine Handschrift war, ist und bleibt miserabel. Schuld daran ist sicher die merkwürdige, steife „Sütterlinschrift“,  die wir in den ersten Jahren auch in der Mittelschule im Deutschunterricht immer noch verwenden mussten. 

Rektor Plümer langte zu, wenn man ihm wiederholt die vorgegebenen Geschichtszahlen nicht nennen oder erklären konnte. Seine Schläge waren kurz und trocken, im Ansatz nicht erkennbar, man konnte nicht einen Millimeter ausweichen. Bekam man von ihm eine „Brammelte“, so hießen die Dinger volkstümlich, saß sie immer mitten im Ziel.

„Religionskriege“ wurden auch in der Schule nicht ausgetragen. Die Freundschaften und Seil-schaften gingen quer durch die Konfessionen. Unser Französisch-Lehrer, ein frommer Katholik, pflegte immer dann, wenn er mit seinem Unterricht die erste Tagesstunde belegte, gemeinsam mit den Schülern das „Vater unser“ zu sprechen: „Heil Hitler und jetzt wollen wir beten!“. Für die „Evangelischen“ fügte er „..denn Dein ist das Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit“ hinzu. Der schon ältere, überaus gutmütige Herr, trug keine Brille, sondern einen Kneifer, keine normale Jacke, sondern einen Gehrock, was alleine schon höchst altbacken wirkte, und dann hatte er noch einen sehr merkwürdigen, an Charly Chaplin erinnernden Gang. 

„Schlabber“ wurde er ausnahmslos von allen Schülern immer nur genannt. Seinen richtigen Namen, Hermes, verwendete man nur, wenn man mit ihm sprach. Seine Gutmütigkeit wurde im Übrigen rücksichtslos ausgenutzt. In manchen Situationen verlor er völlig den Überblick und lief dann, mit dem Rohrstock ziellos nach rechts und links schlagend, durch die „muhende“ und „buhende“ Klasse. Kehrte wieder Ruhe ein, drohte er,  gemeinsam mit dem Klassenlehrer dafür zu sorgen, dass alle Rüpel kurzerhand von der Schule entfernt würden. „Dann haben wir eben nur noch fünfzehn oder sechzehn Schüler in der Klasse, aber dafür alles anständige Jungen!“

Mit Franz Kiel hatte ich schon in der Volksschule in einer Klasse gesessen, inzwischen waren wir beide auch Messdiener in der Kapelle des „Sankt-Anna-Lyzeums“. Lehrer Hermes wohnte  in der Nähe des Lyzeums und gehörte zu den regelmäßigen Besuchern der auch für die Öffentlichkeit zugänglichen kleinen Kirche. Dabei begegneten wir ihm recht häufig. Er hielt uns als Messdiener nicht nur in der Kirche, sondern auch im täglichen Leben für anständig und ehrlich. Deshalb betraute er uns mehrfach damit, die Hefte mit den frisch geschriebenen Arbeiten von der Schule zu ihm nach Hause zu bringen. Wir haben das natürlich rücksichtslos ausgenutzt und auf einer Bank am Schusterplatz noch korrigiert, was zu korrigieren war, in aller Eile, denn wir mussten für den Weg ja in einer angemessenen Zeitspanne bleiben. Reichte die Zeit, „prüften“  wir auch noch andere Hefte. 

Lehrer Kesper wollte die Klasse nicht von den Rüpeln befreien, sondern von den Dummen. Wenn einer seinen Anforderungen nicht genügte, baute er sich vor ihm auf, zog mit dem rechten Daumen den Hosenträger mehrfach nach vorne, ließ ihn gegen das Hemd klatschend zurückschnellen und sagte eindringlich: „Junge, das hat doch keinen Zweck, das schaffst Du doch nie. Schade um das schöne Schulgeld, soll sich Deine Mutter doch lieber ein neues Kleid kaufen, oder Dein Vater eine neue Hose!“  Klatsch, knallte der Hosenträger auf sein Hemd. 

Geschichten wie die vom „Till“, hätte ein anderer Lehrer, der unsere Klasse im Deutschunterricht nur vertretungsweise betreute, mit Sicherheit nicht für unterrichtswürdig gehalten. Er lästerte über das schlechte Deutsch in so manchen „nationalen“ Liedern und hatte zu der geltenden Weltanschauung eine kritische Distanz, von der er selbst im Unterricht keine Abstriche machte. Das führte zu einigem Ärger bei staatsbewussten älteren Schülern und bei manchen, von ihren Kindern orientierten Eltern. 

Einige Zeit hielt noch unser Rektor, ein überzeugter Nationalsozialist und, so hieß es, einer der bekanntesten deutschen „Geo-Politiker“, seine Hand über seinen Kollegen. Dann sollen angeblich mehrere Schüler der obersten Klasse Gewissensbisse bekommen und über die Hitler-Jugend eine Anzeige erstattet haben. Die Gestapo schaltete sich ein, der Lehrer wurde verhaftet, verurteilt und aus dem Schuldienst entfernt. Er hat allerdings den Krieg  überlebt und wurde nach 1945 als Schulleiter eingesetzt. Einen „Persilschein“ hat er seinem Vorgänger allerdings nicht ausgestellt, im Gegenteil.

Als großes Ereignis für Eltern, Lehrer und Schüler, veranstaltete die Schule  zwei Schiffsausflüge auf dem Rhein, 1937 von Düsseldorf nach Königswinter und 1939 von Bonn nach Koblenz. Die Fahrt nach Koblenz hat Lehrer Alfred Kremer in einem Fim festgehalten. Leicht verstaubt auf einer DVD gesichert, ist er unter folgender Adresse bei YouTube abrufbar:

www.anicursor.com/Klassenfahrt.html    

Die Qualität der Bilder ist zwar nicht besonders gut, was aber zählt, ist die Erinnerung an einen schönen Ausflug, kurz vor Beginn des "Zweiten Weltkriegs".  

Ich glaube es war im Sommer 1937, da verbreitete sich in der Stadt wie ein Lauffeuer das Gerücht, der „Führer“ kommt nach Elberfeld und spricht vom Rathausbalkon zur Bevölkerung. Da hieß es für unsere Straßenclique natürlich sofort „nichts wie hin“, das durften wir uns nicht entgehen lassen. Nur, das dachten sich auch viele andere und in Richtung Rathaus entwickelte sich eine wahre Völkerwanderung. 

Auf dem Neumarkt, in den umliegenden Straßen, standen die Menschen bald dicht gedrängt und die Polizei hatte Mühe, das Ganze im Griff  zu halten. Die Stimmung war mächtig aufgedreht, immer wieder skandierte die Menge Sprüche, Lieder wurden gesungen, wie: „Nach Hause, nach Hause, nach Hause geh`n wir nicht, bis dass der Führer spricht...!“ 

Allerdings kam der nicht, wie sich später herausstellte war er noch nicht einmal in der Nähe. Es fiel aber keinem „Höheren“ ein, die Leute nach Hause zu schicken. So hielt die Menge voller Hoffnung unentwegt aus und es wurde immer später. Schließlich, meine Kumpels hatte ich in der Dunkelheit längst aus den Augen verloren, blieb mir nichts anderes übrig, ich musste auf den großen Augenblick verzichten und versuchen nach Hause zu kommen. Es war zwar nicht einfach durch die Menschenmenge und die Polizeiabsperrungen zu kommen, aber ich schaffte es irgendwie. 

An der Klotzbahn begann ich zu laufen, denn langsam wurde mir klar, was mich erwartete. Bis dahin hatte ich mich immer noch an den Gedanken geklammert, dass man mir die “Begegnung“ mit „unserem Führer“ als wichtigen Grund freundlich abnehmen würde. Das mussten die Eltern doch einfach verstehen, wie wichtig das war. Aber ohne ihn...? 

Als ich in der Hochstraße die Ecke Hombüchel erreichte, kam mir mein Vater entgegen. Dem ängstlichen Drängen meiner Mutter hatte er nachgegeben und sich auf die Suche machen wollen, was in Anbetracht der Menschenmassen eigentlich dem Forschen nach einer Stecknadel im Heuhaufen gleichgekommen wäre. Mir fiel das Herz in die Hose, weil ich eine sofortige Reaktion befürchtete. Mein Vater atmete aber nur ganz tief durch und machte wortlos kehrt. 

Ich schlich mit schlechtem Gewissen neben ihm her und wartete auf das häusliche Strafgericht. Das ging dann aber schon hinter der Haustüre und nicht erst in der Wohnung los. Vielleicht wollte er die Geschichte ohne meine „Schutztruppen“ hinter sich bringen, was aber gründlich misslang. Ehe er richtig beginnen konnte, erschien meine Mutter und da ja beide im Grunde froh waren, mich unbeschädigt wieder zu haben, pfiff die Luft raus, noch ehe der Ballon halbwegs aufgeblasen war. 

Am nächsten Tag erzählten sich dann wieder alle, Adolf Hitler käme sowieso nicht nach Wuppertal. Auf einer Fahrt zu einer Veranstaltung im Stadion habe man ihn 1932 nämlich im sogenannten „Bettjackenviertel“ mit dem Inhalt von Nachttöpfen beworfen, das werde er den Wuppertalern nie verzeihen. Den hübschen Namen hat ie im Elberfelder Westende neben den Bayer-Werken gelegene Gegend deswegen erhalten, weil hier die Frauen früher den ganzen Tag in den Fenstern gelegen haben sollen, und zwar im Nachtgewand, in der Bettjacke eben. 

Zeit für alle möglichen Unternehmungen hatten wir Jungs in den frühen Jahren vor allen Dingen in den Ferien. In Urlaub fuhr aus unserem Kreis kaum einer und wenn, dann höchstens zu Verwandten. Wir freuten uns daher alle sehr, als die „Caritas“ für die Kinder der Pfarrgemeinde St. Laurentius im August 1937 eine Ferienreise nach Aulhausen bei Assmannshausen organisierte. Das waren vier richtig schöne Wochen im St-Vincenz-Stift, bei liebevoller Betreuung und lockerer Disziplin. Schon die Eisenbahnfahrt am Rhein entlang war ein Erlebnis für sich. Das Baden im „Rheinschwimmbad“ in Assmannshausen, der Besuch des Niederwald-Denkmals, die Ausflüge zu sonstigen Sehenswürdigkeiten, gutes Essen, einfach Ferien erster Klasse. 

Kloster und Stift waren eigentlich für die Behandlung geistig behinderter Menschen eingerichtet. Da aber die potentiellen Patienten, vom Staat als „unwertes Leben“ eingestuft, von den Krankenkassen keine Zuschüsse mehr bekamen, beschränkte sich der Kreis der Insassen auf gerade noch ein Dutzend Menschen, deren Angehörige es sich leisten konnten, den Daueraufenthalt zu bezahlen. Wir hatten also reichlich Platz in den Gebäuden. 

Im Sommer 1938 verschlug es mich für fünf Wochen nach Schalksmühle, in ein städtisches Landschulheim. So richtig angenehm war es da nicht, alles musste genau nach Plan ablaufen, korrekt und pünktlich vom Wecken bis zum „Einschlafbefehl“. Beim Wecken sofort aus dem Bett zu springen war noch nie mein Fall. Aber abgesehen davon, ein zweites Mal wäre ich da nie und nimmer hingefahren.

Mobil wurden 1938 auch die Wuppertaler Karnevalisten. Neben einigen Sitzungen organisierten die Karnevals-Gesellschaften, unterstützt von der Werbegemeinschaft, einen Rosenmontagszug, der fortan im jährlichen Wechsel von  Elberfeld nach Barmen oder umgekehrt ziehen sollte. 

Ein Jahr später gab es am Rosenmontag sogar die Eroberung des Elberfelder Rathauses. Meine Schwester Änne gehörte zu der in rot-weiße Seidenanzüge gekleideten Garde, die durch einen Stacheldrahtverhau für die Karnevalsregentin, das „Wuppertaler Mädchen“, den Weg ins Rathaus freikämpfen musste. Sie war hinterher schwer betrübt, weil sie sich an einem Drahtende die schöne Plusterhose zerrissen hatte. Beim „Sturm“ habe ich sie nicht gesehen, aber im anschließenden Rosenmontagszug. Ich erinnere außerdem noch zwei Wagen, einen, auf dem wütende Hausfrauen mit schweren Hämmern den Schornstein des Barmer E-Werks umlegten, weil der ihnen mit seinem Qualm stets die zum Trocknen aufgehängte Wäsche „versaute“, und  einen anderen, der sich mit dem möglichen, zahlreichen „Nachwuchs“ der in den neuen Kasernen am Freudenberg untergebrachten Soldaten des Artillerie-Regiments 76 beschäftigte: „Mein Papa ist am Freudenberg!“. 

Am  Abend dieses ereignisreichen Tages durfte ich noch mit meinen Eltern zu einer „Sitzung“ der Karnevalsgesellschaft „Kie-Zoo-Hei“ in die Elberfelder Stadthalle. Ob die Redner und Sänger gut waren, weiß ich nicht mehr. Aber ein Lied aus jener Zeit ist mir über die Jahre im Kopf geblieben: 

Es fährt so manches stolze Schiff durch Meere, durch die Lüfte,
wie oft zerschellt´s am Felsenriff, stürzt ab in tiefe Klüfte.
Das einz´ge Schiff auf dieser Welt, das niemals sinkt und runter fällt          und dennoch schaukelt wie ein Kahn, das ist die Schwebebahn: 

Willst Du froh durchs Leben schweben, schwebe mit der Schwebebahn,
lass Dich über Wellen heben, von dem Wupper-Aeroplan.
Schwebe wo die Berge streben, schwebe wo die Mädchen weben,
schwebe, schwebe, schwebe mit der Schwebebahn,
schwebe, schwebe, schwebe mit uns`rer Schwebebahn! 

Leider muss man das mit dem Runterfallen seit dem Unfall im April 1999 wohl etwas differenzierter sehen. Vier Tage vor diesem Unglück hatten wir noch bei unserem jährlichen Klassentreffen im „Alten Kuhstall“ am Zoo über die Schwebebahn gesprochen und mir war  eingefallen, wie unser Lehrer Krämer uns im Unterricht überzeugend erklärt hatte, warum die Schwebebahn nicht abstürzen könne. 

Nicht gerade „in tiefe Klüfte“, aber brennend abgestürzt war dagegen das stolze Luftschiff „Hindenburg“ am 6. Mai 1937 in den USA. Die Katastrophe von Lakehurst erschütterte damals das ganze Volk. Tagelang wurde über nichts anderes gesprochen. Noch wenige Monate vorher hatten die beiden Zeppeline „Hindenburg“ und „Graf Zeppelin“ gemeinnsam auf einem Rundflug über Deutschland auch in Wuppertal die Menschen begeistert. Es war wunderschön anzusehen, wie die beiden riesig wirkenden Luftschiffe silbrig glänzend und fast geräuschlos in niedriger Höhe langsam durch das Tal schwebten.    

Den Musiktitel "Lebenslauf" komponierte und spielt Fredy Dörpinghaus