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Dies ist die Geschichte des Mädchens von dem man sagte, es träume zu viel. Es ist aber auch eine Geschichte des Lebens und Überlebens in zehn Jahren vor und zehn Jahren nach der Stunde Null.   

                                        Nie wieder flüchten

                               Auszüge aus dem Buch

                        Mädchenjahre von Ingrid Luise Dobrick

Drei Tage vor dem Weihnachtsfest 1935 wurde ich in Kiel geboren. Mein Vater war enttäuscht, dass sein erstes Kind nur ein Mädchen war und nicht der von ihm selbstverständlich erwartete Sohn. Galt doch die Geburt eines Mädchens zu der Zeit als zweite Wahl. So sehr meine Mutter fortan auch hoffte, ihm endlich den ersehnten Sohn schenken zu können, wurden in den folgenden Jahren 1937 und 1939 wieder nur Mädchen geboren, meine Schwestern Gudrun und Wiltrud. Ich war also die Älteste des Drei-Mädel-Hauses, wie unsere Familie fortan leicht spöttisch genannt wurde. Der Zeitpunkt meiner Ankunft war nicht glücklich gewählt, denn meine Mutter war noch vor ihrer Eheschließung mit mir schwanger. Da blieb meinen Eltern nur, das Datum der Hochzeit so schnell wie möglich festzusetzen, damit das Baby, wenn auch als Siebenmonatskind, gerade noch ehelich geboren wurde. Aus einem verliebten Pärchen wurde so vorzeitig und ungeplant ein Ehepaar mit Kind und Geldsorgen.  

Meine Eltern 1935Meine Mutter Anna Maria Voss war jung, knapp 20 Jahre, Walter Otto Johannes Schröder, mein Vater, fünf Jahre älter. Anna-Maria war bis zu ihrer Heirat in Stellung, wie man das Dienstmädchendasein damals nannte. Walter Otto Johannes diente als einfacher Berufssoldat, sein Sold reichte kaum für die neue Familie die nach der Heirat eine kleine Dienstwohnung in Kiel-Holtenau bezog, wo ich in der Garnisonskirche getauft wurde. Mein Vater absolvierte alle möglichen vom Militär angebotenen Schulungen, um schneller in einen höheren Dienstgrad befördert zu werden, was natürlich mehr Geld für seine Familie bedeutete. Denn schon nach kurzer Ehezeit erwarteten meine Eltern das zweite Kind, meine Schwester Gudrun.

Als ich ungefähr ein Jahr alt war, wurde mein Vater nach Pommern versetzt, zu einem Fliegerhorst auf der Ostseeinsel Wollin, die heute polnisch ist. Eine kleine Dreizimmerwohnung im Erdgeschoss eines schmucklosen kasernenartigen Hauses im Fischerdorf Dievenow, für Militärangehörige erbaut, wurde unser Heim. Hinter dem Haus hatte jede Erdgeschoßfamilie einen kleinen Garten, in dem sich manchmal im Sommer zu meinem riesengroßen Schrecken die von meiner Mutter frisch gekauften, lebenden Aale auf dem Rasen krümmten, sie zuckten sogar noch beim Braten in der Pfanne.

Sommer 1938Meeresrauschen - Geruch nach Ostseewasser, frischem und geräuchertem Fisch. Die Fischer am Hafen in ihren schweren Holzbooten mit den braunen Netzen, behängt mit fußballgroßen, märchenhaft rubinrot, flaschengrün und sonnengelb schimmernden Glaskugeln. Der Strom Dievenow mit der Holzfähre, die an einem durch das Wasser laufenden Seil ans andere Ufer gezogen wurde und beide Ortsteile miteinander verband. Die Fährfahrten entzückten mich immer wieder aufs Neue, denn ich liebte das Wasser.

Hinter einem dunklen Kiefernwald und einer langen Promenade der breite Strand mit Sand so fein und weiß - noch als Erwachsene träumte ich davon. Im Sommer leuchteten bunt gestreifte Strandkörbe. Einer dieser bequem gepolsterten Sitzkörbe bot unserer Familie ein komfortables Sommerzuhause, von unserer Mutter Jahr für Jahr von Mai bis September gemietet. Nur wenige Minuten gingen wir von unserer Wohnung zum Strand. Wir spielten am Meeresrand mit Quallen, die wir in Eimerchen mit Sand verrührten oder ließen Schiffchen in Kanälen schwimmen. Und abends nach so einem langen Strandtag verspeisten wir genüsslich kleine, geräucherte Flundern, die es nur in Pommern gibt.

Wir Kinder waren Wasserratten - nicht ganz ungefährlich in der meist starken Brandung. Noch heute erinnere ich mich an das Panikgefühl des Ertrinkens, denn eines Tages zog man mich in letzter Minute aus dem Wasser - an einem meiner dicken, braunen Zöpfe.

Ich war vielleicht vier Jahre alt, als meine Mutter mit uns drei Kindern zu ihren Eltern nach Mielkendorf in Schleswig-Holstein reiste, teils per Schiff, teils per Eisenbahn. Mit dem für mich großartigen Schiffsreiseerlebnis habe ich danach gerne geprahlt. Ich weiß nicht mehr wie oft wir nach Mielkendorf fuhren, einerlei, die Fahrt war für uns Kinder wie eine Reise ins Paradies. Die Großeltern verwöhnten ihre selten gesehenen Enkelkinder natürlich sehr und wir fühlten uns frei und glücklich. Manchmal waren wir auch eingeladen bei meinen Großeltern väterlicherseits. Meine andere Großmutter hatte dann im Garten eine große Kaffeetafel gedeckt. Es waren immer viele Cousinen, Tanten, Onkel und Nachbarn dabei, eine große, lustige Runde.

Eine weitere starke Erinnerung: “Papa wo willst Du hin?” - “Ich gehe jetzt nach Buxtehude!” Mit diesen sicher scherzhaft gemeinten Worten verschwindet ein dunkler Rücken, die Wohnungstür fällt ins Schloss. Das kleine Frage- und Antwortspiel hat sich wahrscheinlich oft wiederholt und ist meine einzige Erinnerung an meinen Vater. Dabei kann ich in der Erinnerung sein Gesicht nicht erkennen, denke nur an das Gefühl der ohnmächtigen Wut, das mich regelmäßig bei dem Wort “Buxtehude” überkam, ich fühlte mich nicht ernst genommen.

Aber selbst oft angesehene Fotos meines Vaters konnten meine Erinnerung nicht aufhellen. Ich betrachte diese Bilder wie die eines fremden Mannes. Meistens war er in Uniform abgebildet, oft als stolzer Reiter auf seinem Pferd stehend, manchmal auch mit uns drei Mädchen oder mit meiner Mutter. Mein Vater auf den Fotos - ein gut und sympathisch aussehender, mir unbekannter Mann, sicher ein liebenswürdiger Mensch. Doch mir, seiner Tochter, hat er nur die Sehnsucht nach einem Vater-Menschen hinterlassen.

Kleeblatt im Sommer 1944Am 1. Juli1939 wurde meine Schwester Wiltrud geboren. Wenige Monate später, am 1. September, brach der Zweite Weltkrieg aus. Dieser Krieg bestimmte fortan mein Leben - unser Leben - ebenso wie das von Millionen Menschen weltweit.

Der Krieg konfrontierte uns Kinder mit in unseren Ohren geheimnisvoll klingenden Wörtern: Front - Feind - Feldpost - Fliegeralarm - verdunkeln - im Feld geblieben - unser Führer - Göbbels - Göring - gefallen - vermisst - Fronturlaub - Wehrmacht - Gefangenschaft - Verwundung - Kriegsgefangener…..

Wenn ich einen Satz hörte, wie “Er ist gefallen” oder “Er ist im Feld geblieben”, so stellte ich mir vor, dass dieser Mann als Soldat einfach aus dem Stand auf einem grünen Feld umgefallen, also gefallen sei. Ich konnte mir nicht denken, was daran so schlimm sein sollte, warum diese Worte regelmäßig Trauer und Entsetzen auslösten.

Oft kam ich an Plakaten vorbei, auf denen stand in großen Buchstaben: “VORSICHT, FEIND HÖRT MIT!” Aber der Feind war nicht abgebildet. Es war mir ein Rätsel, was genau ein derart unsichtbarer Feind nicht hören durfte. So stellte ich mir unter dem Wort “Feind” ein unsichtbares, tierartiges, Menschen verschlingendes Wesen vor mit großen Ohren - irgendwie fürchterlich.

Und ich wusste auch, was ein “Kriegsgefangener” ist: Nämlich der Pole, der zu unserem Milchmann gehörte und der Tag für Tag uns alle mit seinem harten polnischen Akzent verfluchte, weil deutsche Soldaten seine Heimat Polen überfallen hatten, ihn gefangen nahmen und in ihre Dienste zwangen. Er schwor, wenn Polen den Krieg erst mal gewonnen hätte, würde er sich ganz grausam rächen und jedem von uns persönlich die Hände abhacken, selbstverständlich sogar uns neugierigen Kindern. Natürlich wussten wir nicht, dass er uns nur so antwortete, weil ihn unsere dummen Kinderfragen nervten.

Einschulung in DievenowEinmal wurde ich von den Erwachsenen streng gerügt, weil ich beim Betreten eines Ladens “Guten Tag” gegrüßt hatte und nicht vorschriftsmäßig “Heil Hitler”, wobei man den rechten Arm gestreckt halb in die Höhe zu halten hatte. Dieser Gruß wurde anschließend geübt, bis ich ebenso selbstverständlich zackig, laut und deutlich “Heil Hitler” grüßen konnte wie die Erwachsenen - worauf ich sehr stolz war.

Aber auch das: Sirenengeheul - Fliegeralarm! Das nie vergessene, infernalisch laute Motorengeräusch nahender feindlicher Tiefflieger, die regelmäßig Angriffe auf den Flugplatz flogen, um dort ihre Bombenlast abzuwerfen. Beim durchdringenden Geheul der Sirenen - meistens nachts, manchmal auch am Tage - Panik und überstürzte Aufbrüche mit Mutter und Schwestern zum vermeintlich sicheren Erdbunker im nahen Kiefernwäldchen, unsere Nachbarn auch unterwegs oder schon dort. Kindergeschrei und Schimpfen der Erwachsenen. Drinnen Dunkelheit und feuchte Kälte, Geruch nach Erde und Menschenschweiß - notdürftig leuchteten Kerzen und Taschenlampen. Über uns das Toben der Tiefflieger. Im Bunker hatte ich keine Angst, ich fand es nur schlimm, dass dort eine Toilette fehlte; manch mutige Erwachsene schlichen sich notfalls aus dem schützenden Bunker in den Wald, uns Kindern war das verboten.

Immer öfter schnappten wir Kinder Sätze auf wie “Er ist in Gefangenschaft geraten” oder “Er ist gefallen” oder “Er wurde als vermisst gemeldet”. Alle diese Sätze schienen die größtmöglichen Katastrophen auszudrücken, denn sie wurden von weinenden Frauen gesprochen, die eine entsprechende amtliche Nachricht erhalten hatten über ihre Männer oder Söhne. Ich fühlte, es konnte nicht mehr lange dauern und ich würde unsere Mutter einen dieser Sätze sagen hören.

Es war kurz vor Weihnachten 1944, als der in diesen bösen Zeiten allseits gefürchtete Postbote meiner Mutter tatsächlich die Nachricht überbrachte, dass mein Vater “nach einem Einsatz hinter der Front nicht zu seiner Einheit zurückgekehrt und somit vermisst” sei. Meine weinende Mutter stürzte mit dieser Nachricht zu unserer Nachbarin, um sich trösten zu lassen. Die Nachbarin versicherte ihr, dass “vermisst” ja nicht “gefallen” und somit tot bedeutete, sondern ja noch die Möglichkeit bestünde, dass mein Vater aus dem Krieg zurückkehrte.

Erst viel später erzählte meine Mutter uns, dass mein Vater sich 1944 noch freiwillig an die Front gemeldet hatte. Bis zu dem Zeitpunkt arbeitete er als Zahlmeister im Büro der Fliegerhorstverwaltung Dievenow und konnte die Hänseleien seiner neidischen Kameraden nicht mehr ertragen, die ihn einen Drückeberger nannten, weil er in seinem Büro relativ sicher saß. Das machte es meiner Mutter natürlich noch schwerer, sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Man kann sich die folgenden Weihnachtstage mit einer untröstlichen Mutter leicht ausmalen. Da wagte ich gar nicht mehr, drei Tage vor Weihnachten noch Geburtstag zu haben. Ich wurde neun Jahre alt.

“Das sind Flüchtlinge” - plötzlich war da dieses neue Kriegswort “Flüchtlinge”. Wir ahnten, dass dieses Wort etwas dramatisches ausdrückte. Diese Menschen, die man “Flüchtlinge” nannte, machten einen sehr armen, traurigen und heruntergekommenen Eindruck und sie wurden von den einheimischen Erwachsenen - so unglaublich es jetzt klingt - etwas von oben herab wie Menschen zweiter Klasse angesehen und behandelt. Es wurde geringschätzig gesagt “Die kommen aus dem Osten”. Sie kamen tatsächlich aus Ostpreußen, geflüchtet vor den unaufhaltsam vordringenden russischen Soldaten.

Bald hieß es aber auch bei uns schon überall “Die Russen und die Polen kommen”, was die Menschen in Panik versetzte. Jeder trachtete danach, sich und seine Familie so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen nach dem Motto “Schnell weg von hier!” Und ich dachte bei dem Wort Polen gleich voll Grausen an den jungen Kriegsgefangenen unseres Milchmannes, der ja versprochen hatte, jedem von uns persönlich die Hände abzuhacken.

So kam es, dass meine Mutter eines Tages - es war im Februar 1945 - die wichtigsten Dinge in einen großen Koffer packte. Wir Kinder mussten unsere liebsten Sachen in unsere kleinen Rucksäcke verstauen, unsere Puppen oben drauf binden. Meine Mutter erklärte uns, dass wir bald wieder zurück kämen in unsere Wohnung, weshalb sie noch einmal gründlich saubermachte und die Wohnungstüre sorgfältig hinter uns verschloss.

Ich erinnere mich, nicht besonders traurig gewesen zu sein, dass wir nun Dievenow verlassen sollten. Aber es tat mir weh, mein Weihnachtsgeschenk, den neuen hölzernen Puppenwagen zurücklassen zu müssen, auf den ich viele Weihnachten gewartet hatte.

In letzter Minute holte meine Mutter noch eine Flasche Cognac aus dem Schrank und versteckte sie sorgfältig in Ihrem Gepäck. Dann schloss sie sich mit ihren drei Kindern einem Strom von ebenfalls bepackten Menschen an, der in Richtung Hafen zog, wo die Fischer in ihren Booten warteten.

Hier kam der französische Cognac zum Einsatz. Ein Fischer konnte der Bestechung nicht widerstehen und erklärte sich bereit, uns für diese kostbare Flasche über das Meer zum Festland mitzunehmen. Selbstverständlich auf eigene Gefahr, wie er immer wieder betonte, denn er müsse sein Schiff über für ihn unsichtbare Minenfelder steuern. Da könne er für nichts garantieren. Fischerboote versanken damals oft genug mit Mann und Maus.

Aber meine Mutter ließ sich nicht abschrecken. Sie zog die Möglichkeit, dass das Schiff mit uns in die Luft fliegen könnte, der Konfrontation mit den vorrückenden Russen vor. Denn in die Hände dieses Feindes dürften wir auf keinen Fall geraten. Jeder hatte die entsetzlichen Schilderungen der Flüchtlinge über unvorstellbare Grausamkeiten des Feindes im Ohr.

Die lange Brücke über dem Hafen brannte schon lichterloh, als unser vollbesetztes Fischerboot Richtung Festland ablegte. Ich erinnere mich nicht, wie lange die Fahrt dauerte, aber ich weiß noch, dass uns vom Fischer geraten wurde, zur Verhinderung der Seekrankheit fest auf die Küste zu schauen. So hatten wir eher die Seekrankheit im Kopf als die Angst vor der Möglichkeit, jederzeit unterzugehen.

Den Moment als wir das rettende Festland betraten, habe ich nicht vergessen, denn dort am Hafen stand ein unendlich langer Zug, der scheinbar nur auf uns wartete. Aufgeregt schrie ich: “Da ist ja schon unser Zug, lasst uns schnell einsteigen!” Aber meine Mutter konnte nicht glauben, dass dieser Zug in ihre Heimat fahren würde, in Richtung Kiel zu ihren Eltern, wohin sie mit uns fliehen wollte. Schließlich aber bestiegen wir einen mit Flüchtlingen schon vollbesetzten Wagen. Nach mehrtägiger Fahrt in diesem überfüllten Zug fanden wir uns eines Tages im Februar 1945 ausgehungert und völlig erschöpft in der Heimat meiner Mutter, in Mielkendorf wieder. Außer der Kleidung, die wir am Körper trugen, besaßen wir nichts. Jetzt waren wir genau so arme Flüchtlinge, wie jene abgerissenen Menschen, die wir in Dievenow beobachtet hatten.

”So ist also flüchten - nie wieder flüchten!” Wütend brachte meine damals fünf Jahre alte Schwester Wiltrud die Ereignisse auf den Punkt.

Während der langen Zugreise freute ich mich auf Mielkendorf, auf das Paradies meiner Kindheitssommer, auf das freudige Willkommen der lieben Großeltern, die uns Kinder von nun an wieder so verwöhnen würden, wie damals. Aber diesmal waren wir nicht so herzlich willkommen im Paradies. Es war auch kein Paradies mehr. Es war bitterkalt und niemand schien wirklich glücklich zu sein über unsere überraschende Ankunft, denn man war nach den entbehrungsreichen, mehr als fünf Kriegsjahren selbst physisch und psychisch am Ende. Man hungerte und fror und kämpfte ums Überleben.

Doch meine Großeltern nahmen natürlich ihre Tochter mit den drei kleinen Mädchen “vorübergehend” auf, denn jeder war überzeugt, dass es nicht lange dauern würde, bis wir wieder nach Pommern zurückkehren könnten. Also rückte man zusammen, so gut es ging. Für uns machten Oma und Opa ihr Schlafzimmer im Erdgeschoß frei. Oma schlief von nun an in der Küche, Opa übernachtete auf dem roten schmalen Sofa im Wohnzimmer. Tante Hildegard und Onkel Hans stellten uns ebenfalls ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss zur Verfügung und zogen sich mit ihren zwei kleinen Kindern auf zwei Räume im Obergeschoss zurück.

So hatten wir eine kleine Wohnung mit Wohn- und Schlafzimmer. Meine Schwester Gudrun und ich schliefen in einem Bett, meine Mutter und Wiltrud in dem anderen. In das kleine Wohnzimmer wurde ein Tisch gestellt, unter dessen Holzplatte sich eine Schublade mit Schüssel befand, die man herausziehen und zum Geschirrabwaschen benutzen konnte. Gleichzeitig war das auch unsere Waschschüssel, denn es gab kein Badezimmer.

Zum Baden wurde einmal in der Woche eine kleine Zinkwanne ins Wohnzimmer gestellt, die in folgender Reihenfolge als Badewanne benutzt wurde: Zuerst die Mutter, danach ich und dann meine Schwestern, natürlich alle im gleichen Wasser, das nicht aus der Wasserleitung kam, sondern mühsam aus der Waschküche herbeigeschleppt werden musste, wo die Wasserpumpe für das ganze Haus stand. Danach wurde das kostbare Badewasser Topf für Topf auf dem kleinen Herd erhitzt.

Komplettiert wurde unser Wohnzimmer durch eine alte Kommode mit vier Schubladen. Jedes Kind bekam eine Schublade zur Aufbewahrung seiner wenigen Habseligkeiten. Außerdem gab es vier einfache Holzstühle.

Etwas Wärme spendete ein selbst gebauter, kleiner Metallherd in der Küchenecke des Wohnzimmers. “Hexe” nannte man dieses Herdchen, denn man konnte es im winzigen Feuerloch mit Holz oder Kohle heizen. Es funktionierte immer, so dass auch ein Topf mit Essen oder das Waschwasser darauf warm wurden, es hatte sogar einen kleinen Backofen. Neben der Hexe stand der Eimer mit frischem Wasser aus Opas Brunnen. Aus diesem Brunnen wurde das Wasser durch eine eiserne Pumpe mit Hilfe eines schweren, langen Schwengels mühsam und Kraft raubend heraus gepumpt. Es schmeckte wunderbar.

Übrigens befand sich die Toilette für alle Hausbewohner im Stallgebäude: ein selbst gezimmertes, stinkendes, kleines Plumpsklo, bestehend aus einem dicken Holzbrett mit Loch in der Mitte und einem Zinkeimer darunter, der jede Woche von meinem Großvater geleert wurde. Als Klopapier benutzte man entsprechend zugeschnittenes Zeitungspapier.

Strom gab es natürlich ebenso wenig wie Heizung. Die dunklen Abende verbrachten wir beim Schein von Petroleum- oder Karbidlampen. Später zogen wir Kerzen aus Wachs. So saßen wir im Winter in schwach beleuchteten Räumen und gingen früh ins Bett, was wegen des ewigen Hungergefühls und des Frierens nicht unpraktisch war.

Im Stallgebäude befand sich außer Opas Werkstatt auch die Waschküche. Im Giebel führten Opas Tauben ein zufriedenes Leben. Außer den Tauben gab es noch ein paar Hühner im Stall, so dass wir manchmal Hühner- oder Taubeneier aßen, und sogar dann und wann an Festtagen ein Huhn oder ein Täubchen. Ach, kalt, dunkel, trostlos und seltsam fremd erschien mir unser Leben im Winter unserer Ankunft in Mielkendorf.

Dabei hatte unsere kleine Familie noch großes Glück, denn die meisten Menschen landeten nach der Flucht zusammengepfercht in riesigen Auffanglagern aus notdürftig zusammen gezimmerten Holzbaracken, in denen ansteckende Krankheiten grassierten. Auch im Kieler Umland standen solche Lager, deren Bewohner wegen der Ansteckungsgefahr von der Dorfbevölkerung gemieden wurden wie Pestkranke im Mittelalter. Man ging den armen Menschen möglicht aus dem Wege und duldete sie nur widerwillig. Im Dorf sprach man verächtlich vom “Flüchtlingspack”. So waren diese aus ihrer Heimat vertriebenen deutschen Menschen Fremde im eigenen Land.

Die Flüchtlingskinder, wie meine Schwestern und ich, wurden eher bedauert, man vergaß allerdings nie, dass sie Flüchtlingskinder waren. Es wurde darauf geachtet, dass diese Kinder sich besonders unauffällig, bescheiden und höflich verhielten, vor allem keine Wünsche äußerten und nie vergaßen, dass man sie so großzügig aufgenommen hatte. Aber dies ist ein Problem - wohl so alt wie die Menschheit.

Im Februar 1945, als wir in Mielkendorf ankamen, war der Krieg noch in vollem Gange. Das bedeutete wieder Sirenengeheul und dröhnende Flugzeuge, die ihre Bombenlast Tag und Nacht über Kiel abluden. Man konnte es nachts sogar von einem erhöhten Standpunkt aus beobachten. Das Spektakel erinnerte an ein riesiges Feuerwerk, das am Himmel leuchtete, wie viele bunte Tannenbäume. Aber von diesen Tannenbäumen hörten wir Kinder nur die Erwachsenen raunen, während wir bei Fliegeralarm den kalten, spärlich erleuchteten Keller des Hauses nicht verlassen durften.
Gleich nach unserer Ankunft wurde ich in Mielkendorf eingeschult. Das Schulgebäude befand sich im Dorfkern, ungefähr eine Stunde zu Fuß vom Haus meiner Großeltern entfernt. So ging ich also jeden Tag mit der alten, ledernen Aktentasche meines Großvaters eine schnurgerade Straße entlang, mit tiefen Gräben für den Wasserabfluss an beiden Seiten. Ich wurde ermahnt - sobald die Sirenen Luftalarm heulten und Tiefflieger im Anflug waren - sofort in einen dieser Gräben zu springen und auf keinen Fall den Kopf herauszustrecken. Das passierte tatsächlich ein paar Mal. Da saß ich dann zitternd im Graben - über mir diese infernalischen Bomber - und ich musste aufpassen, nicht zu tief in den Graben zu rutschen, denn unter mir lauerte eiskaltes Wasser.

Das Stroh gedeckte, alte Schulgebäude beherbergte nur einen Raum für alle Schüler, von der ersten bis zur achten Klasse. Eine Bankreihe bildete eine Klasse und es gab acht Bankreihen, entsprechend der achtjährigen Grundschulzeit. Ohne einen gertenlangen, dünnen Rohrstock trat der alte Lehrer nie vor seine Klasse. Im Verlauf des Unterrichts machte er von seinem Marterwerkzeug reichlich Gebrauch, “zur Abschreckung”, wie es hieß. Bis heute erinnere ich mich an mein ohnmächtiges Entsetzen, gepaart mit tiefem Mitgefühl, wenn den schreienden Kindern kraftvoll entweder auf den Hosenboden oder, schlimmer noch, direkt in die ausgestreckte Handinnenfläche geschlagen wurde. Manche Jungen protzten damit, dass die Stockschläge in die Handfläche gar nicht wehtun würden, wenn man direkt hinterher die Hand mit einer rohen Zwiebel einriebe, die man vorsorglich immer dabei haben müsse…..

Eines Tages aber erschien ein neuer Lehrer, jünger und verständnisvoller als sein Vorgänger. Er hatte es nicht nötig einen Stock zu benutzen, denn alle Kinder liebten und respektierten ihn. Herr Barthels war damals vielleicht 40 Jahre alt und noch Junggeselle, wie man kritisch und aufmerksam im Dorf registrierte.

Auch ich liebte Herrn Barthels. Schon nach kurzer Zeit erkannte er mein künstlerisches Talent und bot meiner Mutter an, mir einmal in der Woche privat in seiner kleinen Wohnung unentgeltlich Zeichenunterricht zu geben, da es zu Hause bei meiner Familie zu eng und zu unruhig war. Zu meiner Freude durfte ich also eine Zeit lang bei ihm zeichnen und malen. Ich schrieb selbst erdachte Märchen, die ich unter seiner Aufsicht illustrierte.

Jedoch eines Tages, zu meiner größten Bestürzung, verbot mir meine Mutter die Malstunden bei Herrn Barthels mit der Begründung, dass “die Nachbarn schon über uns klatschten”, weil sie es anstößig fanden, dass ein kleines Mädchen meines Alters allein zu einem unverheirateten Lehrer in die Wohnung ging. Heute könnte ich diese Voreingenommenheit verstehen, damals aber ging für mich die Welt unter, ein Lichtstrahl erlosch.

Doch mit dem Kapitel über Herrn Barthels habe ich den Ereignissen zeitlich vorgegriffen. Vorerst herrschte noch Krieg. Meine Mutter hatte kein Geld um uns zu ernähren, unser Vater konnte nichts mehr zu Lebensunterhalt beitragen weil er als Soldat vermisst war, was auch bedeutete, dass es keine Witwenrente vom Staat gab. So ging unsere Mutter eines Tages den schweren Gang zum Amt, um Fürsorge zu beantragen. Man sagte ihr dort ziemlich herablassend, dass eine derartige Hilfe für unsere Familie nicht in Frage käme, da sie als gesunde, junge Frau selbstverständlich mit ihrer Hände Arbeit das Geld zum Unterhalt ihrer Familie verdienen könne, zum Beispiel indem sie für andere Leute nähte.

Von nun an saß also meine Mutter jeden Tag bis in die späte Nacht an der Nähmaschine und verdiente doch nicht genug Geld mit dieser Arbeit. Denn die Leute um uns herum konnten sich ihrerseits auch kaum etwas leisten, waren genau so arm wie wir, allenfalls erteilten sie Aufträge für kleinere Flickarbeiten.

Ich erinnere mich an den nagenden Hunger, mit dem ich jeden Abend ins kalte Bett kroch, hungernd schlief ich ein, hungernd und frierend erwachte ich in einem ungeheizten Schlafzimmer mit dicken Eisblumen an den dünnen Fensterscheiben. Lebensmittel waren knapp und rationiert, es gab sie, wenn überhaupt, nur auf Lebensmittelkarten. Für diese Lebensmittel brauchte man natürlich auch Geld, das wir nicht hatten.

Unsere Lebensmittelrationen waren ohnehin zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Meine Mutter konnte auf ihrer kleinen Hexe allenfalls eine dünne Wassersuppe mit Graupen kochen, die zur Abwechslung von Zeit zu Zeit mit Marmelade oder Saft rosa gefärbt wurde. Manchmal gab es ein Rübengericht, mit ein paar Kartoffeln angereichert. Rüben gab es genug, dafür jedoch kaum Kartoffeln, geschweige denn Fleisch, Milch oder Fett, allenfalls Margarine, die ekelhaft nach Fischtran schmeckte. Aus den Rüben kochte man im großen Waschkessel von Zeit zu Zeit einen sehr wohlschmeckenden, süßen, braunen Sirup. Eine Delikatesse, da es sonst keine Süßigkeiten gab und nur selten ein wenig Zucker.

Aus der Not geboren wurde das Wort “Organisieren”. Es stand für das Beschaffen von lebensnotwenigen Dingen, die man auf legale Art nicht bekommen konnte. Auch meine Mutter organisierte für ihre kleine Familie, soweit es ihr möglich war. Zum Beispiel manchmal Steinkohlen oder Briketts zum Heizen. Zu dem Zweck schlich sie sich mit einer Gruppe befreundeter Frauen abends oder nachts zum Güterbahnhof, weil man Kunde bekam von Kohlewaggons, die dort vorübergehend für eine Nacht standen. Manchmal konnten die Aufseher bestochen werden, so dass sie nichts sahen und die Frauen mit ihren Handwagen passieren ließen. Oft aber geschah es, dass sie den Frauen ihre Beute abnahmen.

Auf die gleiche Art wurden Lebensmittel vom Lande organisiert. Wer dabei erwischt wurde, konnte froh sein wenn ihm diese nur abgenommen wurden und er nicht im Gefängnis landete. Ebenso organisierte man Kartoffeln oder Getreide von den Feldern, wenn die Bauern nicht aufpassten. Oder sogar Geflügel. Und ich weiß nicht, was sonst noch alles. Wir Kinder wurden mit einbezogen, wenn es galt, dringend benötigtes Holz zum Heizen aus dem nahen Wald abzutransportieren, ohne dass der Besitzer oder seine Förster etwas merkten. Diese verbotenen Aktionen waren mir sehr peinlich, ich gewöhnte mich nie daran.

Seit Februar 1945 lebten wir in Mielkendorf , als endlich im Mai der Krieg zu Ende war. Aber zunächst herrschte nicht etwa allgemeine große Freude, im Gegenteil, die meisten Erwachsenen waren ziemlich geschockt: Jetzt sollte also Frieden sein sie konnten es einfach nicht glauben. Die Nachricht von der Kapitulation Deutschlands wurde im Radio verkündet. Mein Großvater saß nach dieser Nachricht völlig gebrochen in seinem Sessel. Am meisten bekümmerte ihn, dass dieser Hitler sich in seinem Führerbunker das Leben genommen hatte. Mein Opa war der festen Meinung, dass Hitler dem deutschen Volk Freiheit und Wohlstand beschert hätte, wenn “seine Offiziere ihn nicht verraten hätten“, wie er wütend sagte.

Und dann hieß es eines Tages: “De Tommy kümmt”. So wurden allgemein die Engländer bezeichnet, die ja bis dahin Feinde der Deutschen waren und nun als Besatzungsmacht in Schleswig-Holstein stationiert wurden. Vor dem Erscheinen dieses ehemaligen Feindes hatten die Leute Angst, sie wussten ja nicht was sie erwartete. Diese diffuse Angst wandelte sich in hilflosen Aktionismus, der dazu führte, dass zunächst einmal alle Hitlerbilder aus dem ganzen Haus vergraben oder verbrannt wurden. Außerdem vergrub oder zerschnitt man die deutsche Fahne. Jedoch nach und nach tauchten diese ziemlich großen, roten Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz im weißen Kreis in Form von Kleidern, Blusen oder Röcken wieder auf, denn man konnte es sich nicht leisten, so einen schönen Stoff unverwertet zu lassen.

Dann fuhren eines Tages die Sieger durch das Dorf, Feinde von ehemals, englische Soldaten. Sie lächelten und winkten freundlich. Ich konnte es nicht fassen - das also sollten die Feinde sein, vor denen man sich so gefürchtet hatte. Sie sahen aus wie ganz normale, nette Leute, natürlich in fremder Uniform. Warum hatte mir denn niemand gesagt, dass Feinde keine fürchterlichen Scheusale, sondern ganz normale Menschen sind? Ich fühlte mich wieder einmal von den Erwachsenen belogen. Gleichzeitig hörten wir, dass unsere ehemalige Heimat, die Insel Wollin in Pommern, von nun an fest in russischer Hand war. Eine Rückkehr dorthin kam also nicht mehr in Frage. Mielkendorf würde von jetzt an unsere Heimat sein.

Der Frieden brachte Männer, die als Soldaten im Krieg waren, zurück. Viele Familien hatten plötzlich wieder einen Ehemann oder Vater, der oft genug verwundet heimkehrte. Nur unser Vater war nicht unter den Rückkehrern, so sehr unsere Mutter von Tag zu Tag darauf hoffte. Verzweifelt wandte sie sich an Wahrsagerinnen, die damals Hochkonjunktur hatten. Es wurde aus der Hand, aus Karten oder aus dem Kaffeesatz gelesen oder man ließ den Ehering über dem Foto des Vermißten pendeln. Für ein wenig Geld machten diese Frauen meiner Mutter Mut, indem sie behaupteten, mein Vater kehre bald gesund zurück. Für eine kleine Weile war unsere Mutter dann nicht mehr so verzweifelt unglücklich wie gewöhnlich.

Unsere finanzielle Situation verschlechterte sich nach der Kapitulation weiter. Wir hungerten. Aber nach und nach bekam meine Mutter größere Aufträge, denn es gab wieder Stoff zum Nähen, zum Beispiel Fallschirmseide oder Uniformteile aus Armeebeständen. Ich lernte Stricken und Nähen, um als älteste Tochter meiner Mutter nach Kräften zu helfen, wie sie es von mir erwartete.

So sehe ich mich noch im Sommer mit den Frauen des Hauses draußen im Hof sitzen und handarbeiten, während meine beiden kleineren Schwestern den ganzen Tag mit ihren Freundinnen spielten um abends voller Freude von ihren interessanten Erlebnissen zu berichten. Ich dagegen fühlte mich einsam und vom Leben ausgeschlossen. Da ich im Alter von fast zehn Jahren nicht mehr als Kind galt, nahmen mich die Frauen in ihre Mitte. Mir blieb keine Wahl. Widerrede wurde als “überflüssiges Gejammere” abgetan. Erwartungsgemäß wurde ich das stille, brave Mädchen, fleißig und ziemlich geschickt - immer in der Hoffnung, damit meiner strengen und mich oft tadelnden Mutter ein wenig Glück und Zufriedenheit zu schenken. Damals verstand ich nicht, warum meine Mühe umsonst bleiben musste.

Heute weiß ich, dass meine Mutter zu Recht mit ihrem Schicksal haderte und ihren Groll über unerfüllte Hoffnungen auf mich, ihre älteste Tochter, projizierte, die ihr räumlich meistens am nächsten war. Als Kind des ersten Weltkrieges hatte sie schon früh im Leben mit den gleichen grausamen Kriegsfolgen wie nach unserer Flucht zu kämpfen. Mit der Heirat und dem Weggang aus Mielkendorf ersehnte sie endlich bessere Zeiten. Doch nun fand sie sich im Alter von erst dreißig Jahren als mittellose Frau ohne Mann mit drei kleinen Kindern im Elternhaus wieder, ohne Hoffnung auf bessere Zeiten, wie sie damals glaubte.

Dazu kam der tägliche Ärger, denn in unserer Großfamilie in dem kleinen Haus in Mielkendorf bestand der Alltag meist aus lautstarken Streitereien, wütendem Türeschlagen, hilflosen Tränen, wochenlangen Schweigen zwischen den zerstrittenen Parteien, Klatsch und Tratsch. In der Enge des Hauses konnte ja keiner dem anderen ausweichen.

Andererseits geschah es von Zeit zu Zeit, dass alle Familienmitglieder sich in der Wohnung meiner Großeltern trafen, besonders im Winter, wenn dort der einzige Kachelofen des Hauses mit Torf beheizt wurde und man die seltene, wohlige Wärme genießen konnte. Dann holte Opa die alte “Quetschkommode”, so nannte er seine kleine Ziehharmonika, und begleitete Großmutter, die mit ihrer wunderbaren Sopranstimme alte plattdeutsche Lieder sang mit vielen Strophen und lustigen Refrains, die wir im Chor wiederholten. Dazu wurde auch mal getanzt und es ging lustig zu. Besonders, wenn alle einen Schluck von Opas selbst gebranntem Schnaps nahmen, wovon immer eine kleine Flasche im Schrank stand.

Eine Attraktion für uns Kinder war der Brutapparat in der großelterlichen Stube, neben dem meist lauwarmen Kachelofen, in dem Hühner-, Gänse- oder Enteneier zur Winterszeit ausgebrütet wurden. Die meisten Küken wurden nach ungefähr einer Woche verkauft, so hatte Opa einen kleinen Nebenverdienst. Manche behielt er für die Aufzucht.

So hungerten wir mit der Zeit weniger, denn wir hatten mehr Eier und dann und wann auch mal einen nahrhaften Geflügelbraten. Später hielt Opa auf seinem 4000 qm großen Grundstück nicht nur viele Hühner, sondern auch Enten, Gänse und Kaninchen. Die dabei selbst gezüchteten Jungtiere verkaufte er auch. Größtenteils wurde das Grundstück aber als Obst- und Gemüsegarten genutzt. Sogar Tabak pflanzte Opa und bot ihn jede Woche auf dem Markt in der Stadt zusammen mit Gemüse zum Verkauf an. So ließ sich die Familienkasse allmählich aufbessern.

Wie man sich denken kann, gab es auf diesem riesigen Grundstück viel Arbeit, wie Gemüse pflanzen oder säen, Unkraut jäten oder hacken, den Boden umgraben, im Sommer alles mit der schweren, eisernen Gießkanne begießen, Kartoffelbeete hacken, Kartoffeln ausgraben, Obst und Gemüse ernten, verarbeiten und einkochen - die Arbeit nahm kein Ende. Auch hier wurde ich zur Mithilfe herangezogen, besonders als meine Mutter noch ein eigenes großes Stück Garten gegenüber dem großväterlichen Haus pachtete.

Freude bereitete es mir, wenn ich mit Opa dicke Holzstämme sägen durfte. Unter seiner Anleitung hackte ich bald auch mit dem schweren Beil Feuerholz für den Wintervorratsstapel direkt neben dem Haus. Überhaupt waren Opa und ich die besten Freunde. Er nahm sich Zeit für mich so oft es ging. Im Winter saßen wir zusammen in seiner Stube und lösten Kreuzwort- oder Silbenrätsel, sehr ehrgeizig. Wenn uns ein Wort fehlte, schlug ich in seinem schon ganz zerfledderten “Brockhaus” so lange nach, bis ich es hatte. Dabei las ich fanatische Buchstabenfresserin natürlich allerlei Interessantes, was einem elfjährigen Kind normalerweise fremd blieb.

Außerdem hatte Opa nach dem Krieg die Reihe “Das Beste aus Reader`s Digest” abonniert, wovon jeden Monat ein Band erschien, etwa so dick wie ein normales Taschenbuch. Ich verschlang diese Bände, sie prägten mein Amerikabild und weckten in mir den Wunsch, dieses Land und seine Menschen kennen zu lernen, irgendwann - in meinen Träumen reiste ich schon jetzt durch ferne Länder, weit weg von Mielkendorf

Am meisten aber liebte ich die stundenlangen Sonntagswanderungen mit Opa über Wiesen und Felder. Opa weckte in mir die lebenslange Liebe zur Natur, erzählte mir über das Leben und die Geheimnisse der Pflanzen und Tiere, nannte ihre Namen, wir erfreuten uns an den Schönheiten der kleinen Dinge. Opa war ein nachdenklicher, kluger Mann, er sprach mit mir wie mit einer Erwachsenen - über die aktuelle Politik, über alte Sagen, deutsche Geschichte, den alten Kaiser Wilhelm, erzählte mir von seiner Zeit als Soldat im 1. Weltkrieg oder von seinen Wanderjahren als fahrender Geselle, er teilte mit mir seine Gedanken über das Weltall und wie alles im Leben zusammenhängt. Philosophie hätte er gerne studiert. 

Damals gab es  auf fast jedem Grundstück einen Brunnen, denn das Wasser kam noch nicht allgemein aus der Leitung. Zu Opas Beruf gehörte das Wünschelrutengehen, um das tief im Boden vorhandene Wasser für einen neuen Brunnen aufzuspüren. Wünschelrutengänger waren sehr angesehene und begehrte Leute, denn nicht jeder Mensch besitzt die ganz besondere und geheimnisvolle Gabe des Wasseraufspürens mit der Rute. 

Opa suchte auf Wunsch eines Auftraggebers im Boden eine Wasserader, indem er langsam mit einem dünnen in der Mitte gebogenen Weidenzweig, einer Rute, über ein Grundstück ging, die Enden der oval nach oben gebogenen Rute fest in beiden Händen haltend. Wenn die Rute dann ohne äußerlichen Anlass plötzlich kräftig zur Erde hin ausschlug, floss an dieser Stelle mit Sicherheit eine unterirdische Wasserader und ein Brunnen konnte dort gebaut werden. 

Die in den Hungerzeiten nach dem Krieg grassierende Schwindsucht raffte hauptsächlich Frauen und Kinder dahin. Deshalb ließen die englischen Besatzer zwangsweise Röntgen-Reihenuntersuchungen zur Prophylaxe durchführen. Zu diesem Zweck fuhr ein Auto mit einem Röntgengerät über die Dörfer. Dabei stellte man bei mir einen Schatten auf der Lunge fest, weswegen meine Mutter mit mir nach Kiel zu einer Extrauntersuchung ins Krankenhaus fuhr. Hier diagnostizierte man den Beginn einer Lungentuberkulose, kurz TB genannt, bedingt durch schwere Unterernährung.  Meine Mutter erhielt ein Rezept, das mir für ein paar Monate täglich kostenlos frische Milch mit dickem Fettrahm direkt  vom Bauern sicherte, also eine gehaltvollere Nahrung statt der Magermilch, die wir uns normalerweise leisten konnten. Ob ich von der fetten Milch tatsächlich an Gewicht zunahm, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur an Magenkrämpfe, die ich, mit der Wärmflasche bei Oma auf dem Sofa liegend, von Zeit zu Zeit ertrug. 

Unsere finanzielle Lage verbesserte sich kaum und so hungerten wir immer noch. Wenn es jetzt statt der leidigen Wassersuppe auch schon mal Brotsuppe oder Buttermilchsuppe gab oder einfach einen Milchbrei.  Rübenmus bildete immer noch unsere Hauptnahrung, ohne Fett gekocht und daher fade und streng schmeckend. Sogar aufs Schulbrot wurde Rübenmus gestrichen mangels Wurst oder Käse. 

Der Sommer war eine Zeit der allgemeinen Erholung, es gab frisches Obst und Gemüse aus dem Garten. Schlimm wurde der zweite Winter in Mielkendorf mit unglaublichen Schneemassen und Kälte ohne Ende - genau wie im Winter zuvor. Wir heizten oft nur mit Torf, den Opa im Sommer selbst im nahen Moor gestochen hatte, manchmal mit meiner Assistenz. 

Der Tiefpunkt war alle Jahre wieder der Heiligabend ohne unseren Vater, den meine Mutter an diesem Tag besonders vermisste. Im Allgemeinen hielt sie an der Hoffnung fest, dass er vielleicht doch eines schönen Tages in der Tür stehen würde, wie so viele spät aus der Gefangenschaft heimkehrende Männer. Immer wieder ließ sie sich dieses Ereignis von der Wahrsagerin voraussagen. 

Meine Phantasie lag in dieser Zeit fast brach, denn so sehr ich auch unser Haus nach Lesestoff durchkämmte, es wollten sich nur einige uralte Bücher finden, die ich trotzdem verschlang, ebenso wie das dicke alte Schullesebuch oder die Bibel samt Altem und Neuem Testament, auch einige zerfledderte Karl-May-Romane oder sämtliche Romane von Gustav Freytag. Das ging so lange, bis Opa eines Tages die Monatshefte von Das Beste aus Reader`s Digest bestellte und Onkel Hans den Kosmos, die Monatshefte über naturwissenschaftliche Themen, abonnierte, die ich dann auch lesen durfte. 

Die Welt erschien mir bunter und erträglicher, als eines Tages - ich ging schon in Kiel zur Schule - das Amerika-Haus mit Leihbibliothek eröffnet wurde. Da entdeckte ich die modernen amerikanischen Schriftsteller wie Hemingway, Faulkner oder Steinbeck, aber auch deutsche, russische und französische Klassiker, ebenso wie deutsche und griechische Sagen oder Balladen und viele Märchen. Während des Lesens verwandelte sich in meinem Kopf wie auch heute noch jeder Text zum Farbfilm - so erlebte ich schon Kino, lange bevor ich dieses Medium kennen lernte. 

Wir befanden uns in der Vorfernseh-Ära, Kino oder Theater gab es zwar, waren aber auf dem Dorf unerreichbar (und unbezahlbar). In unserem Haus befand sich nur ein einziges Radio, das in der Küche meiner Großeltern stand. Manchmal hörten wir dort Musik, spannende Hörspiele, Wunschkonzerte und natürlich die aktuellen Nachrichten. 

In dieser Notzeit entschloss sich unsere Mutter eines Tages zusammen mit ihren drei Kindern unseren Verwandten väterlicherseits einen Besuch abzustatten. Tante Mary, eine Schwester meines Vaters und ihr Mann wohnten in Schlesen auf einem großen Bauernhof, so dass meine Mutter hoffte ein bisschen Speck oder ähnlich nahrhaftes geschenkt zu bekommen. 

Ich weiß nicht mehr wie wir nach Laboe kamen. Von Laboe aus gingen wir auf sonnenheißer Chaussee endlose Stunden bis zu dem Bauernhof in Schlesen. Unser unangemeldeter Besuch erregte keine Freude, denn man war bei der Arbeit und empfand diese überraschend auftauchende, ärmlich und halbverhungert wirkende Verwandtschaft als lästige Störung. So wurde es ein mühsamer Heimweg mit unserer über ihre herzlosen Verwandten zutiefst enttäuschte Mutter. Diese geizige Schwägerin Mary, die uns nicht mal Essen angeboten, geschweige denn etwas Nahrhaftes mit auf den Weg gegeben hatte. 

Im Sommer wurden die großen Dorffeste gefeiert, Ringreiten an Pfingsten, Vogelschießen im Juni oder Juli, das Feuerwehrfest zum Sommerausgang, Erntedankfest im Herbst. Den Höhepunkt bildete dabei das Vogelschießen mit dem alljährlichen Umzug der Kinder und Jugendlichen entlang der Dorfstraße. Aber auch dieses Fest endete am späten Abend wie jeder normale Dorfball oftmals mit handfestem Streit zwischen den jungen Bauernsöhnen und heftigen Schlägereien nach Mitternacht. In den Folgetagen funktionierte die Gerüchteküche wie üblich, wer wieder mal daran beteiligt war: “Immer dieselben”, hieß es. 

Es war Herr Barthels, unser Lehrer, der sich in dieser Zeit rührend um uns kümmerte. Ich werde nie vergessen, dass er eines Tages mit einem der begehrten “Care-Pakete” erschien. Solche Pakete wurden von mildtätigen, amerikanischen Bürgern verschickt, um armen, deutschen Familien das karge Nachkriegsleben erträglicher zu machen. Zufällig war Herr Barthels in den Besitz so einer Rarität gelangt und hatte natürlich sofort an uns gedacht.

Ich weiß nicht mehr, was genau damals in dem Paket war, erinnere mich einzig an ein lindgrünes, schmales, leichtes Wollkleid mit kurzen Ärmeln, dazu ein Paar blass gelbe Sommersandaletten mit kleinem Absatz. Weil mir das alles passte, bekam ich es geschenkt. Meine Freude war groß, ich wurde nicht müde, immer wieder den feinen Stoff des Kleides und das weiche Leder der Riemchensandaletten anzufassen und zu bewundern. 

Herr Barthels war es auch, der meine Mutter darauf aufmerksam machte, dass ich in der Dorfschule völlig unterfordert war. Er empfahl mich fürs Gymnasium. Meine Mutter stimmte ihm grundsätzlich zu, entschied jedoch in Anbetracht ihrer finanziellen Möglichkeiten, dass die Mittelschule - heute Realschule - für mich und meine Schwestern völlig ausreichte. Sie fühlte sich aus unserem finanziellen Dilemma heraus nicht imstande, uns bis zum Abitur zur Schule gehen zu lassen. Ein anschließendes Studium fand sie überflüssig, da wir Mädchen ja sowieso heiraten würden. 

Ich bestand die Aufnahmeprüfung für die Klaus-Groth-Schule, 1. Mädchen-Mittelschule am Winterbecker Weg in Kiel. Das Innere dieses uralten, verwinkelten Gemäuers war ein Irrgarten aus Gängen, Treppen und Klassenräumen mit hunderten Schülerinnen und dem Muff von hundert Jahren. 

Mit 49 Mädchen kam ich in eine räumlich viel zu kleine Klasse. Wir hatten sechs Tage in der Woche Unterricht, welcher als so genannter Schichtunterricht drei Tage vormittags und drei Tage nachmittags stattfand. Das bedeutete, dass ich an drei Tagen schon morgens um 6,00 Uhr das Haus verlassen musste. In dem Winter, der auf meine Herbsteinschulung folgte, war es um diese Zeit stockdunkel, zumal es noch keine Straßenlaternen gab. Der Nachmittagsunterricht endete erst um 17,00 Uhr, so dass mein Heimweg ebenfalls in die Dunkelheit fiel. Also organisierte meine Mutter für mich eine Begleitung, allerdings nur für den morgendlichen Schulweg. Ich ging mit Herrn Winderlich, einem Arbeiter aus der Nachbarschaft, der während des ganzen Weges auf  die Politik schimpfte. 

Die Strecke führte über den Mielkendorfer Weg und die Hamburger Chaussee in Richtung Schulensee, um nach ungefähr einer Stunde Fußweg an der Haltestelle der Linie 1 die Straßenbahn Richtung Stadt zu besteigen. Nach vielleicht zwanzig Minuten Fahrt stieg ich an der Helgolandstraße aus, allerdings allein, da Herr Winderlich mit der Bahn weiter zu seiner Arbeitsstelle fuhr. Mein weiterer Fußweg führte mich dann ungefähr zwanzig Minuten lang über ein einsames Kleingartengelände. Insgesamt dauerte mein Schulweg etwa zwei Stunden, davon eineinhalb Stunden zu Fuß. 

Leider kam es in meinen ersten beiden Schuljahren in Kiel immer wieder vor, dass die Straßenbahn wegen Stromausfalls in ihrem Depot blieb, so dass die Fahrgäste sich zu Fuß auf den Weg machen mussten. An diesen Unglückstagen verlängerte sich mein Fußweg um eine weitere Stunde und selbstverständlich bei jedem Wetter, im kalten Winter wie im heißen Sommer, bei Schnee oder Regen. Mit dem Rückweg kam ich dann gut und gerne pro Schultag auf mindestens vier, manchmal aber eben auch auf fünf bis sechs Stunden Wegezeit. 

Hinzu kam, dass meine alten, zu kleinen Schuhe drückten. Im Sommer zog ich sie kurzerhand aus und ging barfuss. Opa schnitzte mir später ein paar Holzschuhe, die aber auch nicht bequemer waren, meist trug ich sie in der Hand. Ich erinnere mich, dass ein älterer Herr sich bei meinem Anblick lautstark darüber aufregte, dass “heutzutage die Schulkinder nicht mal ordentliches Schuhwerk hätten und barfuss gehen müssten”. Seltsamerweise wurde mir erst durch diese Äußerung meine Situation als problematisch bewusst. 

Später bekam ich als Fortbewegungsmittel ein altes, verrostetes Fahrrad und konnte dann gemeinsam mit zwei Mädchen aus Rumor bzw. Schierensee, deren Weg über Mielkendorf  direkt an unserem Haus vorbei führte, gemeinsam zu unserer Schule radeln. 

Ansonsten war ich glücklich und stolz, die Schule in Kiel als einziges Kind des Dorfes besuchen zu dürfen, betrachtete es als Privileg und nahm mir vor, meiner Mutter dafür mit guten Zensuren zu danken, weshalb regelmäßig der Satz in meinem Zeugnis stand: “Ingrid ist zu ehrgeizig!”. 

Unser Zuhause bestand nach wie vor nur aus zwei kleinen Zimmern, so dass ich meine Schularbeiten an dem einzigen Tisch in der kleinen Wohnstube machte, wobei ich nur ein Eckchen diese Tisches nutzen konnte. Meine Mutter, die Näherin, musste darauf zuschneiden, ihre Kundinnen kamen und gingen, es war eine ständige Unruhe. So musste ich eben lernen, mich nicht stören zu lassen, eine Konzentrationsübung, die mir in meinem zukünftigen Leben oft zustatten kam. 

Ganz allmählich wandelten sich die Zeiten zum Besseren. Es begann 1948 mit der Währungsreform. Plötzlich sah man bunt dekorierte Schaufenster, gefüllt mit lang entbehrten Waren. Leider blieb das Geld in unserer Familie knapp und wir konnten uns diese schönen neuen Dinge nicht leisten. 

Irgendwann nach der Währungsreform eröffnete meine Mutter in unserem ohnehin schon zu kleinen Wohnzimmer den Arko-Stubenladen. Die Firma Arko existiert heute noch in Norddeutschland mit vielen kleineren Verkaufsfilialen, seit damals fertigt und verkauft sie Schokoladenwaren. Für diesen Laden mussten wir Platz schaffen, denn die gesamte Ware sollte in unserer einzigen Kommode untergebracht werden. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wo wir unsere persönlichen Sachen unterbrachten, aber es musste gehen, denn unsere Familie brauchte dringend Geld. 

Ich weiß auch nicht mehr, wie viele Jahre meine Mutter auf die glückliche Heimkehr ihres Mannes, unseres Vaters, gewartet hatte, ehe sie ihn schweren Herzens amtlich für tot erklären ließ. Diese Formalität war nötig, weil er offiziell immer noch als im Krieg vermisst galt, also theoretisch noch leben und jederzeit zurückkehren konnte, so dass meine Mutter, weil die amtliche Todeserklärung fehlte, nicht Witwe war. Das hatte zur Folge, dass sie vom Staat keine Witwenrente erhielt, weswegen wir so lange Zeit in Armut leben mussten.

Aber mit der Zeit fiel es meiner Mutter immer schwerer, einen für uns einigermaßen ausreichenden Lebensunterhalt zu verdienen, denn meine Schwestern wurden auch nach Kiel auf die Mittelschule geschickt, was natürlich mit zusätzlichen Kosten verbunden war. Nach unendlichen Behördenkämpfen wegen der Todeserklärung wurde schließlich meiner Mutter eine monatliche Kriegerwitwenrente und uns drei Kindern eine Kriegswaisenrente gezahlt, wobei die Witwenrente deutlich höher als erwartet ausfiel, denn mein Vater war noch kurz vor seinem nun amtlichen Tod zum Offizier befördert worden.

Inzwischen - wohl gegen Ende meiner Schulzeit - war unser aller Leben in Mielkendorf etwas komfortabler geworden, denn ein Bus fuhr ein- oder zweimal täglich über die Dörfer mit einer Haltestelle  vor unserer Haustüre, so dass meine Schwestern und ich im Winter bequem zur Schule kamen, ansonsten fuhren wir mit dem Fahrrad. 

Mit vierzehn Jahren wurde ich dann in der Flintbeker Dorfkirche konfirmiert. Schon monatelang wurde über kaum etwas anderes gesprochen als über dieses Ereignis. Man erörterte hin und her, wer alles kommen würde, wen man einladen müsste, was man auftischen sollte und wie viel das alles kosten würde. 

Außerdem sollte ich natürlich ein Konfirmationskleid tragen, eines aus dunkelblauem Wollstoff, das meine Mutter mir extra für dieses Ereignis schneiderte und das mir meiner Meinung nach überhaupt nicht stand. Grauenvoll fand ich mich darin, mitsamt dem ungeliebten Mozartzopf, der allerdings zu meinem Glück dann doch noch in einer allerdings ziemlich qualvollen Prozedur einer Dauerwelle weichen musste. Aber auch dieser Tag verging und machte mich um eine Kulturtasche, einige Handtücher, ein paar Blumentöpfe mit rosa und weißen Azaleen und einige Umschläge mit etwas Geld reicher. Das meiste Geld behielt meine Mutter zur nachträglichen Finanzierung der Angelegenheit. 

Ab dem Zeitpunkt der Konfirmation wurde ich offiziell “Fräulein Schröder” genannt. Man redete mich nicht mehr wie ein Kind mit “Du” an, sondern als Erwachsene mit “Sie”, was mir sehr gefiel. Als Nachteil empfand ich nun mein kindliches Aussehen, so dass ich mit allen Mitteln versuchte, ein paar Jahre älter zu erscheinen, wobei die frische Dauerwelle Wunder wirkte. Als noch nicht ganz Erwachsene galt ich als “Backfisch”, wie man die heutigen Teenager damals nannte. 

In der Schule brachten ein paar neue Mitschülerinnen unter der Bank “Lore-Romane” in Umlauf, billige, zerknautschte Heftchen mit schönen, bunten Filmstars auf den Umschlägen, also billige Liebesromane, deren Lektüre uns von den Müttern verboten wurde, mit der geheimnisvollen Begründung, dass “so was noch nichts für unser Alter” sei.

Wie man sich denken kann, war die Folge diese Verbots, dass wir nun Lore-Romane heimlich unter der Bettdecke lasen, um uns selbst zu überzeugen, was darin so Besonderes geschrieben stand, und um in der Klasse mit den “Eingeweihten” über den Inhalt dieser Liebesromane tuscheln zu können. Beim Lesen des dritten Heftchens erkannte und durchschaute ich das billige Geschreibsel. Die immer gleichen Geschichten langweilten und ihr schlichter Schreibstil ärgerte mich mehr und mehr, so dass ich freiwillig auf diese Lektüre verzichtete. 

Ich muss zu der Zeit etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt gewesen sein. Zu Hause hatte ich außer meinem Großvater keine männliche Bezugsperson, lebte in einem Dreimädelhaus ohne Vater und besuchte eine Mädchenschule, in der die Mädchen untereinander nicht immer richtig nett waren - eigentlich hatte ich alle Mitschülerinnen satt und sehnte mich  nach einer Freundin außerhalb der Schule. 

Jungen sah ich bis dahin nur von weitem, wusste nichts mit ihnen anzufangen, wusste nicht wie man mit ihnen spricht, da sie meist in Gegenwart eines Mädchens verlegen schwiegen. Früher war ich den oft rüden Jungen ängstlich aus dem Wege gegangen, weil sie  den Mädchen schlimme Wörter hinterher riefen und sich rambomäßig benahmen, besonders wenn sie in Horden auftraten. Zwar war die Erziehung eines Mädchens darauf ausgerichtet, möglichst früh einen Mann zu finden, ihn zu heiraten und damit - wie es hieß - in den sicheren Hafen der Ehe einzulaufen und finanziell abgesichert zu sein. Aber ich konnte mir beim besten Willen keinen dieser schlimmen Jungen meines Alters als Ehemann vorstellen. 

1951 beendete ich meine Jahre in der Mädchen-Mittelschule mit guten Noten. Anschließend spendierte mir meine Mutter noch ein Jahr auf der angesehenen Handelsschule Kleemann, wo ich Buchhaltung, kaufmännisches Englisch sowie Stenografie und Schreibmaschine für den späteren Büroberuf erlernte. 

Meine Mutter konnte sich nichts Praktischeres für mich vorstellen  als den Beruf einer Sekretärin, denn mit der Handelsschule würde ich als so genannte Anfängerin im Büro relativ rasch gutes Geld verdienen, ohne erst drei schlecht bezahlte Lehrjahre absolvieren zu müssen. Im übrigen würde ich (hoffentlich) bald heiraten. Dabei hatte ich mir gewünscht, das Abitur zu machen, danach wäre ich am liebsten Schauspielerin geworden. 

Die Freude am Schauspielern hatte ich in einer Laienspielgruppe entdeckt, der ich eine Zeit lang angehörte, wobei ich mit meinem Spiel viel Beifall erntete. Leider löste sich diese Gruppe aus mir nicht mehr erinnerlichen Gründen auf. 

Ich tröstete mich mit diversen Verabredungen nach dem Tanzen, denn mit zunehmendem  Alter durfte ich manche Tanzveranstaltung besuchen, zuerst die Dorffeste zusammen mit meiner Mutter, später dann in Begleitung einer Freundin Studentenbälle in Kiel. Wie den meisten Mädchen meines Alters war es mir wichtig, mit einem Jungen zu “gehen” - wie man die Freunschaften zwischen Jungen und Mädchen zu der Zeit treffend bezeichnete. “Gehen” war durchaus wörtlich gemeint, es blieb meist bei kleineren Unternehmungen wie Spaziergängen, Radtouren oder Kino und Theater, denn wichtig war hauptsächlich, sich mit einem Jungen vor  den Leuten und den gleichaltrigen früheren Mitschülerinnen zu zeigen und daraus Selbstbewußtsein zu erwerben. 

“Komm` mir ja nicht mit einem Kind nach Hause. Hier kannst Du Dich dann nicht mehr sehen lassen. Ich nehme es jedenfalls nicht!” Dieser mütterliche Standardsatz ohne irgendwelche nützlichen Erklärungen oder Hinweise überschattete jedes Zusammensein zwischen Mädchen und jungen Männern - größte Zurückhaltung war geboten. 

“Lastenausgleich” war das Zauberwort der 1950er Jahre. Es bedeutete, dass der Staat den Flüchtlingen mit dem Ausweis “A” finanziell einen Teil ihrer in der alten Heimat verbliebenen Güter erstattete. Ich weiß nicht wie der Lastenausgleich in der Praxis funktionierte, erinnere mich aber, dass meine Mutter unendliche Behördengänge und -kämpfe absolvierte, um schließlich in den Genuß einer uns ziemlich hoch erscheinenden Summe zu kommen. 

Dieses Geld investierte sie in den Bau eines kleinen Hauses auf einem Teil des väterlichen Grundstückes, das sie vorab als Erbe erhielt. Am Ende stand da ein Giebelhäuschen aus roten Backsteinen mit kleinen Zimmern sowie einer Waschküche mit heizbarem Waschkessel und einer eisernen Pumpe mit fließendem kalten Wasser, ohne Badewanne oder Dusche, aber mit einem kleinen abgetrennten Plumpsklo - ein Fortschritt, wenn wir an das Klo außerhalb des Hauses im Stall auf dem Hof dachten. Wir fanden es wunderbar. Eine Wasserleitung wurde in Mielkendorf erst viele Jahre später installiert. 

Inzwischen hatte ich die Handelsschule Kleemann mit guten Noten abgeschlossen. Frau Petersen, die Sekretärin, bat die besten Schülerinnen nun zu Vorstellungen bei verschiedenen Firmen, die wegen Bürokräftebedarfs bei ihr angefragt hatten. Ich wurde zu einem Versicherungsmakler mit Büro am Schloßgarten 12 geschickt. Frau Petersen riet mir, eine eventuelle Zusage gründlich zu überdenken und auf keinen Fall ein Monatsgehalt unter 150 DM zu akzeptieren. 

So ging ich zum Vorstellungsgespräch zu Herrn Willi Dobrick, Versicherungsmakler. Dieser schätzungsweise 35 Jahre alte Herr Dobrick musterte mich nach kurzer Begrüßung lange schweigend und herablassend. Im Gespräch wurde er dann zunehmend charmanter und freundlicher, unterbreitete mir beredt die Vorzüge einer Anstellung in seiner Firma und bot mir ein Monatsgehalt von 130 DM, nach der Probezeit dann 150 DM. Er würde mich gerne anstellen, ich solle es mir bis zum nächsten Tag überlegen.

Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, nur in einer größeren Firma mit mehreren Mitarbeitern und einem repräsentativen Büro zu arbeiten. Deshalb fuhr ich keineswegs überzeugt und immer noch enttäuscht nach Hause, um die Sache mit meiner Muter zu besprechen, die mir dann aber dringend zu dieser Anstellung riet. Sie hätte dann eine Sorge weniger, meinte sie, besonders weil zu der Zeit generell hohe Arbeitslosigkeit herrschte.  Als gehorsame Tochter folgte ich ihrem Rat. 

Schließlich tröstete ich mich mit dem Gedanken an einen Arbeitsplatzwechsel nach angemessener Zeit und unterschrieb den Anstellungsvertrag - nicht ahnend, dass ich damit gleichzeitig den Weg in meine Zukunft festlegte. So begann also am 1. April 1953 meine Tätigkeit als Allround-Bürokraft in der Firma Willi Dobrick, Versicherungsmakler. Zu der Zeit war Herr Dobrick 32 Jahre und ich 17 Jahre alt. 

Weil mein Chef meistens abwesend war und viel Zeit mit Kundenberatung vor Ort sowie mit dem Aufbau und der Erweiterung seines Kundenstammes verbrachte, war mein Job keineswegs anstrengend. Ich war oft allein im Büro und fühlte mich unterfordert. Oft genoss ich den wunderbaren Hafenblick aus dem Fenster, bei schönem Wetter konnte ich sogar, auf dem kleinen Balkon stehend, in die Wolken schauen und träumen oder mich einfach sonnen.

Da ich nun über selbst verdientes Geld verfügte, konnte ich mein Leben ein bisschen geniessen und auch zu den studentischen Tanzveranstaltungen gehen. Natürlich blieb es nicht aus, dass ich von Zeit zu Zeit Verabredungen mit dem einen oder anderen jungen Mann hatte und auch manchmal abends vom Büro abgeholt wurde. Bald war es aber nur noch Wolfgang, der mich abholte und mit dem ich von da an “ging”. 

Wolfgang war ein lieber Freund, wir haben viel gemeinsam unternommen, dennoch konnte ich ihn mir nicht als Ehemann vorstellen. Kein Problem, denn ich wollte nicht vor meinem 25. Lebensjahr heiraten und damals war ich noch nicht einmal 20 Jahre alt. 

Der etwas ältere Bruder meiner Freundin Doris wohnte in Bremen. Da Doris gerne zusammen mit ihm an einem Ort leben wollte, plante sie, sich dort eine Wohnung und eine Arbeit zu suchen. Die Geschwister fragten mich, ob ich Lust hätte, von Kiel wegzuziehen und mit ihnen in Bremen zu wohnen. Ach ja, das war`s. Ich wollte gerne wegziehen aus Kiel, möglichst sofort und weit, weit weg von meiner Mutter, denn das Verhältnis zwischen uns wurde zunehmend schwieriger. Meine Mutter war ungefähr 39 Jahre alt und nach dem Denken ihrer Zeit bekam eine “so alte Frau” keinen Mann mehr. Es gab keinen Trost für sie, denn was sollte ihr die Zukunft noch bringen, fragte sie immer wieder. 

Leider wussten wir beide noch nicht, dass ihr weit nach ihrem 40. Geburtstag noch ein Emil, ein Hannes und ein Erwin begegnen, sowie viele große, interessante Reisen und wunderschöne Erlebnisse mit dem jeweiligen Partner ihr Leben verschönern würden. Sogar ein kleines Auto würde sie sich kaufen, nachdem sie noch im Alter von 58 Jahren den Führerschein gemacht hatte. 

Inzwischen hatte ich mitbekommen, dass mein Chef mit seinen mittlerweile 33 oder 34 Jahren noch Junggeselle war, was zu dieser Zeit als völlig ungewöhnlich galt. So manches Telefonat junger Frauen stellte ich in sein Zimmer durch. Als Mitglied des nahen Tennisclubs wurde er auch manchmal abgeholt von jungen, hübschen Damen im Tennisdress. In der Kieler Gesellschaft schien er ein begehrter Junggeselle zu sein mit vielen Freunden, denn er war auch Mitglied im Reit- und Segelclub, sine Urlaube verbrachte er im modischen Westerland auf Sylt. Kurz - der ehemalige Marineoffizier führte ein flottes Junggesellenleben. Umso überraschender daher seine Reaktion auf meine mündlich geäusserte Kündigungsabsicht:

“Aber Sie können mich doch nicht so einfach verlassen und nach Bremen gehen! Das geht doch nicht! Warum heiraten Sie mich nicht einfach?” 

Auf einen Heiratsantrag war ich völlig unvorbereitet und brachte kein Wort heraus, was er wohl als Ablehnung deutete. Denn er fügte schnell hinzu, dass ich bis zum nächsten Tag in Ruhe über eine Antwort nachdenken sollte. 

Verwirrt fuhr ich an diesem Tag so langsam wie möglich nach Hause, um mich auf das Gespräch mit meiner Mutter vorzubereiten und mir über meine Gefühle klar zu werden.

Schließlich warum sollte ich diese Chance nicht ergreifen, er war ein attraktiver Mann, charmant und zuvorkommend, klug und vertrauenswürdig, strebsam und erfolgreich im Beruf, im Büro war er meistens guter Laune und es schien mir, dass er ein interessantes Leben mit vielen Freunden führte. Dass ein anscheinend so begehrter und liebenswerter Mann mich mochte, schmeichelte mir und hob mein Selbstbewusstsein. Je länger ich über sein Angebot nachdachte, desto mehr schien es mir, als sei ich schon lange ihn verliebt und desto entschlossener wurde ich, sein Angebot anzunehmen. 

Wider Erwarten war meine Mutter keineswegs begeistert über diese Neuigkeit- Sie dämpfte den jugendlichen Optimismus meiner19 Jahre und warnte mich vor dem extremen Alterunterschied. Außerdem kenne sie meinen Chef noch nicht einmal persönlich. Er möge sie, bitte schön, doch bald einmal besuchen, damit sie sich ein Urteil bilden könne, denn ohne ihr Einverständnis mit Unterschrift könne ich überhaupt nicht heiraten, da ich die Volljährigkeit erst mit 21 Jahren erlangen würde. Bis dahin sei sie mir gegenüber die erziehungsberechtigte Person. 

So fuhren Willi Dobrick und ich am nächsten Tag mit seinem Volkswagen nach Mielkendorf, damit meine Mutter sich ein Bild von ihm machen konnte. Am Ende des Gesprächs war meine Mutter beeindruckt von ihrem zukünftigen Schwiegersohn, seinem charmanten Auftreten und seiner Gewandtheit. Sie versprach ihre Einwilligung durch Unterschrift beim Standesbeamten zu bekunden und glaubte mich in besten Händen. Ihr großer Kummer war, dass sie mir “nichts mitgeben konnte”, also mir keine Aussteuer schenken und auch keine Hochzeitsfeier ausrichten, wie es üblich war für die Eltern der Braut. 

Einer Aussteuer konnte ich keine Bedeutung beimessen, hörte ich doch dieses Wort jetzt zum ersten Mal in meinem Leben. Ich sehnte mich auch nicht danach, als romantische, weiße Braut wie in einem Lore-Roman im Mittelpunkt eines großen Festes zu stehen. Daher war ich froh, dass es nur bei einem kleinen Essen nach dem Standesamt bleiben würde, auch mein Zukünftiger war mit dieser Lösung zufrieden. 

“Eines musst Du wissen: Putze nie seine Schuhe!” Das war es, was eine junge Ehefrau nach Ansicht meiner Mutter beachten musste, um ihre Würde zu bewahren und nicht den Respekt des Ehemannes zu verlieren. 

Von jetzt an verbrachte ich meine Freizeit mit meinem Verlobten. Die Verlobungszeit vor der Ehe betrug üblicherweise ein Jahr. Der zukünftige Ehemann steckte seiner Verlobten den Ehering an den Ringfinger der linken Hand, später bei der Trauung wurde der Ring dann an die rechte Hand gesteckt. Die Verlobungszeit diente dem gegenseitigen Kennenlernen. Bei Nichtgefallen konnte der Ring zurückgegeben werden, die Verlobung war dadurch gelöst. Ich behielt den Ring und nahm am 11. April 1956 leichten Herzens Abschied von meinen Mädchenträumen - voller Hoffnung in die bevorstehende Ehe.

Mit 20 Jahren war ich noch viel zu kindlich-naiv um der Zeremonie im Standesamt die nötige Bedeutung beizumessen. Im Gegenteil, ich erfasste nicht den Sinn und die Tragweite der Worte des Standesbeamten, hörte nur die Komik seiner salbungsvollen Sprechweise und war ganz und gar mit der Unterdrückung eines drohenden Lachanfalls beschäftigt. So ging ich lachend und fröhlich in diese Ehe: Fräulein Schröder war nun Frau Dobrick. Im Dezember des gleichen Jahres wurde ich mit 21 Jahren volljährig. 

Unsere Ehe ist dann eine andere Geschichte……… 

Musiktitel: Come Home  - Vortecs Creative Media

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