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Leben......

Bei uns zu Hause orientierte man sich über das tägliche Geschehen zunächst noch aus der „Bergischen Tageszeitung“, einer katholisch ausgerichteten Zeitung, die bald verboten wurde, wie viele andere Blätter in Deutschland, die der Regierung nicht passten. Aber eines Tages kündigte mein Vater an, dass er am Abend einen Radioapparat mit nach Hause bringen würde. Nun saß die ganze Familie nach dem Abendessen gespannt beisammen und wartete auf sein Erscheinen. In der Küche sollte das Gerät seinen Platz finden, hier  konnte die Antenne am einfachsten geerdet werden, an der Wasserleitung. 

Es wurde so spät, dass ich eigentlich schon längst im Bett liegen sollte, aber dieses bedeutende Ereignis durfte ich ja nun wirklich nicht verpassen. Als mein Vater dann schließlich kam, konnte ich im Schlafanzug den großen Augenblick genießen und staunend die ersten Töne aus dem Kasten hören, der „NORA Netzanschluss-Empfänger“ hieß. 

Das „erden“ der Antenne war eine wichtige Angelegenheit, die den Radiobesitzern immer wieder eingehämmert wurde. Jeden Abend endete der „Gute-Nacht-Gruß“ des Ansagers am Ende des Sendeprogramms mit dem freundlichen Hinweis: „Vergessen Sie nicht, die Antenne zu erden!“. Für uns Kinder in der späteren Straßenclique eine Floskel, die wir oft auch in anderen Zusammenhängen benutzten. Gerne versuchten wir auch die Behauptung zu verbreiten, in Flugzeugen und auf Schiffen könne es keine Radios geben. Wer daran zweifelte, sollte uns doch bitte die Frage beantworten, wie man denn da die Antenne „erden“ könne. 

Meine Mutter belagerte den „Empfänger“ besonders Ende Juli 1934 und in den ersten Augusttagen bis zu den Spätnachrichten, weil sie um das Leben des Reichspräsidenten von Hindenburg fürchtete. Es muss am Abend des 1. August gewesen sein, als sie nach den Nachrichten ins Schlafzimmer ging und zu meinem Vater den für mich besorgniserregenden Satz sagte: „Er wird doch wohl nicht sterben und uns alleine lassen!“. Ihr Wunsch war jedoch vergeblich, er hat das schon am nächsten Tag gemacht, uns „alleine gelassen“, aber es passierte nichts, was mir die große Angst meiner Mutter verständlich  gemacht hätte. 

Zwar gab es keinen neuen Reichspräsidenten mehr, dafür einen Regierungschef, der das frei gewordene Amt einfach aus eigener Entscheidung mit übernahm und sich den Titel „Führer und Reichskanzler“ zulegte. Negative Äußerungen sind mir dazu nicht zu Ohren gekommen, wahrscheinlich haben sich meine Eltern zu diesem Thema „bedeckt“ gehalten. 

Außerdem ging es mächtig „aufwärts“, die Arbeitslosen verschwanden, Not und Hunger gab es kaum noch, stattdessen aber reichlich Ordnung und Sicherheit. So klang es jedenfalls nicht nur aus dem Radio, so stand es  in allen Zeitungen, auch im „General-Anzeiger“, der jetzt bei uns abonniert war und als „linientreu“ von der Regierung weiterhin geduldet wurde. Wer allerdings im nationalsozialistischen Sinne etwas auf sich hielt, musste die „Rheinische Landeszeitung“ beziehen, das Blatt der NSDAP. Onkel Hubert hatte nach dem Verlust seiner Stellung bei der „Bergischen Tageszeitung“ als Buchdruckermeister hier einen neuen Arbeitsplatz gefunden.                                  

Zum Stellenwert  der beiden Blätter ist mir noch der Spruch in Erinnerung geblieben, den wir als Halbwüchsige  gelegentlich  kolportiert haben, hinter vorgehaltener Hand, weil  er im Hinblick auf die offizielle Bedeutung der Parteizeitung nicht ungefährlich war: „Der <General-Anzeiger> ist mir lieb und wert, die <.Rheinische Landeszeitung> ist mir am liebsten, am allerwertesten“, wobei aus der Steigerung ohne Komma und einem  Grossbuchstaben in Gedanken ein „am liebsten am Allerwertesten“ wurde. Zeitungspapier war  zur damaligen Zeit das am häufigsten gebrauchte Toilettenpapier. 

Fast noch im Herzen der Elberfelder Innenstadt liegt die katholische Kirche St. Laurentius. Groß und gewaltig kam sie mir in meiner Kindheit immer vor, mit ihrem imponierenden Gewölben, den mächtigen Säulen, den hohen, in allen Farben schimmernden Glasfenstern, dem bedeutenden Hochaltar, unterhalb flankiert von den beiden auch noch beachtlichen Seitenaltären, den schweren, dunkelbraunen Holzbänken, der feierlich klingenden Orgel und den sechs großen, den Raum von der Seite her eingrenzenden Beichtstühlen.

Zur Pfarre gehörte das vornehme „Briller Viertel“ mit schönen Villen und gepflegten Straßen ebenso, wie die Arbeitergegend am „Ölberg“, mit dem berühmt-berüchtigten Grünewalder Berg, der unmittelbar hinter der Kirche liegt und steil in Richtung Briller Straße ansteigt. Sehr proletarisch ging es hier zu und eben auch sehr kinderreich. Die solcherart  durch alle Bevölkerungsschichten gemischte Gemeinde, nahm am kirchlichen Leben in den zwanziger und dreißiger Jahren regen Anteil. Das lag auch daran, dass die Katholiken nicht nur in Elberfeld sondern im gesamten Bergischen Land in der Minderheit waren. 

Man lebe in der Diaspora, pflegte man nicht ohne Stolz zu sagen, wobei ich mir unter diesem Wort, unter Diaspora, lange Zeit nichts vorstellen konnte. Erschwert wurde diese Einsicht noch durch die irgendwann gewonnene Erkenntnis, dass wohl auch die Neger in der Diaspora lebten. Die hatten es aber offensichtlich viel schwerer als wir, denn da wurde häufig für gesammelt, für die „armen Heidenkinder“, damit die endlich ordentliche Kleidung bekamen und Christen werden konnten. 

Schwierig auch die Vorstellung, dass den „ Katholen“ keine geschlossene Gruppe gegenüber stand, sondern eine schwer verständliche Mischung von verschiedensten Ansichten: Alte und neue Reformierte, Lutheraner, Alt-Katholiken, Juden,  Atheisten - was bedeutete denn das nun wieder - und viele, viele Sekten. Es wurde erzählt, in Wuppertal gäbe es so viele solcher religiösen Gemeinschaften, wie Tage im Jahr. Die hatten zwar alle ihre eigenen Kirchen oder Versammlungsräume, aber eigene Friedhöfe hatten nur die großen Religionsgemeinschaften. An der Hochstraße lagen und liegen auch heute noch der reformierte, der lutherische und der katholische Friedhof. 

Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung kam dann noch eine große Gruppe hinzu, die aus politischen Gründen keiner Religion zugeordnet werden, den lieben Gott aber - sicher ist sicher - doch nicht ganz verdrängen wollte, diese Leute nannten sich dann einfach „gottgläubig“. Dafür verschwanden langsam aber sicher durch den staatlichen Eingriff die Sekten. 

Viele dieser Gemeinschaften hielten untereinander mächtig zusammen. So wie die meisten Menschen in unserer Pfarre. Man kannte sich, begrüßte sich entsprechend und pflegte auch den außerkirchlichen Kontakt. Im Gesellenhaus zum Beispiel, das zwei Säle hatte, den mit einer Bühne ausgestatteten „Breuer Saal“ und den „Großen Saal“. Zum Restaurant gehörte auch der „Meistersaal“. Da trafen sich an den Sonn- und Feiertagen die Handwerksmeister und rauchten zum Bier dicke Zigarren. Oder in der Gesellschaft „Parlament“, wo der Tanzlehrer Märsch, wegen seiner Vorliebe für diesen Takt auch „Marschlehrer Märsch“ genannt, den erwachsen werdenden Töchtern und Söhnen der Pfarrgemeinschaft Tanzunterricht erteilte. 

Natürlich traf man sich auch im Mütterverein, im Katholischen Arbeiterverein und im Kolpingverein. Die Kinder gingen in die katholischen Volksschulen, die Jungen am Hombüchel, die Mädchen an der Reitbahnstraße, die meisten für die gesamte Schulzeit, manche, wenn die Eltern das Schulgeld für eine weiterführende Schule bezahlen konnten, zumindest für vier Jahre. 

Freundeskreise bildeten sich. Fast selbstverständlich für viele Jungen, der Eintritt in die „Katholische Pfadfinderschaft St. Georg“. Auch ich konnte gerade noch einen Zipfel davon fassen, als „Wölfling“, dann machte der Staat dem bunten Treiben der verschiedenen Jugendverbände ein Ende. Per Gesetz gab es bald nur noch eine einzige Jugendorganisation quer durch alle Religionen und Schichten: die Hitler Jugend. Für mich und meine Altersgenossen für ein paar Jahre die normale Fortsetzung der Heimabende und Geländespiele. Dann fanden wir uns größtenteils in unseren kirchlichen Jugendgruppen wieder. 

Mein Vater, am 31. August 1887 in Hövel im Kreis Arnsberg geboren, war mit achtzehn Jahren nach Elberfeld gekommen. Er hatte schon sehr früh seine Eltern verloren und war zwischen seinen allesamt älteren Geschwistern, sechs Brüder, eine Schwester, aufgewachsen. Um ihn gekümmert hat sich aber fast ausschließlich seine zehn Jahre ältere Schwester, bis er, direkt nach der Volksschule, zum Schreinermeister Anton Hillebrand nach Asbeck in die Lehre geschickt wurde. 

Nach der Lehre gab es für ihn praktisch kein Zuhause mehr. Die Brüder waren alle verheiratet oder ausgeflogen, seine Schwester nach Paderborn in ein Kloster gegangen. Sie hat ihm aber immer wieder Briefe geschrieben bis sie 1917 verstarb. 

Ein Onkel besorgte ihm in Elberfeld eine Stelle als Schreinergeselle und dazu eine Bleibe im „Katholischen Gesellenhaus“ in der  Bergstraße. „Gott segne das ehrbare Handwerk“ hatte er mit stark westfälischem Klang in der Stimme gesagt, als er am ersten Abend den Gemeinschaftsraum betrat, doch statt der von ihm eigentlich erwarteten Antwort “Gott segne es“, nur überraschtes Schweigen geerntet. 

Den Dialekt hat er dann sehr schnell abgelegt und nur noch benutzt, wenn er aus irgendeinem Grunde zeigen wollte, dass er es noch konnte, er war nämlich stolz auf seine Heimat. Aber ansonsten legte er für sich und seine Familie Wert auf ein einwandfreies Hochdeutsch. 

Ohne Eltern und nur umgeben von seinen älteren Geschwistern, in der Lehre bei fremden Leuten auf sich alleine gestellt, war er wohl schon sehr früh selbstständig und selbstbewusst geworden. Dazu kamen sein westfälischer Dickschädel und ein leicht aufbrausendes Temperament. Lügen waren ihm zuwider, zu sehr hatte man ihm wohl nicht nur in der Schule den preußischen Grundsatz der Wahrheitsliebe beigebracht. 

„Deutscher Rat“ heißt der Spruch von Robert Reinick, den er in der einzügigen Zwergschule in Enkhausen bei jedem neu einrückenden  Jahrgang immer wieder mitbekommen hat. Gemeinsam mit seinem Banknachbarn Friedrich-Wilhelm Lübke, der in den Jahren 1951 bis 1954 als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein bekannt wurde. Auch in seinem späteren Leben hat er noch oft die ersten Zeilen zitiert, wenn auch fast immer etwas überzeichnet, indem er das Wort „Lüge“ in der ersten Silbe stark in die Länge zog: 

                        „Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr!
                          Lass nie die Lüge deinen Mund entweih´n.“  

Seltener fügte er den Rest hinzu: 

                        „Von alters her im deutschen Volke war
                          der höchste Ruhm, getreu und wahr zu sein!“ 

Zum Beginn seines letzten Schuljahres kam übrigens noch der jüngere Bruder seines Banknachbarn in die Klasse, Heinrich Lübke. Der brachte die kleine Schule in Enkhausen nicht nur in aller Munde, sondern schließlich auch ins Fernsehen, als er in seiner zehnjährigen Amtszeit  als Präsident der Bundesrepublik Deutschland sein Heimatdorf offiziell mit seinem Besuch beehrte.

In den Kriegs- und Nachkriegszeiten war die bäuerliche Heimat im Sauerland für uns auch eine stille Reserve zur Schließung bestehender Versorgungslücken. Mein Vater sah in den gelegentlichen Eier-, Wurst- und Specklieferungen auch so etwas wie eine kleine Entschädigung für das elterliche Erbe, von dem er keinen Quadratmeter, geschweige denn auch nur eine müde Mark gesehen hatte.

Zweimal verbrachte ich in den ersten Kriegsjahren auch ein paar Urlaubswochen bei Onkel Clemens. Meine beiden ältesten Schwestern hatte man 1926 nach Hövel geschickt, als meine Geburt in häuslicher Umgebung bevorstand. Die gelungene Entbindung teilte ihnen mein Vater per Postkarte mit: 

Gestern kam ein kleiner Junge bei uns an und fragte, ob er bei uns bleiben dürfe.
Da wir ja nur Euch drei Mädchen haben, haben wir zugesagt.
Da schlug er vor Freude einen Purzelbaum bis in Euer Bett hinein.
Da liegt er nun und schläft und singt abwechselnd. 

Ein Jahr zuvor hatte mein Vater sich selbstständig gemacht und eine Bau- und Möbelschreinerei gegründet. Sie war zunächst noch keine Goldgrube, richtig „rund“ lief sie erst ab 1934. Aber sie ernährte auch in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 unsere Familie, wie die ebenfalls sechsköpfige Familie des Kompagnons. Auf dem Schild über dem Eingang zur sogenannten Werkstelle in der Gertrudenstraße stand über dem Zusatz „Schreinermeister“ in großen Buchstaben „Lürbke & Hoffmann“. Als ich es richtig lesen konnte, betrachtete ich es nicht ohne Stolz, so wollte ich es später für mich auch einmal haben.

In der Familie meiner Mutter gab es einen guten Zusammenhalt. Die noch lebenden vier Brüder und drei Schwestern, alle verheiratet und mit Kindern gesegnet, hielten ständigen Kontakt miteinander. Zwar wohnte ein Bruder in Opladen und einer in Mettmann, aber das waren mit der Eisenbahn keine großen Entfernungen. Nur der jüngste Spross in Offenburg war etwas weiter weg und dadurch nebst Familie etwas seltener zu sehen. 

Der ganze Clan war sangesfreudig. Traf man sich zu Geburtstagen oder anderen Familienfesten, dauerte es nicht lange, bis das erste Lied erklang. Das ganze gipfelte dann immer in der gekonnt gesungenen Hymne „Das ist der Tag des Herrn“! Geübt und in allen Stimmlagen erprobt im Männergesangverein „Polyhymnia“, dem sie alle angehörten, nur mein Vater nicht, der hielt sich von Vereinen und Parteien absolut fern.  Er hatte sich zwar von seinen Schwägern überreden lassen, in einem Orchester mitzuwirken und Waldhorn zu blasen, aber das war es dann auch schon, abgesehen von seiner Militärzeit beim 1. Gardefeld-Regiment in Berlin. Das Waldhorn lag später bei uns zu Hause ungenutzt herum, ich habe meinen Vater nie damit spielen hören. 

Ich freute mich immer, wenn Familienfeierlichkeiten bei uns stattfanden. Schon die Vorbereitungen mit den stets großen Mengen Kartoffelsalat interessierten mich. Und dann der Abend, der große ausgezogene Tisch im Eckzimmer, voll beladen, die Erzählungen, das Stimmengewirr, die wohlriechenden Rauchschwaden der Zigarren, der Gesang, es war die reine Freude. 

Onkel Heinrich und Tante Emilie, die älteste Schwester meiner Mutter, waren gute und treue Katholiken. Wie gut, musste der älteste Sohn  leidvoll erfahren. Er wollte eine „Evangelische“ heiraten, aber in einmütiger Engstirnigkeit verweigerten seine Eltern und die protestantische Mutter seiner Freundin ihre Zustimmung. Theo und Trude fügten sich und gingen auseinander. Theo heiratete „katholisch“ und verlor tragischerweise seine Frau und einen zweijährigen Sohn in der Elberfelder Bombennacht im Juni 1943. Die Verbindung zu seiner alten Liebe ist aber nie abgerissen und nach dem Kriege ließen die beiden sich nicht mehr beeinflussen, sie heirateten 1946. 

Die allgemeine Ablehnung christlicher „Mischehen“ fand übrigens ihren Niederschlag in einem Lied, dass wir im „Deutschen Jungvolk“ gelegentlich fröhlich gesungen haben: 

            Storch Du musst jetzt nach Amerika, sprach die Mutter einst zu mir, zwei, drei, vier,
            denn Du liebst die dicke Lina, Pause, und das ist nicht und das ist nicht nett von Dir.
            Weil die Lina evangelisch und der Storch katholisch spricht, zwei, drei, vier,
            wollten es die Eltern beide, Pause, und die ganze und die ganze Sippschaft nicht. 

Meine Schwester Kläre heiratete im April 1938 ihren langjährigen Freund und Verlobten Hugo Gamm. Die kirchliche Trauung fand am 19. April in unserer Pfarrkirche St. Laurentius statt. Gleichzeitig feierten meine Eltern ihre Silberhochzeit. Entsprechend groß war der Tag geplant, beginnend mit einem feierlichen Hochamt am frühen Morgen. Leider setzte etwa eine Stunde vor der festgesetzten Abfahrt der Braut heftiger Schneefall ein. Die bestellten Taxen fuhren sich in der Marienstraße fest und hatten keine Chance rechtzeitig zu unserem Haus zu kommen. Zum Glück konnten zwei Opel-P 4 aus der Nachbarschaft organisiert werden, damit wenigstens die Braut, das Silberpaar und die Brautführerinnen zur Kirche fahren konnten. Natürlich mit deutlicher Verspätung, was den pünktlich am Portal stehenden Bräutigam in heftige Unruhe versetzte. 

Die übrige Verwandtschaft aus der näheren Umgebung hatte sich trotz Schneematsch inzwischen zu Fuß in Bewegung gesetzt, so warteten auf die Taxen nur noch mein Vetter Fritz Potthoff und ich. Und als sie dann kamen, hatte von uns beiden jeder ein Riesenauto für sich. Wie Graf Cox kam ich mir im Fond sitzend vor. Als wir nach der auf Normalmaß gekürzten Messe aus der Kirche kamen, war von dem ganzen weißen Spuk kaum noch etwas zu sehen. 

Über unserer Sippe thronte der Vater meiner Mutter, Theodor Eßer, noch mit ß geschrieben, Jahrgang 1852. Er wohnte bei der Familie eines Sohnes, Onkel Hubert, Tante Martha, Tochter Hedwig,  Sohn Hubert. Für mich, den jüngsten seiner Enkel, war er schon so alt wie Methusalem. 

So weit ich zurückdenken kann, ging er leicht gebeugt auf seinen Stock gestützt an jedem Vormittag auf immer gleichen Wegen zum katholischen Friedhof an der Hochstraße. Auf einer Bank ruhte er sich dann aus, ehe er den Rückweg antrat, auf dem er mit einem kleinen Schwenk durch die Brunnenstraße eine Kneipe an der Ecke Marienstraße ansteuerte, um dort sein Schnäpschen zu trinken. 

Und genau das war der Grund warum mein ein Jahr älterer Vetter Hubert Esser und ich unseren Großvater wann immer es ging begleiteten. Er spendierte jedem von uns in der Kneipe nämlich regelmäßig für einen Groschen einen „Quatsch“, ein Glas Wasser mit einem kräftigen Schuss Himbersaft. Das war für uns, außer Erdbeereis, eigentlich der Höhepunkt an Genuss. 

Dafür nahmen wir sogar den Weg zur Hochstraße in Kauf, obwohl uns der Friedhof selbst überaus suspekt war. Wir  gingen deshalb auch nie mit hinein, sondern warteten vor dem Eingangstor auf seine Rückkehr. War uns das Wetter zu schlecht, verzichteten wir ganz auf den Spaziergang und lauerten direkt vor dem Lokal. Wir kannten ja den ungefähren Zeitablauf und Großvater kam so sicher wie das Amen in der Kirche.     

Die letzten Lebensjahre verbrachte Opa Theodor in einem Altersheim der „Barmherzigen Brüder“ in der Stockmannsmühle. Über mangelnden Besuch brauchte er sich in Anbetracht der recht zahlreichen Familienmitglieder ohnehin nicht zu beklagen. Es war aber schon ein gewaltiger Aufmarsch, als die gesamte Sippe ihn zu seinem 85. Geburtstag, am 30. März 1937 besuchte und ihm ein Ständchen brachte. Er stand, gestützt von einem Pfleger, mit Tränen in den Augen auf einer Empore, machte mit der rechten Hand eine alles umfassende Bewegung und rief dazu: „Alle mien!“. Knapp drei Monate später starb er. An seinem Grab habe ich  bittere Tränen geweint. Tante Martha meinte hinterher dazu, ich hätte sicher an den nun ausfallenden „Quatsch“ gedacht.

Wir wohnten nicht im Tal, wir wohnten „auf dem Berg“, auf einem der vielen Berge rund um Wuppertal, auf dem Elberfelder „Ölberg“. So hieß er nicht in Anlehnung an fromme Traditionen oder christliche Werte, seinen Namen hatte ihm der Volksmund gegeben, weil in den Häusern dieser alten Gegend die Elektrifizierung erst sehr spät ihren Einzug gehalten hatte. Als die anderen Stadtteile längst versorgt waren, bestimmten hier immer noch Öl- und Petroleumslampen, später auch Gasfunzeln, das Bild der Wohnungen. Neben dem noch recht freundlich wirkenden Namen „Ölberg“, gab es aber auch noch den etwas abwertend gemeinten Begriff „Petroleumsviertel“. 

Eng gesehen grenzen vier Straßen den „Berg“ ein: Wülfrather Straße, Hochstraße, Luisenstraße und Briller Straße. Auf der anderen Seite der Briller Straße lag früher und liegt auch heute noch das Briller Viertel, mit seinen schönen Häusern und Villen, auch Villenviertel genannt. 

Es war für uns Kinder also nur ein kurzer Weg von der Dorotheenstraße durch den sogenannten „Anna-Busch“, und schon stand man in einer anderen Welt mit vielen Vorgärten, aus denen man zum Muttertag den Flieder klauen konnte. 

Für die Nationalsozialisten waren ganz besonders die Wirkerstraße und der nicht nur wegen seiner enorm hohen Geburtenrate berüchtigte Grünewalder Berg anfangs noch die Brutstätten der Kommunisten. Für uns Kinder gehörten sie zu den Relikten aus der Zeit der untereinander geführten Straßenschlachten, mit den respektvoll genannten Namen der Anführer. Eine Zeit lang lebten wir noch in der Vorstellung dieser schlimmen Jahre und versuchten mit Stöcken die Auseinandersetzungen in allerdings recht kleinen Gruppen nachzustellen. 

An den Nachmittagen meiner ersten Schuljahre gab es in den Sommerferien noch eine gemeinsam von Pfarre und Schule organisierte Schulkinderbetreuung. Klassenweise stellten wir uns direkt nach dem Mittagsessen vor der Kirche auf und dann ging es, mal mit mal ohne Gesang, in Dreierreihen über die Luisenstraße, Briller Straße, Katernbergerstraße zum Eskesberg in der Beek. Unter Aufsicht von Lehrern oder Jugendgruppenleitern konnten wir uns in dem weitläufigen Gelände des Bauernhofes nach Herzenslust austoben. Brote musste jeder selbst mitbringen, aber zur Kaffeezeit gab es für alle einen großen Becher Kakao. Am Abend ging es dann wieder in geschlossener Formation zurück zur Laurentiuskirche. 

Ansonsten vertrieben wir uns die Zeit mit Fußballspielen, „Räuber und Schanditz“ oder Bückingschlagen, natürlich auch mit dem „Jo-Jo“. Bei Wettkämpfen gab es nicht nur die zahlenmäßige Rangfolge, sondern auch eine mit „Titeln“: Kaiser, König, Ritter, Pitter, Edelmann, Bedelmann, Doktor, Pastor, Schweinemajor. Wer also bei einem Lauf als erster durchs Ziel kam, rief statt „Erster“ lauthals „Kaiser“ in die Gegend. Die als Pitter, Bedelmann oder Schweinemajor ausgezeichneten Mitläufer waren in der Lautstärke meist etwas verhaltener, dafür riefen die schon ins Ziel gekommenen Teilnehmer die Begriffe in heller Schadenfreude um so lauter. 

Wir, das waren die etwa gleichaltrigen Kinder vom oberen Hombüchel bis zur Gertrudenstraße. Der Hombüchel unterhalb der Zimmerstraße war schon wieder ein anderer Bereich. Die meisten Spielkameraden in unserer Ecke waren katholisch und gingen wie ich in die katholische Schule am Hombüchel. Aber mit den „Evangelen“ gab es keine Auseinandersetzungen. Wir versuchten höchstens die unterschiedlichen Zeiten der Gottesdienste hochzuloben oder die nur halbjährige Vorbereitung zur Erstkommunion gegen den zweijährigen „Chloroformationsunterricht“, so nannten wir den Konfirmationsunterricht, auszuspielen. 

Solche Gespräche, über die für uns wichtigsten Dinge des Lebens, führten wir meistens auf der Treppe, die früher einmal im Eckhaus Hombüchel 63 als Eingang zu einem Heißmangelbetrieb gedient hatte. Das Geschäft existierte nicht mehr, so konnten wir, vor Wind und Regen geschützt, weitgehend ungestört auf den fünf Steinstufen sitzen und palavern. 

Hier fanden  mit aller notwendigen Geheimniskrämerei die frühesten „Aufklärungsgespräche“ statt, von den „wichtigen Unterschieden“ über die „Ballons“ bis zu den „Ehestandsbewegungen“, wobei Wolfgang die bedeutendsten Erklärungen aus einem Buch lieferte, das er zufällig etwas versteckt in einem Schrank hinter anderen Büchern seiner Eltern entdeckt hatte. Hier, auf unseren Steinsitzen, fanden aber auch die Verabredungen zu unseren ersten „Rauchversuchen“ ihren Ausgangspunkt. Nachdem erst einmal von einem etwas älteren Gesprächsteilnehmer die Richtung vorgegeben war, ging alles ganz einfach. Angeben, aufheizen, ausgrenzen - „ ....der ist noch zu klein, der darf noch nicht!“ - und schon schwanden alle Bedenken. Rauch nur in den Mund nehmen und wieder auspusten, kindisch, in die Lunge musste der Qualm! 

Regelmäßig geraucht haben wir von da an nicht, aber gelegentlich musste es sein. Marke „Orienta Stern“, vier Stück für 10 Pfennig, gekauft in einem kleinen Laden neben der Schule in der Marienstraße, direkt am Schusterplatz. In der Nähe des Telefonhäuschens, in dem man bei gleichzeitigem Drücken von „Zahlknopf“ und „Geldrückgabeknopf“ trotz korrekter Verbindung den eingeworfenen Groschen wieder zurück bekam. 

Eine herrliche Möglichkeit Leute zu ärgern. Vor allen Dingen den Metzgermeister Thönnes, den wir immer als „unseren roten Bruder Plattfuß“ anredeten, weil der sich dann so ungeheuer aufregte. „Gott verdammte Blagen“ war der Oberbegriff, den er der folgenden Schimpfkanonade stets vorausschickte. Er verfügte tatsächlich über gewaltige Senkfüße und den damit verbundenen ausufernden Gang. 

Große Sorge erfasste uns, als einer aus der Clique nach einem „Rauchopfer“ verschwand und nicht mehr auf der Straße erschien. Auf vorsichtige Nachfrage hieß es, er sei krank geworden. Als wir dann auch noch einen ins Haus gehenden Arzt beobachten konnten, schien uns sicher, dass er nicht nur für sich beichten sondern auch noch unsere Namen nennen würde. Nach einer unruhigen Nacht hörten wir zu unserem Glück am nächsten Tag „nur“ von einer schweren Erkältung, vom Rauchen war nicht die Rede.

Wenn wir unseren Spieltrieb austoben wollten, konnten wir das noch mitten auf der Straße. Fahrende Autos gab es in der Gegend nur vereinzelt und wenn der Fall mal wirklich eintrat, dann war immer noch Zeit locker zur Seite zu gehen. Das galt erst recht für die etwas häufiger auftretenden, langsamen Pferdefuhrwerke. Ärgerlich nur, wenn einer von den Gäulen gerade seinen „Humus“ auf unser „Spielfeld“ fallen ließ. Das störte, auch wenn meist bald ein Gartenbesitzer mit Schaufel und Eimer auftauchte, um den erstklassigen Dünger zu vereinnahmen. 

Bei winterlichem Schneefall nutzten wir die abschüssigen Straßen als ideale Rodelbahnen. Besonders beliebt war das Stück Zimmerstraße zwischen Hombüchel und dem „Tippen-Tappen-Tönchen“, der winkligen Treppe in Richtung Luisenstraße. Leider tauchte meist schon nach wenigen Stunden ein Streuwagen auf, von dem städtische Arbeiter mit ihren Schaufeln und viel Schwung grobe Schlacke über den herrlich glatten Schnee verteilten. 

Fußball haben wir nicht nur gespielt, wir betätigten uns auch als Zuschauer, als Fans. Zunächst waren wir Anhänger des TuS „Grenze“, der auf dem Platz an der Richthofen-Straße beheimatet war. Ein kurzes Vergnügen, denn der TuS passte als Arbeiter-Sportverein nicht mehr in die neuen sportlichen Wertvorstellungen. Er wurde schon bald mit den anderen Arbeiter-Sportvereinen aus der Umgebung zu einem neuen, von „allen Schichten des Volkes“ getragenen Verein, dem VfL Wuppertal zusammengelegt.                                              

Den haben wir nicht mehr mit unserem Wohlwollen beehrt, sondern uns stattdessen mehrheitlich dem SSV Elberfeld zugewandt, der zu den Spitzenvereinen im Tal zählte und bald in die höchste Spielklasse, die Gauliga, aufstieg. Der Club war bei der Verpflichtung von Spielern in der Vergangenheit oft nicht kleinlich gewesen und hatte deswegen auch einigen Ärger mit dem DFB gehabt. Zu meiner Zeit war der zwar ausgestanden, aber so ganz haben die anderen Vereine dem Frieden nie getraut und die SSV-Spieler deshalb neidisch  als „Speckjäger“ beschimpft. Durch den ein paar Jahrzehnte später erfolgten Zusammenschluss mit der TSG Vohwinkel, wurde aus beiden Vereinen der Wuppertaler SV. 

Bald ging natürlich auch der Blick über den örtlichen Tellerrand hinaus. Die Autorennen auf dem Nürburgring, Rudolf Carraciola, Bernd Rosemeyer, Manfred von Brauchitsch, Tazio Nuvolari, das wollten wir alle gleichzeitig sein und werden. Die  Spiele der Nationalmannschaft, die Endspiele um die Deutsche Fußballmeisterschaft, Schalke 04 mit Szepan, Kuzorra, Tibulski, Mellage. 

Zeitweiliger Höhepunkt aber waren natürlich die Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Wir hingen am Radio, liefen immer wieder zum „General-Anzeiger“, wo die Ergebnisse sofort als Sonderdrucke im Schaukasten ausgehängt wurden. Noch interessanter war bald das große Tableau am Eingang zum Bekleidungshaus „Fritzsche“ am Wall. Allen Nationen waren darauf Felder zugeordnet, in die die gewonnenen Medaillen in Form von kleinen goldenen, silbernen oder bronzenen Plättchen eingeklebt wurden. Welche Freude, als der deutsche Medaillenraum nicht mehr ausreichte und die benachbarten Felder immer mehr mit einbezogen werden mussten. 

Die vielen Siegernamen, der legendäre Jesse Owens, die unglückliche deutsche Frauenstaffel, vor allen Dingen aber unsere Fußballpleite gegen Norwegen, die doch dieser Dr. Nerz durch eine völlig falsche Aufstellung verschuldet hatte, Themen die wir nicht oft genug diskutieren konnten.                                            

Und dann der Sieg von Herbert Runge im Schwergewicht. Ein Elberfelder Boxer mit der Goldmedaille, das setzte allem die Krone auf. Noch lange sind wir nach den „Spielen“ zu den Trainingsstunden des EBC in die Turnhalle an der Reitbahnstraße gegangen, um den Olympiasieger persönlich zu sehen. Und tatsächlich, einmal war er kurz da, redete mit ein paar Vereinsoberen, grüßte die anwesenden Boxer und verschwand wieder.

In unserer Straßenclique war recht früh schon das erste Fahrrad aufgetaucht. „Euken“ hatte es von seinen Eltern geschenkt bekommen, Eugen Giese. Er war ein kleiner, drahtiger Junge und wenn er aus dem Haus kam, gekonnt auf sein in der Größe zu ihm passendes Fahrrad stieg oder es zu einer kurzen Pause mit der Pedale ganz lässig am Bürgersteig abstellte, dann waren wir anderen grün vor Neid. Später soll „Euken“, dem wir alle zu jung und zu brav waren, mit anderen Kumpanen versucht haben, die Polsterstühle des „Thalia-Theaters“ in Brand zu setzen, doch da wohnte er schon nicht mehr in unserer Gegend. 

Das kleine Fahrrad aber ließ uns keine Ruhe. Jeder bettelte, weinte, jammerte seinen Eltern immer wieder die gleiche Litanei vor. Doch es dauerte noch recht lange, bis fast alle ihren Drahtesel hatten. Bei uns sträubte sich vor allen Dingen meine Mutter, aus purer Angst, bis mein angehender Schwager Alfons sich durchsetzte: „Der Junge muss ein Fahrrad haben!“. Ich durfte  mir dann ein sehr schönes „Gold-Rad“, Halbballon, in einem Spezialgeschäft in Unterbarmen abholen. Warum gerade da, weiß ich nicht, denn alle weiteren Aktivitäten wickelte ich  nur noch in dem damals sehr bekannten „Fahrradhaus Willi Müller“ an der Elberfelder Poststraße ab.

31. August 1937: Vater (rechts) wird 50, ich sitze neben ihm, dann folgt mein Vetter Hubert, ganz links sitzt Vaters ältester Bruder Eberhard,  mein Patenonkel.   

Hintergrundmusik Vortecs Creative Media - Klassik