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Chronik eines nicht stattgefundenen Heldentodes

Späte Erinnerungen in der Art eines Tagebuches,

von Siegfrid Petersen

Danewitz, Ende März 1945

Wir liegen in Danewitz nordöstlich von Bernau in Bereitstellung für die "Dritte Linie im Verteidigungsgürtel Reichshauptstadt", die bei Leuenberg verlaufen soll. Wir sind zugweise in Bauernhöfen untergebracht, schlafen in Scheunen auf Stroh und werden damit beschäftigt, die Rundumverteidigung Danewitz auszubauen: Schützenlöcher und Stellungen für lMG's rings um das Dorf, Baumstammsperren auf den Zufahrtsstraßen. Auf das Stichwort "Landgraf' sollen wir nach Leuenberg in die "Dritte Linie" vorgezogen werden. Das sind etwa 15 Kilometer Fußmarsch.

Foto: 1944 im Reichsarbeitsdienst 

Danewitz, 31. März 1945 mittags

Heute Vormittag hieß es ganz plötzlich "Landgraf' und wir waren beinahe froh, dass die stumpfsinnige Buddelei um das Dorf herum ein Ende hatte. Viel zu packen war nicht, wir haben ja nur das Notwendigste bei uns, die Rucksäcke liegen irgendwo beim Kompaniestab. Nun marschieren wir in Richtung Leuenberg. Ärgerlich ist aber für uns, dass es morgen, zum Ostersonntag, Kuchen geben sollte und dass der, wie das auf den Höfen gekochte Mittagessen in Danewitz geblieben ist .

Leuenberg, 31. März 1945 abends

Am Abend wird die ganze Kompanie in Leuenberg in den Scheunen eines großen Gutes einquartiert. Eigentlich sind wir müde genug, um sofort zu schlafen, aber wir haben seit dem Frühstück nichts gegessen und warten auf die Feldküche, die uns das Mittagessen aus Danewitz hinterher bringen soll. Die Feldküche kommt kurz vor Mitternacht und bringt außer vier verschiedenen Gerichten in einem Kessel (weil ja für jeden Zug auf "seinem" Hof etwas anderes zu Mittag vorbereitet war) auch den Befehl zum sofortigen Rückmarsch mit. Die Auslösung von "Landgraf' für uns war ein Irrtum irgendeiner übergeordneten Führung...

Danewitz, 1. April 1945

Am Ostersonntagmorgen kommen wir wieder in Danewitz an und es gibt tatsächlich den versprochenen Kuchen, Zuckerkuchen, zwei Stückchen pro Mann, jedes etwa so lang und breit wie zwei nebeneinander gelegte Finger. Als Ausgleich für den Nachtmarsch von Leuenberg nach Danewitz, vielleicht auch, weil ja heute Ostern ist, gibt es den Rest des Tages dienstfrei. Also nutze ich die Gelegenheit, meiner kleinen Schwester eine Glückwunschkarte zu ihrem heutigen Geburtstag zu schreiben, der in diesem Jahr auf den Ostersonntag fällt. Die Karte kommt zwar zu spät zu Hause an, aber bisher war einfach zum Schreiben keine Gelegenheit.

Liepe, Anfang April 1945

Kurz nach Ostern sind wir von Danewitz nach Liepe verlegt worden, das heißt, wir haben unsere Rucksäcke und den Befehl zum Packen gekriegt, und dann sind wir frühmorgens losmarschiert, ohne zu wissen wohin. Meistens ging es über Waldwege, da konnten wir uns nicht mal an den Straßenwegweisern orientieren und so einigermaßen merkten wir erst, wo man mit uns hin wollte, als wir vor dem Schiffshebewerk in Niederfinow standen.

Irgendetwas hatte aber wohl wieder nicht geklappt; in Liepe wußte die Ortskommandantur nichts mit uns anzufangen und wir dachten schon, wir müssten wieder den ganzen Weg zurück marschieren; aber diesmal wären das fast 30 Kilometer gewesen. Schließlich haben sie uns aber doch noch untergebracht, obwohl der ganze Ort voll lag mit einer Einheit der Division "Nordland". Wir liegen auf dem Heuboden über dem Pferdestall einer Gaststätte, in deren Saal und Gaststube 55 Leute untergebracht sind. Auf dem Heuboden gibt es aber in dieser Jahreszeit kaum noch Heu, wir schlafen fast auf den blanken Brettern.

Das Schiffshebewerk ist mit Dreikiloladungen vollgestopft und zur Sprengung vorbereitet, ringsherum liegen Sperrballons einsatzbereit und die ganze Landschaft vor dem Ort und unterhalb des Schiffshebewerkes steht unter Wasser. Wir werden uns nicht einig, ob es das normale Frühjahrshochwasser der Oder ist, oder ob man die Gegend absichtlich hat voll laufen lassen, um ein zusätzliches Hindernis zu schaffen.

Wir werden zum Stellungsbau eingesetzt und bauen im Wald am Ortsausgang in Richtung Eberswalde, die Anlagen für eine "dritte Linie": Schützengräben, MG-Nester, Bunker und eine B-Stelle. Ein Förster weist uns die Bäume an, die wir für den Bunkerbau fällen dürfen. Die HKL verläuft an der Oder.

Auf dem täglichen Marsch zum Mittagessen von unserer Arbeitsstelle zurück ins Quartier, werden wir einmal von einer FW 190 im Tiefflug angegriffen und beharkt. Zum Glück erwischt es keinen von uns, aber wir wundern uns doch einigermaßen und schimpfen, ob wohl der Flugzeugführer besoffen war oder die Russen jetzt auch schon mit Focke-Wulf-Maschinen fliegen.

Eines Morgens werden wir geweckt, als es noch fast dunkel ist und marschieren ganz geheimnisvoll um die große Wasserfläche herum nach Bralitz. Von dort aus starten wir einen Übungsangriff auf das Schiffshebewerk quer durch das Wasser, werden mistnass, müssen auch mal feldmarschmäßig ausgerüstet ein Stück schwimmen und erfahren, als wir am anderen Ufer ankommen, dass Reichsmarschall Göring unseren Angriff befohlen und beobachtet hat und sehr zufrieden mit uns gewesen sein soll. Weniger zufrieden ist er wohl mit der Besatzung des Schiffshebewerks gewesen, die unseren Angriff überhaupt nicht bemerkt hat. Die soll er ganz fürchterlich zur Sau gemacht haben.

Liepe, 16. April 1945

Heute sind wir früh noch im Dunkeln aufgewacht, so etwa gegen vier, halbfünf Uhr, weil unsere ganze Unterkunft gezittert hat und irgendwo weit weg war in der Luft ein Dröhnen, als wenn es ununterbrochen gewitterte. Wir wussten damit nichts anzufangen, der Leutnant sagte dann, da schössen irgendwo weiter weg große und viele Geschütze, aber mehr wusste er auch nicht. Als wir zu Mittag vom Schanzen zurückkamen, kriegten wir dann Bescheid, das Rummeln war russisches Trommelfeuer auf die deutschen Stellungen bei Schwedt, nördlich von uns, und dort sind die Russen über die Oder und haben nun einen Brückenkopf.

Weil das so ist, müssen wir ab sofort unsere noch nicht ganz fertigen Stellungen besetzen. Wir schlafen nun in den Bunkern, räumen den Heuboden, "Erhöhte Alarmbereitschaft" wird  angeordnet. Also rennen wir den ganzen Tag in voller Ausrüstung herum und dürfen nur zum Schlafen das Koppel - und bitte gefälligst nur das Koppel! - abmachen und den Stahlhelm absetzen.

Liepe, nach dem 16. April 1945

Heini Wendland und ich sollten einen Sonderauftrag unseres Kompanieführers ausführen, in Niederfinow bei einer Frau einen Koffer abholen und ihn mit der Bahn nach Berlin bringen. So sehr uns eine Fahrt nach Berlin gefreut hätte, die Marschbefehle, die wir dazu kriegten, waren so sehr provisorisch, dass wahrscheinlich jeder Brückenposten und erst recht jeder Feldgendarm sich daran gestoßen hätte. So waren wir gar nicht böse, dass der Koffer schon von jemand anders abgeholt worden war.

An einem Vormittag ist unsere ganze Kompanie halbiert worden, einfach so, mit "Antreten - zu Zweien abzählen - alle Zweier drei Schritte vortreten - rechts um - ohne Tritt marsch!" - und dann mussten sie ihr Gepäck fertig machen und sind abmarschiert. Parolen haben behauptet, die Wegmarschierten sollten nach Dresden. Stattdessen kamen am Nachmittag andere, alles Gefreite und Obergefreite, geführt von einem ganz zackigen Unteroffizier. Die kommen alle vom fliegenden und vom Bodenpersonal und sollen nun, weil doch der Sprit nicht mehr für alle Flugzeuge reicht, als Landser eingesetzt werden. Da wird der ganze Zug neu eingeteilt; mein bisheriger Gruppenführer kriegt eine Gruppe aus solchen alten Leuten, sicher, weil er vor seiner Verwundung selbst Flugzeugführer war, ­der zackige neue Unteroffizier wird Zugtruppführer und ich lande in der Gruppe eines Obergefreiten, in der ich keinen so richtig kenne. Außerdem werde ich das MG los und werde Schütze 2 an der Raketenpanzerbüchse 54; das heißt, ich trage die Munition, zwei koffergroße Holzkisten mit je 11 Kilogramm Gewicht.

Als wir noch geschanzt haben, ist der Leutnant "zum Frühstück" immer zu einer jungen Frau eingeladen worden, die in einem der Siedlungshäuser am Ortsrand wohnt. Dorthin hat er mich jetzt geschickt, ich sollte mir das Radio der Dame mal ansehen, das immer so brummt. Das Radio war aber in Ordnung, die Störungen kamen aus der Funkstelle, die die Waffen-SS im Nachbarhaus eingerichtet hatte, und da konnte ich der Frau nicht helfen.

Irgendwo in der Wasserfläche vor uns wird Nacht für Nacht um ein Schöpfwerk gekämpft, bei dem der Transformator für die Elektrizitäts-versorgung des Dorfes steht, und als dann schließlich die Russen das Schöpfwerk besetzen, ist auch wirklich das ganze Dorf ohne Strom. Uns stört das ja nicht weiter, unsere Bunker sind sowieso finster; aber der Leutnant kann nun nicht mal mehr Radio hören, wenn die SS Sendepause hat, und so schickt er mich ins Dorf. Ich soll mir besorgen, was ich brauche, um einen Detektorempfänger zu bauen. Der Dorfelektriker ist gerade nicht zu Hause, und seine Frau lässt mich auf den Boden, ich soll selbst nachsehen, ob da was Brauchbares ist. Das versteht dann aber der Mann, als er nach Hause kommt, gründlich falsch, er hält mich für einen Plünderer und will schon die Feldgendarmen rufen. Aber dann klärt die Frau alles auf, und wenn ich auch nicht kriege, was ich brauche, weil der Mann nur an Licht- und Kraftstromanlagen arbeitet und vom Radio keine Ahnung hat, so sitzen wir doch noch eine Weile bei Malzkaffee und Pflaumenmusstullen beisammen.

Liepe, 19. April 1945

Morgen ist Hitlers Geburtstag. Der Führer wird 56 Jahre alt, und wie immer hält der Dr. Goebbels am Vorabend, also heute, die Festrede. Das einzige Radio, das im Dorf noch spielt, steht in der SS-Funkstelle, weil die Kameraden dort ja einen eigenen Generator haben. Auf irgendeine Weise hat es Kurt Pohlmann geschafft, dass wir in die Funkstelle hinein dürfen. Die Rede ist dann aber ziemlich sonderbar, der Goebbels spricht immer nur davon, wie schön alles sein wird, wenn wir gesiegt haben, aber wie lange das bis dahin noch dauert, das sagt er nicht. Und als er berichtet, was er in den unterirdischen Hallen der Rüstungsbetriebe für große Kanonen mit riesigen Läufen gesehen hat, mit denen dieser Sieg erkämpft werden soll, da lachen sogar die SS-Leute über ihn. Kanonen haben nämlich keine Läufe, die haben Rohre. Läufe gibt es nur bei Handfeuerwaffen.

Liepe, 20. April 1945

Zum Geburtstag des Führers gibt es frühmorgens Marketenderware, pro Mann vierzig Zigaretten, drei hölzerne Zigarettenspitzen und eine runde Pappdose mit zwei Tafeln Schoka-Kola. Die Zigaretten werden aber nur an Leute ausgegeben, die über achtzehn Jahre alt sind, den Jüngeren (und das ist immerhin etwa die Hälfte der Kompanie) ist das Rauchen durch das Jugendschutzgesetz verboten. Die Zigarettenspitzen geben sie uns; aber was sie wohl mit den Zigaretten machen, die da zu viel sind? Oder wenn wir statt der Zigaretten wenigstens doppelte Schokoladenrationen kriegen würden ...

Im Laufe des Vormittags kommen die Russen nun auch südlich vom Kanal über die Oder, und so wird die Räumung von Niederfinow angeordnet. Sie erfolgt nach Norden, also unter dem Schiffshebewerk hindurch und dann auf der Straße nach Eberswalde an unseren Stellungen entlang.

Zuerst kommen Ackerwagen mit Planen drüber, mit Pferden oder Kühen bespannt, und dann kommen Frauen und Kinder mit Handwagen. Wie es aussieht, haben die wohl nur das Bettzeug und ein paar Lebensmittel aufgeladen - und die meisten Kinder weinen. Ich stelle mir vor, wie das wohl zuhause ausgesehen haben mag, als die Amis dort eingezogen sind. Ob wohl meine Mutter und meine kleineren Geschwister auch so ...? Und dann verteile ich meine gerade empfangene Schokolade auf der Straße an die Kinder; aber die reicht nicht lange.

Eine Oma, die mit ihren drei Enkelkindern einen hoch vollgepackten Handwagen zieht, verpustet sich bei mir ein bisschen und sagt: "Wir gehen nicht weit. Ich hab' das Bettzeug und den Spaten mit, das Beil und alles, was noch zu essen da war. Ein Stückchen weiter bauen wir uns im Wald eine Höhle, und da warten wir ab. Wir können sicher bald zurück. Na, und die Nähmaschine haben wir natürlich auch mitgenommen ... ". Das verstehe ich. Die Nähmaschine ist zuhause auch das Wichtigste, mit der wird das Geld verdient.

Gegen Mittag wird dann auch die Räumung von Liepe befohlen, und das ganze geht von vorn los: Zuerst Ackerwagen mit Planen drüber, und dann Frauen und Kinder mit hochbeladenen Handwagen, und die Kinder weinen. Jetzt ist es schon dunkel, und immer noch weinen Kinder auf der Straße.

Liepe, nach dem 20. April 1945

In der Nacht zum 21. April brennt das große Sägewerk in Bralitz ab, das uns gegenüber auf der anderen Seite des Wassers liegt. Wir rätseln herum, ob es angezündet worden ist, damit es den Russen nicht in die Hände fällt, oder ob es die Russen in Brand geschossen haben. Es ist jedenfalls ein schaurig schöner Anblick, die hoch auflodernden roten Flammen und ihr Spiegelbild im Wasser, und später dann die kleinen Flammen, die immer wieder aus der Glut aufzüngeln. Wir stehen lange und blicken über das Wasser hin.

An einem der nächsten Tage fährt plötzlich auf der Straße von Eberswalde her eine Kolonne an unseren Stellungen vorbei und in den Ort hinein. Zwei, drei große LKW mit Mannschaften und ein alter Panzerspähwagen. Was das für ein Verein ist, können wir nicht rauskriegen; die Fahrzeuge haben natürlich keine Nummernschilder, und als taktisches Zeichen haben sie ein Rechteck mit einem Eichenblatt drin, so ähnlich, wie die Kragenspiegel von einem SS-­Standartenführer. Den Tarnanzügen und der guten Bewaffnung nach ist es wohl SS, und irgendwer erzählt was von einer "Eichenlaub-Division" der Waffen-SS; aber von der haben wir bisher noch nie etwas gehört.

Die Leute auf den LKW haben lauthals gesungen, alle möglichen mehr oder weniger anständigen Texte, und mir ist dabei eine Frontzeitung der letzten Tage eingefallen, "Panzerbär" hieß sie wohl, und in der stand, dass die Russen vor einem Angriff immer Schnaps kriegen, also nur betrunken angreifen. Sehr nüchtern schienen mir aber die Landser auf den Autos auch nicht grade zu sein. Kurze Zeit später sind sie dann wieder zurück und haben immer noch ihre Lieder gegröhlt - und wir hatten schon gedacht, der Gegenangriff hätte angefangen...

Die Klosterwegbrücke, auf der man von unseren Stellungen nach Eberswalde hineinfährt, ist gesprengt worden. Seitdem werden wir nicht mehr aus Eberswalde verpflegt, sondern aus irgendeinem Dorf hinter unseren Stellungen. Es gibt kein warmes Essen mehr, aber dafür jeden Tag für zwei Mann ein Brot und Unmengen von Marmelade und frischem Gehacktem.

Gegenüber haben die Russen über dem Wasser einen großen Lautsprecher aufgebaut und machen Musik für uns. Die Entfernung ist aber zu groß, der Schall verläuft sich auf dem Wasser, und man kann nur erraten, was da gespielt wird. Wenn jemand spricht, dann versteht man nur hier und da ein Wort. Es scheint aber ein Deutscher zu sein, der dort redet.

Ottchen Safarek, einer von unseren beiden Förstern, hat im Auftrag des Leutnants ein Reh geschossen. Weil er dazu seine MP 28 benutzen musste und vergessen hat , sie auf "Einzelfeuer" zu stellen, hat er dem armen Tier fast ein ganzes Magazin hineingejagt, knapp 30 Schuss, aber nun ist es auch wirklich ganz tot, und morgen soll es also als warme Mahlzeit Rehbraten geben.

Liepe, 26. April 1945

Heute sind die Essenholer mit leeren Händen zurückgekommen. Nicht sehr weit hinter uns sind sie auf Russen gestoßen, da haben sie sich nicht mehr weiter getraut und sind umgekehrt. Also sind wir wohl eingekesselt. Aber zu Mittag gibt es erst mal den Rehbraten.

Am Abend läßt der Leutnant den Zug am Schießstand hinter unseren Stellungen antreten. Die Kompanie räumt ihren Abschnitt und wird verlegt. Nachtmarsch, Ausbruch aus dem Kessel, Ziel noch unbekannt, Marschrichtung etwa Nordwest, Feindberührung möglich. Ich binde meine beiden "Koffer", die Munikisten für die Raketen-Panzerbüchse 54, jede so ungefähr 22 Pfund schwer, mit einem Stück Wäscheleine zusammen und hänge sie mir über die Schulter. In den Händen kann man so etwas auf dem Marsch nicht tragen. Sonst habe ich aber nur mein persönliches Gepäck, das "Ofenrohr" trägt der Schütze 1, und ein Gewehr steht mir als Schütze 2 zwar zu, es gibt aber nicht genug davon, die reichen nicht für alle.

Es geht eine Weile schnurgerade auf Kopfsteinpflaster durch den Wald, und dann treffen wir auf eine asphaltierte Straße. Der Mond scheint, auf einer Böschung liegt ein umgekippter Schwimmkübel. Hier irgendwo sollen die Essenholer die Russen gesehen haben. Wir bleiben auch nicht auf der Straße, sondern laufen auf der anderen Seite querfeldein weiter bis an eine zweigleisige Bahnstrecke. Dort müssen wir eine ganze Weile warten -, vielleicht, um sicher zu sein, dass kein Zug kommt - und dann überschreiten wir sie auf breiter Front und sammeln auf der anderen Seite.

Später - es dämmert schon etwas - kommen wir auf einem Feldweg mit Kopfsteinpflaster an eine Brücke über eine Autobahn. Unter uns ist ein riesiges Durcheinander - Flüchtlingstrecks und Wehrmachtskolonnen, auf beiden Fahrbahnen in Richtung Süden, mit furchtbarem Geschrei, Viehgebrüll und Motorenlärm - aber wir bleiben auf unserem Feldweg.

Ein Stück weiter steht auf einer Koppel eine riesige Kuhherde. Die Tiere brüllen und weil wir mal wieder halten und auf irgendetwas warten müssen, versucht einer von uns ein Kochgeschirr voll Milch zu ergattern - aber ohne Erfolg. Wer weiß, woher die Tiere bis hier getrieben wurden, und wie lange sie nicht gemolken worden sind - und was weiter mit ihnen wird?

Wir passieren noch ein paar schlafende Dörfer - oder sind sie schon evakuiert? - und es wird langsam hell.

O.U., 27. April 1945 morgens

Im letzten Dorf habe ich ein uraltes Schild gesehen: "Amt Grimnitz". Wir halten außerhalb des Dorfes auf einer Chaussee, und links unter uns liegt eine unebene Wiesenfläche mit einem kleinen Wasserlauf. Hier sollen wir bleiben, auf der Wiese eine Riegelstellung in Richtung Süden bauen und Unterstände für uns einrichten, denn das, was da irgendwer schon vor uns gebaut hat, sind nur bessere Erdlöcher. Für unser Ofenrohr kriegen wir einen Platz direkt am Rand der Straße zugewiesen und graben uns dort ein. Wir haben Glück, im Damm, auf dem die Straße verläuft, lässt es sich leicht schanzen, keine Wurzeln, keine Klamotten, und so sind wir schnell fertig.

Dann schickt mich der Leutnant zurück ins Dorf, irgendetwas Essbares auftreiben, denn anders gibt es hier wohl kein Frühstück - oder schon Mittag? Im ersten Haus wohnt anscheinend eine polnische Familie; eine alte Frau empfängt mich mit einem Kruzifix, und gleich hinter der Haustür hängt ein grellbuntes Marienbild. Die Alte versteht mich erst gar nicht, und dann kann sie sie mir nichts zu essen geben, sie hat wahrscheinlich selber nichts. Das zweite Haus steht leer, ­wahrscheinlich sind die Leute schon evakuiert oder auf eigene Rechnung abgehauen - aber im Stall finde ich eine einzelne Gans, der ich mit einigen Schwierigkeiten den Hals umdrehe. In der Küche gibt es einen großen Einwecktopf und im Keller Kartoffeln -also Kartoffelsuppe mit Gänseklein - im Küchenschrank eine Pfundtüte mit einem mir unbekannten Getreide, das ich nicht kenne. Vielleicht Hirse? Ich lade alles auf eine Schubkarre, die auf dem Hof steht und fahre so zurück zu meinen Leuten. Die schlafen alle, aber jetzt müssen sie ran zum Kartoffelschälen, irgendwer nimmt sich die Gans vor, und dann schlafe ich plötzlich selbst ein und werde erst wieder wach, als die Suppe fertig ist.

O.U., 27. April 1945 mittags

Nach dem Essen tritt die ganze Kompanie auf der Straße neben der angefangenen Stellung an, und der Kompaniechef verliest mehrere Befehle:
Tagesbefehl aus dem Oberkommando der Wehrmacht: Der Reichsmarschall hat dem Führer gesundheitshalber alle seine Ämter zur Verfügung gestellt und sich auf sein Landgut in Bayern zurückgezogen, wo er in Zukunft als Privatperson behandelt zu werden wünscht.

Tagesbefehl aus dem Oberkommando der Luftwaffe: Der ehemalige Reichsmarschall ist als fahnenflüchtig zu betrachten, die Division hat die weißen Spiegel und die Ärmelstreifen abzulegen und heißt ab sofort 37. Luftwaffen-Felddivision. Spiegel und Ärmelstreifen haben wir als Rekruten nie empfangen, brauchen wir also auch nicht abzulegen. 

Kompaniebefehl: Die Arbeit an der Riegelstellung ist sofort einzustellen; die Kompanie sammelt um 18.00 Uhr am Friedhof zum Abmarsch, um einer drohenden Einschließung zu entgehen.

Als ich mit meinen Munikoffern am Friedhof ankomme, bietet mir Unteroffizier Pohlmann an, die Kästen mit auf den Handwagen zu packen, den sich seine Gruppe im Dorf besorgt hat. Beim Antreten können wir dann ein Seeufer erkennen, über dem der Himmel eine ganz unwirkliche Farbe zeigt, wie kurz vor einem Gewitter.

Auf dem Marsch, 27. April 1945 abends

Kurz nach dem Abmarsch überqueren wir die Autobahn, die jetzt völlig leer ist, und dabei bricht der organisierte Handwagen zusammen. Bevor er gesprengt wird, nehme ich mir noch eine Panzerfaust  - und denke gar nicht daran, dass ja in meinen Kisten auch noch einiges von meinen Privatsachen untergebracht ist, Briefe, ein paar Bücher, Waschzeug, Reservewäsche. Gleich danach beginnt das Gewitter, das sich schon beim Antreten angekündigt hat. Wir gehen im Gänsemarsch durch dichten Wald und strömendem Regen, und es blitzt und donnert rings um uns.

Weil es vor uns im Wald plötzlich sehr laut wird - ein Spähtrupp behauptet, dort bauten die Russen eine Brücke - müssen wir runter von der Straße und laufen quer durch den Wald. Der ist völlig versumpft, und  manchmal laufen wir bis an die Brust im Modder. Kurz vor einem Dorf namens Pralow kommenwir wieder auf festen Boden.

Friedrichswalde, 28. April 1945 morgens

Das nächste Dorf heißt dann Friedrichswalde, Im beginnenden Morgengrauen marschieren wir ein Stück hinein, dann kommt das Kommando "Spitze halt - ­nach vorn aufschließen!" - und dann kommt gar nichts mehr. Eine Weile stehen wir auf dem Sommerweg herum. Auf der Dorfstraße fahren immer wieder Flüchtlingswagen vorbei, die aus der gleichen Richtung kommen wie wir, dann löst sich der ganze Haufen plötzlich von selbst auf und jeder sucht sich irgendeine Sitzgelegenheit.

Nach einer Weile kommt der kleine Heini Wendland, der jetzt Kompaniemelder ist, und bringt einen Befehl: "Bis zur Kirche, dann über die Bahn, links auf dem Gut sammeln!". Mehr oder weniger begeistert setzen sich alle wieder in Marsch, aber jetzt in ziemlich lockerer Ordnung. Um mich herum sind wieder lauter fremde Gesichter, und so halte ich mich an Heini Wendland, denn wir beide waren noch in Danewitz mal zusammen eine IMG-Bedienung, und so bin ich nicht ganz so allein unter lauter Unbekannten.

Wir finden die Kirche und den Bahnübergang und sehen dann - es ist jetzt hell geworden - etwas außerhalb vom Ort ein Gehöft liegen. Da also sollen wir uns wohl sammeln. Dort sieht es aber gar nicht nach "Sammeln" aus. Ein paar Luftwaffenoffiziere mit roten Spiegeln, also von einer Flak-Einheit, laden hastig irgendwelche Koffer und Kästen auf einen LKW. Sie schnauzen uns an, als wir uns melden, sie hätten zu tun und wir sollten uns an unsere Einheit wenden. Von der gibt es aber hier nur Mannschaftsdienstgrade, soweit wir das sehen können, und die richten sich alle irgendwo zum Schlafen ein.

Also suchen wir auch einen Schlafplatz. Zuerst versuchen wir, auf dem Boden über einem Hühnerstall unterzukommen, aber da haben es sich schon andere vor uns bequem gemacht, dort ist kein Platz mehr. Dann finden wir in einer Scheune auf der Tenne einen aufgebockten PKW, einen großen Mercedes. Der ist nicht verschlossen und hat schöne weiche Lederpolster, aber als wir gerade richtig bequem liegen, scheucht uns ein Unteroffizier von der Flak wieder hoch und brüllt etwas von "Feiglinge - wollen sich hier verkriechen - am besten gleich aufhängen oder erschießen!"

Aus dem Auto lasse ich eine MP 38/40 mitgehen, die hat irgendwer dort liegen gelassen, und ich wundere mich darüber, dass da jemand so schlecht auf sein Schießeisen aufgepasst hat. Aber nun habe ich doch wenigstens eine Knarre, ­noch dazu eine, wie sie einem Rekruten gar nicht zusteht. Auf dem Hof treffe ich dann einen Stabsgefreiten, der in Tegel mal mein Gruppenführer-Stv. war, und der schenkt mir eine angefangene Büchse Kochkäse und eine Tüte mit etwas Zucker. So komme ich auch noch zu einem Frühstücksersatz.

Dann rennt plötzlich alles in einer Ecke des Hofes zusammen, dort steht ein Major in Feldgrau - wohl von der Infanterie - und schreit etwas von "durchgebrochene Kavalleriespitzen am Bahndamm" und "zum Gegenstoß ausrücken" und teilt mich einem Gefreiten, der ein MG 42 trägt, als Schütze 2 zu. Ich kriege zwei Gurte, die hänge ich mir um den Hals und dann geht es im Gänsemarsch runter vom Hof, rechts um das Gut herum und durch eine Schonung aus kniehohen Kiefern in Richtung Waldrand. Der Gefreite ist auch von der Luftwaffe und war zuletzt in Holland im Erdkampf eingesetzt. Das beruhigt mich irgendwie; da hat doch wenigstens einer von uns beiden schon etwas Erfahrung.

Vom Waldrand her kommen uns Leute mit blutigen Uniformen und schmutzigen Verbänden entgegen - ddas sind wohl Verwundete? - und dann laufen wir noch ein Stück in den Wald hinein und bringen schließlich das MG hinter einem großen Stubben in Stellung. Wir liegen noch gar nicht sehr lange hinter dem Stubben, da sagt der Schütze 1 plötzlich: "Fertig - jetzt ..." und dann rattert das MG los und die gegurteten Patronen rutschen mir durch die Finger. Ich sehe gar nicht, wohin der schießt, ich muss mich voll auf den Gurt konzentrieren - ich bin doch Überhaupt nicht am 42-er ausgebildet, nur am 15-er, und da gab es keine Gurte, nur Munitionstrommeln. Dann hört es plötzlich auf zu rattern, und der Schütze 1 holt eine völlig zusammengestauchte Hülse aus dem Verschluss. "Scheißlackmunition, " sagt er, "brennt fest", und will weiterschießen, aber da passiert sofort dasselbe. "Zu heiß geworden - Laufwechsel !" sagt er und macht die Laufwechselklappe an der Seite auf - aber ich habe gar keinen Reservelauf gekriegt, und auch keine Asbestlappen zum Anfassen, nur die beiden Munitionsgurte mit den lackierten Stahlhülsen. Da nimmt er meine gefundene MP und will mit der weiterschießen, aber die schießt auch nicht - und da sagt er: "Da hilft nur noch abhauen - halbrechts nach hinten, da kommen wir vielleicht noch raus hier…!“

Und dann rennen wir durch den Wald und rennen, und mit uns rennen noch viele andere, und plötzlich, in einer Schonung, ist es, als ob die Luft um mich zerreißt, und ich kann auf einmal nichts mehr hören, die Kiefern um mich herum fallen einfach um, und dann kommt mir plötzlich der Gedanke "Granatwerfer!? Nichts wie weg hier . . . " und ich renne und renne, immer hinter irgendwelchen anderen Landsern her oder mit ihnen mit ...! Dann stehe ich mit ein paar anderen, die ich alle nicht kenne, auf einem Waldweg an einem hölzernen Wildgatter, und der Kochkäse und der Zucker fallen mir aus dem Gesicht. Aber hören kann ich wieder und ein älterer Obergefreiter klopft mir auf den Rücken und sagt: "Zum ersten Mal Rabatz gekriegt, ja? Irgendwo kommt's da bei jedem raus, und oben ist auf jeden Fall sauberer als unten…!"

Auf dem Waldweg kommen wir zu einem Forsthaus, und dort organisiert irgendjemand wieder irgendeine neue Verteidigungslinie. Bei meiner MP war der Schlagbolzen abgebrochen, die habe ich im Wald liegen gelassen. Dafür kriege ich jetzt zwei Panzerfäuste und einen Platz hinter einer großen Kartoffelmiete, von dem aus man in einen Wiesengrund hinabsehen kann, in dem ein Bauernhof liegt. Das könnte der sein, auf dem wir heute früh noch waren, kann aber auch ein ganz anderer sein.

Schorfheide, 28. April 1945 mittags

Ich liege immer noch hinter meiner Kartoffelmiete. Hinter uns am Waldrand liegt neben einem umgekippten Flüchtlingswagen ein großer Steintopf mit Schweineschmalz, da mache ich mir das Kochgeschirr voll, esse das Schmalz mit dem Löffel und kriege so sogar zu Mittag etwas in den Magen.

Vor dem Bauernhof im Grund unter uns laufen irgendwelche Figuren herum; die sehen gar nicht aus wie deutsche Landser - das werden doch nicht etwa Russen sein? Dann müssten wir ja jetzt auf die schießen, aber es kommandiert niemand "Feuer frei", und es ist ja auch ziemlich weit bis da hinunter. Doch dann tritt mir ein fremder Leutnant, so ein ganz junger noch, wohl nicht viel älter als ich, in den Hintern und schnauzt mich an, ich solle endlich meine Panzerfäuste abschießen, worauf ich denn eigentlich noch warte!  Was der da will, mit Panzerfäusten auf die Entfernung und dann noch auf Personenziele, ­das nützt doch gar nichts, aber laut sage ich: "Ich weiß gar nicht da sind wohl keine Zünder drin ", und er verschwindet.

Die Figuren da unten sind auch nicht mehr zu sehen, und dann höre ich hinter uns auf dem Weg eine bekannte Stimme. Das kann nur mein ehemaliger Gruppenführer aus der Ausbildung in Tegel sein, der Kurt Pohlmann - und da steht er wirklich, mit seiner ganzen Gruppe, die er jetzt führt, und mit einem Pferdewagen mit einem Verwundeten darauf. Der Kurt hat, das fällt mir gleich auf, als Beutestück ein russisches Schnellfeuer-Gewehr. Bloß, wo kriegt er dazu die Munition her? Das ist doch Kaliber 7,62, da paßt unsere Karabinermunition mit 7,92 mm überhaupt nicht ... 

Ich bin froh, wieder bei jemanden zu sein, den ich kenne, und dann taucht auch noch plötzlich unser Kompaniechef auf und er freut sich auch, Leute von seiner Kompanie gefunden zu haben. Als er dann ruft: "Ist hier noch jemand von der Siebenten von “Hermann Göring?", da kommen aus allen möglichen Ecken und Winkeln Landser und stellen sich zu uns. Viele davon sind offensichtlich von ganz anderen Truppenteilen, Artillerie, Flak und Infanterie, sogar Marine mit goldenen Knöpfen und Litzen, aber sie sind wohl alle froh, dass da jemand ist, der etwas tun will - auch, wenn sich wohl gar keiner vorstellen kann, was jetzt getan werden muss. Aber der Alte ist ja schließlich Offizier... Der Chef läßt den Haufen antreten und sagt dann: "Wir ziehen uns nach Nordwesten zurück!" - und fast alles, was hier herumsteht, setzt sich in Bewegung.

Wir laufen auf einem schnurgeraden Waldweg. und aus dem Wald rechts und links kommen immer wieder Leute und auch noch ein paar Offiziere und schließen sich an, und der Haufen wird immer größer. Dann teilt sich der Weg, und da gibt es Streit. Ein dicker Hauptmann ohne Mütze und mit braunen Spiegeln, also wohl von den Luftnachrichten, behauptet, wir müssten links entlang, sonst kämen wir nie hin, und fuhrwerkt mit dem Finger in der Karte herum, die unser Alter hat. Der Alte will aber rechts entlang, und die beiden können sich nicht einig werden, mir kommt es beinahe so vor, als wenn die gar nicht wüssten, wo sie überhaupt hin wollen - und wo wir jetzt sind, wissen sie wohl sowieso nicht .

Dann rattert plötzlich vor uns im Jungwald ein schwerer Motor los, und es klappert und klirrt, als wenn mit einem großen Kettenschlepper Langholz gerückt würde. Irgendwer schreit: "Panzer . . . !" -und dann rennt wieder alles, ganz egal, in welche Richtung. Ich versuche, mich bei Kurt und dem Alten zu halten, die nach rechts gelaufen sind. Als wir über eine breite Schneise laufen, wird mir die eine Panzerfaust, die ich immer noch mitschleppe, zu viel, und ich will sie fallen lassen, scharf ist sie ja sowieso nicht. Da stößt mich jemand in den Rücken und flucht: "Verdammter Lausebengel! Wirst Du wohl die Panzerfaust mitnehmen! Das einzige, wovor der Iwan Angst hat!" Der mich da anbrüllt, ist Bataillonsführer beim Volkssturm, in einer NSKK­-Uniform mit der weißen Volkssturmarmbinde und mit drei Sternen auf den Kragenspiegeln. Der hat schon deswegen was zu sagen, weil er viel älter ist als ich und weil er ein funkelnagelneues Sturmgewehr 44 trägt. Also hebe ich die Panzerfaust wieder auf und werfe sie erst weg, als er ein ganzes Stück vor mir läuft.

Als die Rennerei dann endlich vorbei ist, sind wir noch sechs Mann - der Oberleutnant, Kurt, drei Mann aus seiner neuen Gruppe, die ich noch nicht kenne, und ich. Wir bewegen uns vorsichtig durch Hochwald, kommen an eine Straße, die wir schnell und tief gebückt überqueren, und als es wieder - diesmal hinter uns- ­klappert und klirrt und nun sogar ich weiß, dass das Panzerketten sind, rennen wir immer tiefer in den Wald hinein, und da werfe ich schließlich auch meinen Brotbeutel weg, weil der so schwer ist mit dem Kochgeschirr voll Schmalz und der Tüte mit Hirse und mich beim Rennen hindert. Schließlich finden wir eine dichte Schonung, und in der machen wir Halt und kommen etwas zur Ruhe. Zumindest sind wir hier nicht gleich zu sehen.

Schorfheide, 28. April1945 abends

In der Schonung haben wir tatsächlich etwas Ruhe, wenn es auch draußen immer wieder knallt. Wir haben uns eine flache Mulde geschanzt, in die alle sechs reinpassen, haben die Zeltbahnen ganz flach drüber gespannt und  den ausgehobenen hellen Sand getarnt - von außerhalb der Schonung dürften wir jetzt nicht zu sehen sein. Dann haben wir alles Essbare zusammen gelegt - aber das ist nicht viel: Eine Packung Schoca-Cola, eine Viertelliterflasche mit Schnaps, die der Oberleutnant hat, und eine einzelne Zwiebel, die sich bei Kurt findet, ist alles. Ich ärgere mich, dass mein Brotbeutel weg ist, da war noch die Tüte mit der Hirse von gestern und das Kochgeschirr voll Schmalz von heute drin. Aber der liegt nun irgendwo außerhalb der Schonung.

Der Alte verteilt den Schnaps und die Schokolade, dann dämmert es auch schon, und obendrein fängt es an zu nieseln. Wir legen uns in unser Loch und versuchen zu schlafen. Aber daraus wird zunächst nicht viel. Aus dem Nieseln wird richtiger Regen, unter den Zeltbahnen ist es zwar trocken, aber auf ihnen sammelt sich das Wasser, und immer, wenn jemand dagegen stößt, läuft es uns auf die Köpfe oder die Füße. Irgendwer hat den Einfall, es in den Kochgeschirren aufzufangen, aber da geht nicht viel rein, und dann läuft es uns wieder in unser Loch. Jedenfalls kommen wir erst weit nach Mitternacht zum Schlafen.

Schorfheide, 29. April 1945 morgens

Nach furchtbar unruhigem Schlaf wache ich im Morgengrauen auf. Es hat aufgehört zu regnen, und ringsum im Wald ist es jetzt ganz still. Ich denke, da könnte ich eigentlich meinen Brotbeutel holen, der muss doch gleich vor der Schonung liegen, das kann gar nicht weit sein. Es ist aber weiter, als ich gedacht habe, beinahe schon an der Straße, über die wir gestern gekommen sind, und bevor ich den Brotbeutel entdecke, finde ich in einem Graben das Schnellfeuergewehr, das Kurt gestern wohl auch weggeworfen hat. Jetzt geht aber auf der Straße der Verkehr los, ich muss sehr lange still liegen und komme nicht weg, weil dort eine größere russische Einheit vorbei marschiert, direkt vor mir entlang. Ich habe eine Heidenangst, dass die mich entdecken. Dann kommt mir Kurt entgegen, und ich bin froh, dass er nicht früher gekommen ist, denn dann wäre er den Russen auf der Straße direkt in die Arme gelaufen.

Schorfheide, 29. April 1945 mittags

Mit der Hirse und dem Schmalz aus meinem Brotbeutel, Kurts Zwiebel und dem Wasser, das nachts in unsere Kochgeschirre gelaufen ist, kocht der eine Herbert (zwei von Kurts Leuten heißen Herbert und der dritte heißt Kurt) drei Kochgeschirre voll dicker Suppe. Für das Feuer räumen alle aus, was sie an Papier entbehren können, und ich sammle von den jungen Fichten ringsum die trockenen unteren Äste ab. So haben wir ein Feuerchen, das fast nicht raucht, obwohl sonst ringsum alles nass ist.Die Suppe schmeckt zwar ein bisschen nach der Zeltbahnimprägnierung, aber sie ist schön heiß und mächtig fett, mit dem ganzen Schmalz, das der Herbert mit der Zwiebel ausgelassen hat.

Im Wald draußen ist es wieder unruhig geworden. Mal hier, mal da wird aus MPi's geschossen. Wird da noch richtig gekämpft -oder jagen die Russen versprengte Landser? Wir werden noch viel vorsichtiger, trauen uns kaum noch, uns zu bewegen. Der Alte berät flüsternd mit Kurt, was nun weiter werden soll. Die anderen werfen hier und da auch mal ein Wort ein, mich als den Jüngsten, fragt gar keiner. Schließlich werden sie sich einig, in Nachtmärschen in Richtung Nordwest zum Ami, der ja schon an der Eibe stehen soll. Geschossen wird nicht mehr, wir marschieren unbewaffnet, die Karabiner und das MG 34, das der neue Kurt mitgeschleppt hat, bleiben hier. Tagsüber wird im Wald geschlafen, und Verpflegung muss irgendwie organisiert werden.

Der Herbert, der die Suppe gekocht hat, sagt in der geflüsterten Unterhaltung, er wäre ja eigentlich gern als Unteroffizier aus dem Krieg nach Hause gekommen. "Aber das machen wir doch", sagt der Chef, holt seinen Meldeblock aus der Kartentasche und schreibt vorschriftsmäßig  "Ersatzbescheinigungen", mit seiner Unterschrift auf der rechten und "In Ermangelung eines Dienstsiegels - ­Unterschrift" auf der linken Seite. Kurt macht er zum Feldwebel und verleiht ihm das EK I, weil der das EK II schon hat, die Gefreiten werden Unteroffiziere und kriegen das EK II, und ich werde Gefreiter und ein EK II kriege ich auch. Dienstgradabzeichen und Auszeichnungen sollen wir in Empfang nehmen, wenn wir wieder auf deutsche Truppen treffen.

Dann bringt uns der andere Herbert, der aus Oberschlesien kommt und behauptet, etwas Polnisch zu können, bei, wie "Nicht schießen!" auf Polnisch heißt (auf Russisch, sagt er, klingt das ganz ähnlich), und wir üben das flüsternd. Wenn wir nicht mehr schießen wollen, müssen wir das den Russen doch auch sagen können, falls wir sie treffen. Schließlich stellen wir fest, dass sich außer uns in der umzäunten Schonung noch eine Wildsau mit ihren Frischlingen aufhält, und nun traut sich gar keiner mehr, sich zu bewegen, und alle warten darauf, dass es endlich dunkel wird und wir raus können in den Wald. Kurz danach zieht ein Trupp Russen keine fünfzehn Meter von uns entfernt draußen am Zaun entlang, und da kriegen wir denn auch mit, warum das dauernd da draußen knallt, denn immer, wenn die Russen sich gegenseitig anrufen oder auf etwas aufmerksam machen wollen, schießen sie einfach einen Feuerstoß in die Luft. Mann, müssen die eine Menge Munition haben.

Schorfheide, 29. April 1945 abends

Die Dämmerung bricht herein und es wird ruhig im Walde. Als es richtig dunkel ist, der Mond steckt hinter dicken Wolken, brechen wir auf. Wir nehmen nur das Nötigste an Gepäck mit: Mäntel und Decken, Zeltbahnen, Kochgeschirre. Alles andere haben wir in unserem Erdloch eingegraben. Es geht durch Hochwald, und wir treffen immer wieder auf Wildgatter. Meist gibt es dann kurze Treppchen auf beiden Seiten, auf denen man über das Gatter hinweg steigen kann. So etwas kenne ich aus den fürstlichen Wäldern zuhause gar nicht, hier muss ein ganz hohes Tier gejagt haben

Am Rande einer Lichtung steht wie ein dicker schwarzer Klumpen ein Haus, und wir überlegen, ob wir dort etwas Essbares suchen sollen. Das Haus ist völlig finster, draussen rührt sich nichts, aber kann man wissen? Wir machen lieber einen großen Bogen um die ganze Lichtung und landen so an einem Seeufer. Auf dem gegenüberliegenden Ufer blitzt ein Licht auf. Russen werden das wohl nicht sein, die haben keinen Grund, nachts hier im Wald rumzulaufen. Wahrscheinlich also auch Landser -oder Zivilisten, die sich im Wald versteckt haben. Aber als uns dann Schritte entgegen kommen, verkriechen wir uns doch lieber im Gestrüpp neben dem Weg und lassen die Fremden vorbei. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein.

Dann stehen wir auf einer kleinen Wiese am Fuß eines Hügels. Der ist mit jungen Kiefern bepflanzt und oben erhebt sich über den Bäumchen im Mondschein, die Wolken haben sich verzogen, ein großes Haus. Der Alte schickt zwei Mann hoch, die sich das etwas näher ansehen sollen, ob wir hier weiter können oder ob wir wieder einen großen Bogen machen müssen? Die beiden kommen nach einer Weile zurück, das Haus ist ausgebrannt, berichten sie, aber es gibt noch ein erhaltenes Zimmer. In dem könnte man ja mal nachsehen, ob dort etwas zu essen ist.

Der Ansicht ist der Alte auch, und so gehen wir vorsichtig nach oben. Dort stellen wir dann fest, dass da gar kein Haus steht - das Ganze ist eine riesige Scheinanlage, die ein großes Gutshaus oder so etwas vortäuschen soll, ein Hauptgebäude quer und zwei Längsschiffe rechts und links daran, alles aus Lattengerüsten, Dachpappe und Schilfmatten. Im "linken Flügel" steht eine winzige Baracke mit zwei Räumen. Darin war wohl die Besatzung dieser Anlage untergebracht; jedenfalls gibt es drei Doppelstockbetten, ein paar Spinde, einen großen Tisch und ein halbes Dutzend Schemel, wie für uns gemacht. "Na gut ", sagt der Alte, "eine Stunde Rast können wir ja machen; aber dann müssen wir wieder in den Wald!". Dann läßt sich jeder auf eines der Betten fallen, und ich schlafe sofort ein.

Ahlimbsmühle, 30. April 1945 morgens

Als ich wieder wach werde, dämmert es draußen schon. Nun müssten wir ja wohl wieder raus in den Wald, aber bevor ich die anderen wecke, sehe ich schnell mal nach, ob unsere Vorgänger hier etwas Essbares hinterlassen haben. Zunächst mal stelle ich fest, dass die Kumpels wohl zu demselben Verein gehört haben wie wir. Gleich im ersten Schrank, den ich aufmache, hängt ein fliegerblauer Mantel mit unserem Ärmelstreifen. Da liegt auch eine blaue Bergmütze, und die ist mir nur wenig zu groß. Da kann ich jetzt den Stahlhelm wegwerfen, der meine einzige Kopfbedeckung war, seit das Schiffchen an der Autobahn mit in die Luft geflogen ist.

Dann durchsuche ich die Lebensmittelfächer in den Spinden - und finde wirklich einiges. Die Kumpels hier müssen nicht schlecht gelebt haben, die haben anscheinend nicht nötig gehabt, die Kanten vom Kommissbrot mit zu essen; in jedem Spind liegen zwei oder drei Stück davon und schließlich finde ich sogar noch einen angefangenen Würfel Margarine.

Die anderen schlafen immer noch, aber draußen vor der Baracke spricht jetzt jemand. Ich mache ganz langsam die Barackentür einen Spalt weit auf  und sehe vorsichtig hinaus - und da stehen „gegenüber“, auf der anderen Seite der Scheinanlage, zwei Leute und unterhalten sich. Sie tragen weder Fliegerblau noch Feldgrau, sonder Olivgrün - aber das trugen in der Flakkaserne in Heiligensee die Leute von der Panzerjagdbrigade auch, das waren holländische Uniformen, die wegen der besseren Tarnung an die ausgegeben wurden. Das stört mich also nicht weiter. Aber die MPi, die der eine von den beiden trägt - die hat ein rundes Trommelmagazin - so etwas gibt es bei der Wehrmacht nicht - das sind Russen!

Also gehe ich leise zurück in die hintere Stube und kriege den Oberleutnant ganz vorsichtig beim Arm. „Herr Oberleutnant - die Russen sind da!“ - Der setzt sich so rasch auf, als ob er gar nicht geschlafen hätte, steht auf, zieht das Koppel fest, setzt sich die Mütze auf und greift seine Kartentasche. „Wo?“

Wir gehen in den vorderen Raum, und ich lege zuerst den Finger auf die Lippen - wenn ich die da drüben hören konnte, hören die uns doch auch - und zeige dann auf den Türspalt.  Der Alte blickt hindurch, setzt sich dann an den Tisch und flüstert: „Schicken Sie mir den Obergefreiten Cibulla her, und dann wecken Sie vorsichtig die anderen!“

„Herbert, Du sollst nach vorne zum Alten kommen, die Russen sind da,“ flüstere ich dem Cibulla zu, und auch der kommt sofort hoch, setzt das Schiffchen auf und geht in das andere Zimmer. Dann wecke ich die restlichen Drei und als wir nun alle Vier nach vorne gehen, steht der Alte auf und sagt leise: „Also, wir gehen jetzt raus und ergeben uns. Ich weiß nicht, wie viele Russen da draußen sind, aber ich nehme nicht an, dass sie uns erschießen werden - schließlich finden hier keine Kampfhandlungen mehr statt, und wir sind unbewaffnet. Ich gehe als Erster, nach mir kommt der Obergefreite, wegen der Verständigung, denn er kann ein bisschen Polnisch, dann Unteroffizier Pohlmann, dann der Rest, wie immer.“ - Diesmal bin ich gar nicht böse, dass ich auf diese Weise der Letzte bin.

Herbert Cibulla macht die Tür weit auf, und der Alte geht tatsächlich als Erster ins Freie, hebt die Arme über den Kopf und geht auf die Beiden in den olivgrünen Uniformen los. Nach ihm geht Herbert, und der ruft irgendetwas Unverständliches - der kann ja tatsächlich irgendetwas Auswärtiges - und dann kommen wir Übrigen, Hände über den Kopf, wie sich das gehört und wie wir das hunderte von Malen von den „Kameraden von der anderen Feldpostnummer“ in der Wochenschau gesehen haben. Irgendwie ist da noch - wenigstens bei mir - der Gedanke daran, dass wir mindestens genau so oft gehört haben, dass die da vor uns ja keine Gefangenen machen - aber der Alte hat gesagt, dass er das nicht glaubt, und er ist ja auch als Erster raus gegangen und geht jetzt vor uns her.

Die Beiden haben anscheinend auch einen Schreck gekriegt, das ist daran zu merken, wie sie herumfahren und wie der mit dem Schiffchen seine MPi in Anschlag bringt - aber dann sagt der mit der Schirmmütze etwas, und die MPi geht wieder runter - und dann legt er die Hand zum Gruß an die Mütze, geht auf unseren Alten zu, grüßt noch einmal und sagt etwas zu Herbert, und der übersetzt: „Er hat sich vorgestellt, er ist Oberleutnant - und er heißt, glaube ich, Moskalenko oder so ähnlich.“. Da grüßt  unser Alter auch, nicht mit dem „Deutschen Gruß durch Erheben des rechten Armes in Augenhöhe“, sondern auf die alte Art  mit der Hand an der Mütze und stellt sich vor und holt seine kleine 6,35-er Mauser-Pistole aus der Hosentasche und gibt sie dem Oberleutnant, und der scheint sich mächtig darüber zu freuen und schüttelt ihm die Hand.

Dann stehen wir etwas verlegen in der Gegend herum, und keiner weiß so recht, was man jetzt machen müsste - die Russen anscheinend auch nicht  - aber plötzlich kommt der mit der Feldmütze, der wohl auch der Ältere von den Beiden ist, auf mich zu, fasst mich bei der Schulter, dreht mich zu sich herum und redet auf mich ein - und Herbert übersetzt: „Er will wissen, wie alt Du bist - er hat zuhause auch so einen Jungen -“ und als er ihm sagt, dass ich sechzehn Jahre bin, schüttelt der Russe den Kopf und sagt wieder etwas, und Herbert übersetzt: „Er meint, dann kämest Du sicher bald nach Hause.“

Und der Herbert redet und redet - und schließlich sagt der Alte: „Die verstehen Ihr Polnisch aber recht gut?“ - und da antwortet der  Herbert: “Das ist gar kein Polnisch - das ist Russisch; ich habe in der polnischen Zeit, als ich arbeitslos war, mal eine  ganze Weile bei denen gearbeitet .....“

Dass die Kameraden aus Oberschlesien sich alle mehr oder weniger geschickt auf Polnisch ausdrücken konnten (wenn sie wollten), das war allgemein bekannt und ergab sich schon daraus, dass sie ja alle nach dem Versailler Vertrag im polnischen "Gorni SIask" geboren und oder zumindest aufgewachsen waren. Dass aber einer von ihnen ziemlich fließend Russisch sprechen konnte, war schon etwas ungewöhnlich, und Herbert musste es  erklären. Er war nach dem Oberleutnant mit fast dreißig Jahren der Älteste von uns und hatte während der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 30-er Jahre als Deutscher in Polen kaum Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Während dieser Zeit aber warb die Sowjetunion in den benachbarten Staaten Fachleute für die Industrialisierung an - und so ging er, gelernter Anlagenschlosser, für fünf Jahre nach Russland. Während dieser Zeit in der sowjetischen Industrie, lernte er ausreichend Russisch, um sich im täglichen Leben verständigen zu können. Zu unserem Glück, denn seine Sprachkenntnisse haben sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass unsere Gefangennahme so friedlich abgelaufen ist. 

Den Weg durch die dann folgende, mehrjährige Kriegsgefangenschaft, erzähle ich in der Geschichte

                           "Die Straße ins Graue"