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Weite Wege

Von der Weichsel an die Oder

von Reinhold Ostermann 

Die Geschichte ist mit freundlicher Genehmigung des Autors, Günther Ballentin, übernommen aus dem Buch
         „Die Zerstörung der Stadt Schwedt/Oder 1945“  
Im Gegensatz zum Buch wird hier aber der Hergang nicht indirekt, sondern in der „Ich-Form“ erzählt.

Da im Herbst 1944 mein Jahrgang vor der Einberufung stand, meldete ich mich, um nicht in irgendeinem „Haufen“ zu landen, freiwillig zum Fallschirm-Panzerkorps „Hermann Göring“. Das entsprach damals dem Zeitgeist. Die Truppe galt als Eliteeinheit und war bei uns Jungen aus diesem Grunde beliebt. Bis auf die letzten Kriegsmonate rekrutierte sie sich ausschließlich aus Freiwilligen. Eingezogen wurde ich nach Rypin (eingedeutscht: Rippin/Westpreußen), 60 Kilometer südöstlich Graudenz an der Weichsel gelegen, zur Ersatz-und Ausbildungs-Brigade HG.

Nach der Grenadierausbildung Ende 1944 zur Artillerieeinheit versetzt, geht es mit dieser Truppe am 13. Januar bei zwanzig Grad Frost in den Fronteinsatz. Wir haben trotz der bitteren Lektionen aus der Moskauer Dezemberschlacht 1941 und der Stalingrader Eiskatastrophe von 1942/43 keine Winterbekleidung und sind mangelhaft ausgerüstet. Vor 24 Stunden hat die sowjetische Weichsel-Oder-Offensive begonnen. Als erste treten aus den Brückenköpfen Rozan und Serock nördlich Warschau Divisionen der belorussischen Front (Rokossowski) zum Sturm an. Wir bekommen es offenbar mit Bataillonen der sowjetischen 70. Armee (Chef: Generaloberst Wassi­opow) zu tun, die in den einhundert Kilometer tiefen Raum zwi­schen dem Fluss Narew und der Stadt Rypin hineinstoßen. Als rechter Nachbar handelt die sowjetische 65. Armee (Chef: Generaloberst Pawelow). Beide Armeen entfalten sich übrigens drei Monate später im April1945 an der Oder zwischen Stettin und Gartz.

Meine Batterie bestand nur aus zwei schweren Feldhaubitzen des Kalibers 15 cm. Ich wurde dem zweiten Geschütz als Höhenrichtkanonier (K 4) zugeteilt, das aber ohne jegliche Ausbildung am Gerät. Zugmaschinen für die Geschütze gab es nicht. Landwirtschaftstraktoren mussten sie ersetzen. Für den Granattransport griff der Batterieführer, Hauptmann Schrader, Frontsoldat des Ersten Weltkrieges, auf fünf Panjewagen zurück. Als unsere Bedienung am 20.Januar nahe Rypin Stellungswechsel machte, ging die Haubitze durch Beschuss eines T-34 verloren. Unter großen Verlusten zog sich die Brigade bis zur Weichsel nach Graudenz zurück. Hier wurde sie eingeschlossen und kapitulierte nach wochenlangem Häuserkampf am 6.März 1945.

Da war ich allerdings schon nicht mehr in der Stadt. Weil ich mich seit Tagen gesundheitlich so schlecht wie nie fühlte und quittegelb aussah, schickte mich mein Vorgesetzter Anfang Februar zum Hauptverbandsplatz  auf dem Truppenübungsgelände Gruppe. Man diagnostizierte eine schwere Gelbsucht, ich war nicht mehr einsatzfähig und wurde mit Medikamenten behandelt. Kurze Zeit später erreichten Spitzeneinheiten der Roten Armee die Umgebung des Verbandsplatzes. Ein Sanitäter schrie „Rette sich, wer kann! Ein Arzt bleibt und übergibt alles an die Russen!“ Mit zwei Kameraden stürmte ich davon. Nach einigen Irrungen trafen wir auf deutsche Pioniere, die aus einem Lkw heraus im Schnee Minen legten. Sie brachten uns zu einem kleinen Bahnhof. Von dort aus ging es mit einem Eisenbahnzug, an dem auch zwei Rote-Kreuz-Waggons hingen, ins hinterpommersche Köslin. In der Stadt befand sich eine Krankensammelstelle. Bereits nach drei Tagen, am 8. Februar, erklärte mich ein Arzt als einsatzfähig. Um nicht mit einem zusammengewürfelten Haufen in den Einsatz zu müssen, kam mir die Idee, dem Stabsarzt, einem älteren Herrn, zu sagen: "Herr Stabsarzt, ich habe den Befehl, Ihnen zu melden, falls ich als HG-Angehöriger versprengt oder wieder genesen bin, muss ich mich in unserer Garnison in Berlin-Reinickendorf in der HG-Kaserne einfinden. Wir sind für die Verteidigung der Reichshauptstadt vorgesehen." Der Stabsarzt erwiderte: "Mein Junge, ich fertige Dir die notwendigen Papiere aus, Du bist heute Abend aber wieder hier, Du kommst nicht mehr raus, Pommern ist großflächig eingeschlossen!" Meine Antwort: "Ich will es aber versuchen!" Und wenn ich über die Ostsee schwimmen muss, hier in Pommern auf meine Gefangennahme oder den Heldentod zu warten, kommt für mich nicht infrage. Es gelang mir tatsächlich, im Chaos zurückflutender Truppen und Flüchtlingstrecks auf einem LKW über Kolberg und Cammin schließlich Swinemünde auf der Insel Usedom zu erreichen. Da meine Papiere in Ordnung waren, durfte ich Swinemünde laut „Auffangstab“ mit der Bahn verlassen.

"Der auskurierte Patient genehmigte sich dann selbst einen achttägigen Heimaturlaub. Das war in jenen Tagen lebensgefährlich. Statt über Pasewalk nach Berlin in die „Hermann-Göring-Kaserne", fährt er über Hamburg zu seiner Mutter und Schwester nach Hildesheim. Hier in der Heimatstadt, lässt er sich kess und kühn, vielleicht auch für den schlimmsten Fall vorsorglich, gemeinsam mit seinem Vetter noch ein Erinnerungsfoto machen!" So beschreibt  Günther Ballentin in seinem Buch etwas locker mein damaliges Verhalten. Aber das hätte mich den Kopf kosten können, wäre ich von der Feldgendarmerie festgesetzt worden, die jeden Eisenbahnzug und jeden Bahnhof streng kontrollierte. Am 21. Februar 1945 machte ich mich dann auf den Weg nach Berlin-Reinickendorf, in die befohlene Kaserne mit den 54 Gebäuden. Ab Mitte März gehörte ich dann zur 6. Kompanie im 4.Regiment (Chef: Major Ilius), der 2. Ersatz und Ausbildungsbrigade HG. Mein Kompaniechef, ein Oberleutnant, kam als bereits schwer Kriegsbeschädigter zu uns, ihm fehlte der rechte Arm.

Anfang April werden wir zur Oder verlegt. Nach einem dreitägigen Fußmarsch erreichen wir am 3. April am Schiffshebewerk Niederfinow den kleinen Ort Liepe. Am 12. April beziehen wir auf dem Pfingstberg unmittelbar oberhalb des Ortes eine Art Frontlinie Richtung Süden. Auf halber Höhe vor uns befindet sich eine Windmühle. Wir hatten das Gefühl einer relativen Sicherheit. Im Laufgraben konnte man sich aufrecht gehend bewegen. In den Unter­ständen schützten uns drei Lagen Baumstämme vor Beschuss. Jeder bekam ­einen bestimmten Beobachtungsplatz mit linker und rechter Begrenzung zugewiesen. Eine Ausbuchtung in der Schützengrabenwand mach­te einen Blick über die Brustwehr möglich. Für die Maschinengewehre waren vorschriftsmäßige Stände angelegt. Wir hatten einen sehr guten Blick in das unter und vor uns liegende riesige Überschwemmungsgebiet, rechterhand das Schiffshebewerk, jenseitig die Dörfer Falken­ und Bralitz. Leider fehlte es an Tarnnetzen, mit denen wir den Stellungsverlauf gegen Luftaufklärung hätten abdecken können. Am Ta­g vor dem 20.April 1945 - also bis zum Stellungswechsel nach Stecherschleuse - besuchte uns nachts eine russische „Nähmaschine“. Ich glaube sie warf zwei- oder dreimal zahllose Flugblätter über uns ab. Der Inhalt lautete so ungefähr: „Weißbe­zogene Betten warten auf Euch, Waffen könnt ihr zurücklassen, aber Essbesteck müsst Ihr mitbringen!' Wir grinsten und dachten damals: End­lich hat jetzt jeder sein Lokuspapier!

Am 20.April zwischen 15 und 17 Uhr belegte der Russe den Pfingstberg mit fünf Artilleriegranaten mittleren Kalibers. Sie schlugen zwischen Stellung und Windmühle ein. Ich befürchtete, dass es die Vorboten für einen Feuerüberfall des nächsten Morgens sein könnten. Darum war ich froh, dass wir etwa gegen 22 Uhr nach Stecherschleuse abrückten. Als wir uns hinter Liepe umdrehten, konnten wir im Feuerschein des brennenden Bralitzer Sägewerks vier oder fünf fahrende T-34 erkennen. Den Oder-Havel-Kanal, damals Hohenzollernkanal genannt, überquerten wir auf der Klosterbrücke. Beim Marsch hangabwärts war absolutes Sprechverbot befohlen worden, da sich jenseits des Finowkanals angeblich die ersten sowjetischen Einheiten vorgearbeitet hatten und wir uns nicht erkennbar machen sollten. An der Stecherschleuse kaum angekommen, hörten wir eine starke Detonation. Die Klosterbrücke, die wir gerade passiert hatten, war gesprengt worden. In einem bereits verlassenen Wohnhaus konnte ich mir eine Landkarte der dortigen Gegend „besorgen“, die ich von nun an unter der Bekleidung getragen habe. Sie sollte mir später eine wertvolle Hilfe sein.

Am 26.April 1945 erhielten alle Kompanien der Regimenter 3 und 4 sowie das der Brigade angegliederte, zwischen  Stolzenhagen und Gartz liegende Fallschirmjäger-E.-u.-A.-Regiment 1, den allgemeinen Rückzugsbefehl. Der Kompaniechef teilte zwölf oder fünfzehn Mann zur Sicherung des Rückzuges als Nachhut ein. Von diesen Kameraden haben wir nie wieder etwas gehört. Gegen 23 Uhr balancierte meine Kompanie neben der gesprengten Klosterbrücke über einen provisorischen Laufsteg. An Angermünde vorbei marschierten wir bis Joachimsthal. Patschnass geworden durch ein schweres Gewitter am Abend des 27.4., erreichten wir in den frühen Morgenstunden des 28. April den Stadtrand nahe dem Schützenhaus. Mit  dem Befehl, den Rückzug des Regiments abzusicheern, bezogen wir eine provisorische Stellung an der Wegegabelung Glambeck - Parlow. Eingraben sollten wir uns aber nicht, befahl der Kompaniechef, sondern uns nur in Schussrichtung Parlow „hinhauen“, da wir uns bald wieder absetzen müssten. Der Abstand von Schütze zu Schütze betrug zehn Meter. 

Plötzlich waren von Parlow her Gewehrschüsse zu hören. Kameraden kamen durch den Wald gerannt und auf dem Sandweg raste auf einem Fahrrad ein Melder heran und ruft: „Hundertfünfzig russische Kavalleristen von links!“ Gleich darauf schrie der Zugführer „Stellungswechsel!" Wo sich zu diesem Zeitpunkt der Kompanie-Gefechtsstand befand, war mir nicht bekannt. Mir schien, Zugführer und Kompanieführer ließen uns in dieser Situation allein. Ich eilte zur Wegegabel. Dort lagen schon die ersten Kameraden auf dem Waldboden. Die Maschinengewehrschützen hatten ihr MG 42 direkt am Wegrand postiert. Ich legte mich dicht hinter den Schützen 1. Hier fühlte ich mich in diesem Augenblick noch am sichersten.

Schon bald erschien, in der beginnenden Dämmerung gut erkennbar, tief gestaffelt eine Reihe berittener Gegner. Die Kavalle­risten trugen Umhänge mit Kapuzen. Sie bewegten sich, nach den Seiten spähend, langsam auf uns zu. Sie ahnten nichts von dem, was da gleich passieren sollte. Der MG-Schütze 1 fragte leise „Soll ich schießen?' Ich hörte die Stimme meines Obergefreiten: „Schnauze!“ Der Gegner war wohl seiner Meinung nach noch zu weit entfernt. Eiskalt ließ er ihn näher kommen. Die Gedanken, die mir damals durch den Kopf jagten, kenne ich heute noch genau: Hoffentlich hat das MG keine Ladehemmung, sonst trampeln sie uns tot! Als sich die Reiter auf hun­dert, vielleicht auf siebzig Meter genähert hatten, vernahm ich das halblaute Kommando „Feuer!“

Am Flug der Geschosse, jedes dritte Leuchtspur, erkannte ich, dass die ersten Schüsse über den Köpfen lagen. Dann aber flogen die Geschosse ins Ziel. Die Berittenen stoben sofort nach links und rechts zwischen die Baumstämme. Eins war klar, die würden jetzt im Wald von allen Seiten kommen! Das Überraschungsmoment nutzend, bin ich aufgesprungen und getürmt und zwar auf den Schwellen der eingleisigen Bahnstrecke auf Friedrichswalde zu. Da der Befehl zum Stellungswechsel erteilt war, stand dem auch nichts mehr im Wege. Es kamen noch ein Unteroffizier und zwei weitere Kameraden hinzu. Ich erinnerte mich, dass Gollin vorher als Sammelpunkt angegeben worden war.

An der Stelle, an der die Kompanie vorher gehalten hatte, beratschlagten wir, wie es weitergehen sollte. Der Unteroffizier faselte vor: „Wir sind eingeschlossen, jeder muss versuchen einzeln zu verschwinden“, er wollte uns offensichtlich los werden. Die beiden noch jüngeren Kameraden standen völlig orientierungslos da und heulten. “Wer mit mir mitkommt, schafft es nach Hause!" stieß ich hervor, ich verfügte ja über die Landkarte von Stecherschleuse. Der Unteroffizier sagte, er sei Berliner und schlug die südliche Richtung ein. Ich fragte ihn noch, ob das die Kameradschaft ist, die er uns immer gepredigt hat. Mit den beiden anderen lief ich dann noch einige Meter am Gleis entlang und bog dann in den tiefen Wald der Schorfheide ab. Einer der beiden Kameraden schloss sich irgendwann einer  größeren Gruppe an, aber der Kamerad Willi Bagus blieb bei mir. 

Wie der weitere Gefechtsverlauf aussah, habe ich später erfahren. Ich bin aus dem Krieg mit großer Enttäuschung und mit Wut heimgekehrt. Wut über das Verhalten aller Vorgesetzten, die uns in schwieriger Situation im Stich ließen. Um so erstaunter war ich, als ich 1945 meinen einstigen Kompanieführer zufällig in meinem Wohnort wieder traf. Ich hatte nicht gewusst, dass wir beide aus Hildesheim stammten. Er hatte mit dem Kompanie-Führungstrupp neben dem Joachimsthaler Schützenhaus in einem Splittergraben gehockt und sagte mir: „Als ich die Meldung erhielt, dass sich etwa einhundertfünfzug russische Kavalleristen nähern, befahl ich Stellungswechsel. Bald darauf begann eine wüste Ballerei. Das muss gegen fünf Uhr früh gewesen sein. Ich bin dann gegen 17 Uhr in Gefangenschaft geraten. Als ich aus dem Splittergraben kletterte, haben sie da gelegen.“  (Er meinte seine Soldaten.) Ich fragte: „Waren sie verwundet? Waren sie tot?“ Er: „Das kann ich nicht sagen!“

Da ich mich an keine Namen erinnere, weiß ich nicht, ob einige der einundvierzig Soldaten, die auf dem Joachimsthaler Friedhof begraben sind, einst zu meiner Kompanie gehörten. Fünfundzwanzig der Beerdigten sind namentlich bekannt. Ich nenne hier drei: Obergefreiter Egon Körner und die Unteroffiziere Werner Schwarz und Karl Weißenrieder, alle vom Geburtsjahr 1924, gefallen (oder gefunden) am 29.April 1945. Sie starben im blühenden Alter von zwanzig Jahren!

Willi Bagus und ich, wir galten nun beim Eintauchen in den tiefen Wald als „Versprengte“, durchquerten zufällig das noch absolut unbeschädigte CARINHALL, Hermann Görings Jagdsitz, danach den westlichen Teil der Schorfheide. Die Gebäude in CARINHALL gingen drei oder vier Stunden später in die Luft, hochgejagt von einem deutschen Spezialkommando, das vierhundert Zentner Sprengstoff verteilt ­und zur Zündung bereit gemacht haben soll. 

Unseren Rückzug setzten wir über Orte fort, die ich heute noch nennen kann: Gollin, Templin, Lychen, Fürstenberg/Havel. Bei Strelitz ging das Munitionslager Fürstensee hoch. Die Druckwelle wie die einer Atombombe, die wir damals noch nicht kannten. Und weiter über Mirow, Plau am See, Lübz, Parchim. Bei Ludwigslust begaben wir uns am 2. Mai gezielt und direkt in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Damit war meine Zugehörigkeit zur Ersatz- und Ausbildungsbrigade 2 „Hermann Göring“ beendet.