"Zum Schnellzug nach Berlin-Friedrichstraße - einsteigen und die Türen schließen - zurückbleiben und Vorsicht am Zuge - abfahren!” .
Der Zug ruckt an . . . Langsam gleiten die Menschen auf dem Bahnsteig an mir vorbei. Mitten zwischen ihnen winkt ein weißes Taschentuch; unter ihm kann ich noch das Gesicht meiner Mutter erkennen. Es verschwimmt, wird immer kleiner und undeutlicher; dann huscht wie ein Schatten der große Getreidesilo von "Robert Witschel KG" vorbei - jetzt ist nur noch das winkende Taschentuch zu sehen, es winkt und winkt und wird immer kleiner - dann fährt der Zug unter der Brücke hindurch - aus . . .
Der Zug rollt. Es ist Nacht geworden. Eigentlich müssten wir längst in Berlin sein; aber in Dessau lag der Zug sechs Stunden fest - der Teufel mag wissen, warum - und auch jetzt bleibt er alle paar Minuten stehen. Es ist Voralarm gegeben, und der Funkenflug, der durch die Braunkohlenfeuerung entsteht, könnte verräterisch werden. Am Horizont blitzen immer wieder Scheinwerfer und Flak-Mündungsfeuer auf, und wenn der Zug hält, kann man deutlich das typische Dröhnen der Viermotorigen hören. Sicher ist schon lange Fliegeralarm.
Jetzt soll es also Ernst werden. Der Fritz aus dem Nachbardorf und ich - beide kriegsfreiwillig zur Luftwaffe - sollen zur Verteidigung des Vaterlandes beitragen. Gerade 16 Jahre sind wir alt - aber was macht das schon? Den Karabiner 98k kennen wir besser als manches Schulbuch, haben schließlich lange genug in Jungvolk, Hitlerjugend, Wehrertüchtigungslager und Arbeitsdienst gelernt, in “wie viele Teile er zerfällt" - was kann uns schon passieren? Wie sagte doch unser Direx, Oberstudiendirektor Hinze, als er mich verabschiedete? – “Gehen Sie hin, mein junger Held, und verteidigen Sie die abendländische Kultur gegen die Barbaren aus dem Osten!”.
Berlin. Gespenstisch leuchtet der Mond in ausgebrannte Mietskasernen und durch leere Fensterhöhlen. So also sieht so was aus der Nähe aus . . . Wo wohl die Menschen geblieben sind, die in diesen Häusern gewohnt und aus diesen Fenstern gesehen haben? - Ach, Unsinn, evakuiert werden sie sein. . . Charlottenburg; hier also bin ich vor 16 Jahren und vier Monaten auf die Welt gekommen . . . Sieht ja heiter aus; 'ne ganze Menge Ziegelsteine stecken doch eigentlich in so einem vierstöckigen Mietshaus. Wer das wohl mal alles aufräumt? Blöde Frage - wozu gibt es Kriegsgefangene und Ostarbeiter?
Auf dem Bahnhof Friedrichstraße kann man sehen, dass schon wieder aufgeräumt wird. Muss ja wohl, sonst könnte ja die Bahn nicht fahren. Gemauerte Ziegelsteinsäulen stützen roh gegossene Betondecken, Plakate: “Plünderer werden erschossen!” – “Achtet auf Deserteure!” – “Auch DU - zur Waffen-SS!” – “Vorwärts zum Endsieg!” - Irgendwo dazwischen eine Uhr - 3 Uhr morgens. Um 5 Uhr fährt die erste U-Bahn. Viel Zeit! Mal sehen, wie es vor dem Bahnhof aussieht.
Verflixt ja, da haben aber die Ostarbeiter allerhand zu tun, wenn das alles aufgeräumt werden soll. Die Straße vor dem Bahnhof sieht toll aus. Berge von Ziegelsteinen, verbogene Straßenbahnschienen, die Drähte der Oberleitungen, Bombentrichter, und dazwischen etwa noch zwei Meter breit - die Straße, die Friedrichstraße . . .
Mittlerweile ist es so gegen halb fünf Uhr geworden, da können wir langsam zur U-Bahn gehen. Wir stehen noch eine Weile auf dem Bahnsteig herum, dann läuft der Zug ein. Wir sehen uns erstaunt an - der Gegensatz ist aber auch zu groß. Eben noch die ramponierte Friedrichstraße, und jetzt ein Zügle - wie aus dem Ei gepellt, sauber und ohne jeden Kratzer . . . Na ja, ist ja kein Wunder - schließlich fährt der Zug ja auch die ganze Zeit in einem stabilen Luftschutzkeller . . .
Draußen in Reinickendorf sieht es etwas besser aus. Man kann wenigstens noch unterscheiden, wie weit die einzelnen Häuser mal gereicht haben, sieht auch ab und zu mal ein Fenster mit Brettern verschlagen, nicht nur solche Ziegelsteinberge wie in der Friedrichstraße. Sicher hat der Ami hier weniger mit Sprengbomben und dafür mehr mit Brandbomben gearbeitet.
Das also ist nun die Kaserne der Division Hermann Göring; richtiger: hinter dieser Mauer liegt sie. Die Mauer selbst sieht nicht sehr einladend aus; man hat drei Reihen frischen Stacheldraht auf ihrer Krone gezogen, nach innen geneigt . . . wozu? Soll es tatsächlich Deserteure geben? Und wenn - warum desertieren die?
So - und nun bin ich Soldat. Mit mir noch viele, viele andere - 500 Mann ist unsre Rekrutenkompanie stark, und sieben solche Kompanien sind in den letzten Tagen (Mitte Februar 1945) mindestens hier aufgestellt worden. Ein bisschen sehr durcheinander ist es in den letzten Tagen ja gegangen. Meldung auf der Wache am Kasernentor - Meldung beim II B im Regiment -der sagt ganz entsetzt: „Da kommen ja immer noch welche . . .“ - dann Meldung beim Spieß der 5. Kompanie - und dann warten. Jede Minute neue Gesichter, neue Namen, zwischendurch Verpflegungsempfang, Einkleidung - wie beim Arbeitsdienst vor einem Vierteljahr, natürlich keine Schuhe Größe 45 für mich; aber wenn schon Laufen statt Fliegen, dann bitteschön in passenden Schuhen, also hat der Kammerbulle suchen müssen - Erkennungsmarken, Soldbücher, Gasmasken, Ausrüstung, Karabiner - und immer neue Gesichter.
Einige in unserer Kompanie kommen nicht wie wir unmittelbar von zu Hause; sie waren vorher bei der RAD-Flak, oder aber schon seit Dezember Soldat, haben zum großen Teil in der Gegend von Rippin in Westpreußen gelegen und so den ganzen Winterrückzug über Graudenz mitgemacht. Wir “jungen Spritzer” hören gespannt zu, wenn sie erzählen. Leben tut man scheinbar ganz gut auf so einem Rückzug, zumindest, was das Essen angeht; aber so ganz gefahrlos scheint die Sache andererseits auch nicht zu sein. Was tut's? Die haben’s ja auch überstanden . . .
Heute tritt zum ersten mal die ganze 5. Kompanie an. Eigentlich sind 500 Mann doch gar nicht so viel . . . Der Kompaniechef begrüßt uns und stellt sich vor - Brandhorst heißt er, Oberleutnant; sein Adju, Leutnant Ohlberg, wird gleichzeitig Zugführer im 1. Zug. Scheint ein scharfer Hund zu sein . . . Unser Zugführer, ein Oberfähnrich, macht einen erheblich ruhigeren Eindruck. - Dann werden in den Zügen die Gruppen eingeteilt. Mein Gruppenführer wird ein junger Unteroffizier mit EK II und silbernem Verwundetenabzeichen; Pohlmann heißt er.
Unteroffizier Pohlmann stammt aus Schleswig-Holstein, aus Husum, “der grauen Stadt am Meer”, wie er selbst sagt. Ob er wohl weiß, daß das von Theodor Storm ist? Jedenfalls muss im wohl deswegen mein Name besonders aufgefallen sein; als sich die Unteroffiziere ihre "Putzer" aussuchen (die ihnen von Rechts wegen gar nicht zustehen; aber schließlich sind wir ja eine Rekrutenkompanie), da fällt seine Wahl auf mich. Nicht ganz schlecht - bringt zwar etwas mehr Arbeit mit sich, gibt aber dafür auch die Gelegenheit, sich vor manchen unangenehmen Dingen zu drücken. Jedenfalls war das beim Arbeitsdienst so . . .
Nun sind wir schon mitten in der Ausbildung. Tag für Tag dasselbe. Früh eine Stunde Theorie (“Der Karabiner 98 k zerfällt in folgende sieben Hauptteile . . .” - und selbst die Diskussion darüber, ob das Zubehör nun ein Hauptteil ist oder nicht, bringt da keine Abwechslung mehr rein), dann bis zum Mittagessen Praxis in der Tegeler Heide. Mittagessen, anschließend wieder raus in die Sandwüste, abends dann Putz- und Flickstunde und Waffenreinigen.
Das Essen ist ein Kapitel für sich. In der Kaserne werden etwa 10000 Mann verpflegt, für das frühere “Regiment General Göring”, also etwa 2000 Mann, ist sie mal gebaut worden. Wenn man nach drei Viertel Stunden Anstehen sein Essen schon hat, ist es mal ausnahmsweise schnell gegangen. Macht aber nichts; geht schließlich alles vom Dienst ab. Die Kartoffeln taugen nicht allzu viel, aber es gibt zu jeder Mittagsmahlzeit Fleisch. Das konnten wir uns zu Hause schon lange nicht mehr leisten. Abends wird dann Kaltverpflegung für den ganzen Tag empfangen - drei Mann ein Brot, Wurst, Käse, Butter, viel Kunsthonig (manchmal einen ganzen Würfel - 500 g - pro Mann) - aber trotzdem kann man das ganze ohne große Anstrengung in einer halben Stunde aufessen. Natürlich tun wir das und müssen dann am nächsten Tag mit einer Tasse Kaffee solo (Malzkaffee natürlich) in die Heide marschieren; aber daran gewöhnt sich der Magen.
Abends ist regelmäßig Fliegeralarm. Man kann so ziemlich seine Uhr danach stellen: um 20 Uhr ist Voralarm, um 20.30 geht´s richtig los. Jeder greift zu Stahlhelm und Gasmaske, schnappt sich sein Gewehr, und ab geht’s in den Keller. In den ersten Tagen habe ich das auch so gemacht; aber als ich dann mal an einem zusammengeschmissenen Block der Kaserne gesehen habe, wie sauber eine Sprengbombe die Kellerdecke auf den Fußboden gelegt hat - ringsum wie abgeschnitten, und “die Toten liegen da noch drunter”, hat ein Landser neben mir gesagt - seitdem setze ich mich lieber vor unserem Block in eines der Ein-Mann-Löcher, die dort ausgehoben sind. Hier hört man zwar die Flaksplitter surren, kann aber dafür keine tonnenschwere Kellerdecke auf den Kopf kriegen.
Außerdem haben diese Löcher noch einen Vorteil: Man sieht, was eigentlich los ist. Wenn mir auch nachts meine in der Schule von allen neidlos anerkannte Meisterschaft im Ansprechen eigener und feindlicher Flugzeuge nichts nützt, so ist es doch recht interessant, wie Amis und Tommys zuerst ihre “Christbäume” in die Luft setzen und dann abladen. Die RAD-Flak-Batterie neben unserer Kaserne schießt wie wild - meist aber auf eigene Flugzeuge; sie merken das immer erst, wenn der da oben sein Erkennungssignal absetzt.
Nach einem Fliegeralarm stehe ich im Dunkeln (der Strom wird bei Fliegeralarm immer abgeschaltet) im Treppenhaus unseres Blocks am Fenster und sehe mir an, wie es irgendwo nördlich von uns lichterloh brennt. “Da schmoren jetzt wieder Frauen und Kinder im Phosphor. Wofür eigentlich?”, sagt plötzlich jemand neben mir. Als ich mich zu ihm umdrehe, geht er weiter und verschwindet im Dunkeln.
Ja, wofür eigentlich? Ich weiß nicht, wer das war, der da gefragt hat; ich weiß nicht mal, ob er mich gemeint hat mit seiner Frage - aber ich weiß auch keine Antwort. Noch vor einem halben Jahr hätte ich ohne zu zögern geantwortet “Für den deutschen Endsieg!” oder etwas Ähnliches; aber da hatte ich diese Trümmerhaufen auch noch nicht aus der Nähe gesehen . . . Was sind denn das für Gedanken . . .? Wie komme ich dazu - bin ich denn das OKW, dass mich so etwas interessieren muss? Aber trotzdem, wofür denn eigentlich? Nein, besser nicht weiterdenken . . . Schließlich kann es ja nur um den Endsieg gehen, etwas anderes geht doch gar nicht . . .
Tag für Tag geht es raus in die Tegeler Heide. Kriechen, laufen, springen, anschleichen, robben, hinlegen “nach vier Zeiten” - man ist ständig in Bewegung. Mit der Zeit kann man sogar an so etwas Spaß haben. Dazu wird es langsam Frühling, die Sonne scheint, sie wärmt auch schon etwas, am Rande der Heide erhebt sich der Sendeturm des Berliner Rundfunks, daneben die Reste ausgebrannter Mietskasernen, irgendwo das typische Rumsen der Panzerfäuste, von Zeit zu Zeit schnurrt einer der neuen Turbinenjäger (“Me 262”, stelle ich als Fachmann fest) über den Himmel - so kann der Krieg beinahe romantisch sein.
Eines Morgens sagt Kurt (so heißt Unteroffizier Pohlmann mit Vornamen, und als Putzer darf ich ihn - außerdienstlich - so nennen) - sagt also Kurt zu mir: “Da liegt was in der Luft. Kannst einem altgedienten Kommisshasen glauben - hier riecht es nach Veränderung.” - Und tatsächlich rücken wir am nächsten Tag nicht in die Heide aus. Statt dessen Dienstunterricht: Verhalten vor und auf dem Marsch. Wir horchen auf. Da tut sich doch irgendwas? Nachmittags wird dann scharfe Munition empfangen. Unsere Spannung wird immer größer.
Es scheint, als ob es losgehen sollte. “Es” - das ist dann wohl der Einsatz an der Front. Wir sind zwar noch nicht mit der Ausbildung fertig, haben man gerade so zwei Wochen hinter uns, aber wir werden wohl gebraucht. Na ja - was wollen die uns denn auch noch Neues beibringen? Wo es wohl hingehen soll?
Jetzt sind schon zwei Tage vorbei, und es ist immer noch nichts weiter passiert. Wir haben Panzerfäuste und Ofenrohre (so heißt die “Raketenpanzerbüchse 54” im Landserjargon) empfangen, anschließend war Dienstunterricht über ihre Anwendung, und außerdem haben wir einen neuen Kompanieführer und einen neuen Leutnant gekriegt. Der Leutnant hat unseren Zug übernommen. Er heißt Depersdorf, ist im Zivilberuf Lehrer irgendwo in Brandenburg und scheint ein ganz annehmbarer Mensch zu sein. Jeden Abend kommt er zu uns in die Stube, um mit meinem Detektorempfänger, den ich von zu Hause mitgebracht habe (dem einzigen Radio in der Kompanie!), Nachrichten zu hören.
Am dritten Tag schließlich tritt die ganze Kompanie an. Der neue Chef stellt sich vor, ein hochgewachsener Oberleutnant mit schon etwas grauem Kopf. Uns fällt besonders auf, daß er uns nicht mit “Männer”, wie das Brandhorst machte, sondern mit “Jungens” anredet. Ob er darauf wohl auch seine Forderungen an uns einstellt?
Nach seiner Ansprache wissen wir auch, was los ist. Das Bataillon wird nach Wittstock verlegt. Wittstock liegt irgendwo nordwestlich von Berlin; einer will wissen, daß es dort einen Fliegerhorst und dazu die Fallschirmspringerschule II gibt. Die tollsten Parolen werden darauf aufgebaut - schließlich heißt unser Haufen ja “Fallschirm-Panzergrenadier-Division” . . . Kurt allerdings meint, die Verlegung sollte uns aus dem täglichen Berliner Bombensegen rausbringen.
Um 8 Uhr war Appell, um 9 soll Abmarsch sein. Stattdessen ist - völlig abweichend von Gewohntem - gegen 8.30 Fliegeralarm. Na ja - eben mal bei Tageslicht; was soll anders sein als nachts? Ich verziehe mich in mein Einmannloch und warte.
Die Flak schießt schon wie toll. Da müsste doch eigentlich auch zu sehen sein, wo sie hinschießt? Ja, richtig, da vorne sind sie ja schon! Wie gewohnt, viermotorige “Flying Fortress” . . . In diesem Augenblick fängt es in der Luft an zu brausen und zu orgeln – “Bombe! Volle Deckung!”, ruft irgendwer, es kracht und braust und orgelt und kracht und braust und orgelt – “Ein Teppich!”, schreit mir Peter ins Ohr. Und da scheinen wir mitten drin zu liegen . . . Hört denn das gar nicht wieder auf? Peter sieht nach der Uhr. 10 Minuten vor 9 Uhr. Das Brausen und Orgeln hat aufgehört, aber es kracht immer noch irgendwo hinter uns. Das können doch keine Bomben mehr sein? Die Flak schießt nicht mehr, Flugzeuge sind auch keine mehr zu sehen - was kracht denn da immer noch?
9 Uhr - Entwarnung. “Kompanie antreten zum Abmarsch!” - und dazwischen krachen immer noch irgendwelche Explosionen. Während wir uns formieren und fast erstaunt feststellen, daß keiner fehlt, hören wir: Auf der gegenüberliegenden Kasernenseite hat es fünf Blocks und ein Munilager erwischt. Das Munilager brennt immer noch - daher die Explosionen - und die Blocks sind erledigt, mit dem größten Teil der Insassen. Haben wir mal wieder Schwein gehabt . . . Mir fällt der von neulich, der aus dem Treppenhaus, ein. “Wofür?”, hat der gefragt. Wenn es jetzt unsere Seite der Kaserne erwischt hätte - und mich mit - wofür?
Wir marschieren über die Tegeler Heide hinweg, die Müllerstraße entlang. Panzersperren - mitten in Berlin? Was soll denn das? Denkt man wirklich daran, in absehbarer Zeit Berlin, die Reichshauptstadt, verteidigen zu müssen? Ecke Müllerstraße - Scharnweberstraße steht eine 8,8-Flak erdbeschussfertig mitten auf dem Damm. Festung Breslau ist mir ein Begriff - jetzt auch Festung Berlin? Aber schließlich - wenn der Iwan kommen sollte (was unwahrscheinlich ist, schließlich sind wir ja auch noch da) - man muss ja vorgesorgt haben.
Wir biegen zum S-Bahnhof Eichborndamm ein, trampeln mit “Reihe rechts” durch die Sperre und besetzen kurzerhand einen ganzen S-Bahn-Zug nach Velten. (“Stadt der Kachelöfen”, fällt mir der Heimatkundeunterricht meiner Kinderzeit in Brieselang ein . . .)
Auf der Fahrt überall das gleiche Bild. Häuser mit behelfsmäßigem Dach, Häuser ohne Dach, zur Hälfte zerrissene Häuser, ausgebrannte Häuser, Reste von Häusern, Ziegelsteinhaufen - die reinste Ruinenausstellung. Und zuhause waren Ruinen etwas Besonderes, und man machte Schulausflüge dorthin!
In Velten steigen wir aus. Zugweise wird abmarschiert. Die Sonne brennt schon ganz nett, und mein lMG ist nun wirklich kein einfacher Spazierstock. Und so soll das bis Wittstock weiter gehen? Na, die größte Freude meines Lebens verspricht das nicht gerade zu werden. - Glücklicherweise heißt es sehr bald “Marschordnung - rührt Euch!”. Das bedeutet, daß der Gleichschritt wegfällt und man sich den Kragen aufmachen darf. Nicht viel, aber der Mensch freut sich. Hat doch was für sich, dass der Zugführer in Zivil Lehrer ist; die anderen Züge marschieren noch fleißig im Gleichschritt.
Mit der Zeit kann einem die Lauferei dann aber doch auf die Nerven gehen. Es ist bestimmt nicht das erste Mal, dass ich mich zu Fuß über größere Strecken bewegen muss; aber so bepackt wie heute war ich dabei noch nie. Stahlhelm, Decke, Mantel, Seitengewehr, lMG 15, Ersatzteiltasche, Gasmaske, Brotbeutel mit Tagesverpflegung, Kochgeschirr, Feldflasche - ich komme mir vor wie ein Lastesel. Dringendst hat man das Bedürfnis, sich wenigstens für einen kleinen Augenblick mal hinzusetzen; aber andererseits spürt man, dass man dann wahrscheinlich überhaupt nicht mehr aufstehen könnte. Es bleibt nichts anderes übrig als zu laufen.
Abends in einem Dorf Nachtquartier. Die ganze Kompanie wird in der riesigen Scheune eines Rittergutes untergebracht. Todmüde fallen wir ins Stroh. Aber noch ist keine Ruhe; erst müssen die Waffen gereinigt werden. Im Stillen verfluche ich das leichte Maschinengewehr, auf das ich bis jetzt so stolz war. Ein Karabiner ist schnell sauber - durchziehen, abstauben, einölen, und fertig; aber diese komplizierte Maschine? Die braucht schon ihre Zeit . . . Als ich endlich fertig bin, lasse ich mich ins Stroh fallen, ziehe die Zeltbahn hoch bis über die Nase und bin sofort weg.
Jetzt sind wir schon vier Tage auf dem Marsch. Ein Tag wie der andere: früh gegen vier Uhr Wecken, Verpflegung empfangen, Abmarsch. Marschieren, marschieren, marschieren, durch Ortschaften mit Gleichschritt und “Ein Lied!”, das lMG drückt auf die Schulter, meist geht es über Waldwege, dann mahlen die Stiefel im Sand – “Mark Brandenburg, des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Streusandbüchse . . .”, fällt mir ein (welcher meiner diversen Geschichtspauker war das eigentlich?) - die Beine laufen schon fast automatisch, nach den ersten Morgenstunden sieht man fast nichts mehr von der Landschaft, schläft fast im Gehen. Abends dann in irgendeinem Dorf Quartier in irgend einer Scheune auf irgend einem Bauernhof, das obligatorische Waffenreinigen – “das Gewehr ist die Braut des Soldaten” - dann haut man sich in das Stroh und fürchtet sich, bevor man einschläft, noch vor dem nächsten Wecken, weil genau so ein Tag hinterher kommt.
Das einzige Gute ist, dass unser Spieß - der Teufel weiß, wie er das schafft - wenigstens jeden Abend etwas Warmes zu Essen organisiert. Sonst hätten wir nämlich den ganzen Tag nichts anderes als die Kaltverpflegung im Magen, und die hält nie länger im Brotbeutel als bis gegen zehn Uhr.
Jetzt sind wir also in Wittstock. Die letzten fünf Kilometer waren eine tolle Hetzjagd, richtiges Eilmarschtempo, als wenn wir pünktlich am irgendeinem Bahnhof sein müssten; und kein Mensch weiß, warum. Na, egal; Hauptsache, geschafft . . . Dieser Marsch quer durch die halbe Mark Brandenburg, immer mit den 25 Pfund Maschinengewehr auf dem Buckel, war letzten Endes doch mehr, als man bisher von mir verlangt hatte. Dafür ist aber die neue Unterkunft im Fliegerhorst Wittstock ganz in Ordnung. Allerdings habe ich damit auch ganz besonderes Glück gehabt; zusammen mit Peter, meinem “Schützen zwo”, und noch zwei anderen Kumpels liege ich in einer der ehemaligen Stuben für Flugzeugführer - nur vier Betten, und keine Strohsäcke, sondern Sprungfedermatratzen . . .
Das Essen ist hier auch viel besser als in Berlin. Es macht viel aus, daß der Fliegerhorst nicht so überfüllt ist wie die Hermann-Göring-Stammkaserne in Reinickendorf. Drei Mal in der Woche gibt es sogar abends noch warmes Essen, Milchsuppe, und sonntags sogar Pudding. Die ersten zwei Tage haben wir allerdings schwer Kohldampf geschoben; da war nämlich unsere Verpflegung noch nicht eingetroffen, und da gab es zur Abwechslung mal überhaupt nichts. Und deswegen mussten wir so rennen?
Jeden Tag marschieren wir raus ins Gelände. Unser Übungsplatz liegt hinter Berlinchen, und bis dahin sind schon gute fünf Kilometer. Diese Strecke viermal am Tage - zweimal hin und zweimal zurück - macht reichlich zwanzig Kilometer täglich, und dazu dann noch das, was wir auf dem Platz bei der Ausbildung rennen, laufen, kriechen, robben - wir können mittlerweile mit jedem Briefträger konkurrieren, was den zurückgelegten Weg angeht..
Heute ist nun endlich unser Riesenhaufen von Kompanie (immer noch über 500 Mann!) aufgeteilt worden. Meine ganze Gruppe ist zu einer anderen Einheit abgestellt worden, nur ich bin als Einziger hier geblieben. Ich war nämlich “stubenkrank” geschrieben, wegen einer Angina, und brauchte zum Appell nicht mit anzutreten; und dann wusste keiner mehr, wohin ich nun sollte. Schließlich hat mich Kurt Pohlmann in seine neue Gruppe geholt.
Da muss ich mich also wieder mal neu eingewöhnen. Unsere neue Stube liegt im entferntesten Winkel des Blocks; ein paar Mal ist es uns schon passiert, dass wir das Pfeifen des UvD glatt überhört haben. Aber man gewöhnt sich an alles, sogar an das Donnerwetter, mit dem die in solchen Fällen folgende “persönliche” Einladung zum Raustreten verbunden ist.
Auf dem Übungsgelände kommt man sich vor wie auf einem mittleren Schlachtfeld. Von allen Seiten knallt es; die anderen Kompanien haben “Gewöhnungssprengen”. Offen gesagt: davor graut mir. So für nichts und wieder nichts drei Meter vor einer scharfen Eierhandgranate liegen (wenn auch in Deckung), und dann darauf warten, dass sie irgendwann, vom Ausbilder mit einer Schnur abgezogen, in die Luft geht - das ist so gar nicht mein Fall. Außerdem fällt mir bei solchen Gelegenheiten immer wieder der aus dem Treppenhaus, der Wofür-Frager, ein, und ich mag keine Fragen ohne Antwort . . .
Es riecht mal wieder. Wonach, kann keiner so genau sagen; aber jedenfalls nach etwas anderem als bisher. Offiziell hat noch keiner was verlautbaren lassen; aber mittlerweile können wir auch schon aus Äußerlichkeiten lesen. Wahrscheinlich wird es einen langen Marsch geben; vielleicht könnte es sogar ernst werden . . . Wir haben zu den alten lMG 15, die ja eigentlich umgebaute Bordbewaffnung aus stillgelegten Bombern sind, neue moderne lMG 42 gekriegt, dazu die passenden Munitionsgurte, neue Zeltbahnen, Feldspaten (amerikanische Beuteware, zum Zusammenklappen), Knochensäcke (wie der Landser die Fallschirmjäger-Kombinationen nennt), und schließlich wurde jeder Kompanie eine Feldküche zugeteilt.
Tatsächlich soll es mal wieder weitergehen. Morgen sollen wir losmarschieren, und zwar in die Flakkaserne nach Heiligensee. Zunächst weiß keiner, wo das sein soll; dann wird auf sämtlichen verfügbaren Karten gesucht, und als es dann jemand gefunden hat, geht das große Staunen los: Die Kaserne liegt in Berlin, an der S-Bahn-Strecke nach Velten, und als wir damals (Anfang März) aus Berlin auszogen, sind wir an ihr vorbei gefahren. Zehn S-Bahn-Minuten von Reinickendorf entfernt. Hätten wir uns doch die ganze blöde Lauferei sparen können . . .
Also zurück nach Berlin. Wozu das wohl gut sein soll? Ob wir wohl die Besatzung für die Panzersperren in der Müllerstraße stellen müssen? Aber das ist wohl doch Unsinn, der Iwan steht an der Oder, und der Ami irgendwo zwischen Rhein und Weser. “Berlin ist deutsch und bleibt deutsch!”, stand an den Ruinenmauern, als wir damals durchmarschiert sind. Aber ist ja schließlich auch egal; der Soldat denkt, und das OKW lenkt, und schließlich geht das alles vom Kriege ab, um zwei beliebte Landser-Redensarten zu zitieren.
Wieder heißt es marschieren. Über Straßen, durch Dörfer, durch Wälder, über Sandwege - und diesmal haben wir zu der bisherigen Ausrüstung in jedem Zug zwei “Ofenrohre” nebst Munition und etliche Panzerfäuste mit. Das muss alles geschleppt werden; und eine Munikiste für das Ofenrohr wiegt immerhin 11 Kilogramm; so einen Koffer kann man nur für kurze Zeit tragen (zumal die Dinger tatsächlich wie Koffer getragen werden!). Also gehen sie von Hand zu Hand, jeder kommt mal dran; aber am liebsten würden wir sie einfach mitten auf dem Weg stehen lassen.
Immerhin marschieren wir in “geöffneter Marschordnung”, das heißt, jeder kann - abgesehen von der Straßenseite und seinem Platz in der Reihe - so ziemlich laufen, wie es ihm passt. Wenn man das lMG quer über das Kreuz schiebt und dann die Arme über Schaft und Mündung legt, lässt es sich sogar einigermaßen bequem tragen. Nur, wenn ich mit einer der Kisten an der Reihe bin, dann habe ich wirklich Mühe, das (eigentlich normale) Marschtempo zu halten . . .
So geht es also wieder durch die Streusandbüchse der deutschen Nation zurück, vorbei an Alt- und Neuruppin, wo ganze Nachtjägergeschwader mit abmontierten Flächen in den Wäldern stehen, vorbei am Denkmal für die Schlacht bei Fehrbellin, durch märkische Heide und märkischen Sand - immer weiter.
Unterwegs begegnen uns marschierende Kolonnen von Kriegsgefangenen. Franzosen, Engländer, Belgier, Jugoslawen und immer wieder Franzosen. Sicher hat man da ein Stalag aus dem Osten ins Innere Deutschlands verlegt. Etwa eine halbe Stunde lang marschieren wir aneinander vorbei - und die singen! Ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen – “Ca ira”, die Carmagnole - die ganze französische Revolution. Die glauben wohl, wir hätten den Krieg verloren? Was die so für Vorstellungen haben . . . Aber immerhin, wahr ist, dass sich unser Gesang (mit dem wir ihnen das Gegenteil beweisen sollen und wollen) sich dagegen recht kläglich anhört.
Irgendwo im Wald hinter Fehrbellin wird plötzlich “Fliegerdeckung” kommandiert; eine der üblichen “Abwechslungen” beim Marschieren. Aber bisher hat man uns auf diesem Marsch damit verschont, was soll also der Unsinn? Können uns die denn nicht in Ruhe laufen lassen? Wir sind doch keine dummen Rekruten auf dem Übungsplatz mehr, wir sind doch schon beinahe alte Soldaten! Jedenfalls verschwindet alles im Gebüsch und unter den Bäumen rechts und links des Waldweges. Aber das sonst gewohnte Kommando zum Antreten folgt nicht. Ob der Alte uns auf diese Weise eine zusätzliche Pause geben will? Doch da wird mir klar, was los ist: Es ist völliger Ernst mit der “Fliegerdeckung”. Über uns brummen die Viermotorigen. Welle um Welle geht über uns hinweg wie bei einer Luftparade, die Begleitjäger surren bald über, bald unter ihnen und kommen gelegentlich so tief, dass sie uns, stünden wir noch draußen auf dem Weg, hätten sehen müssen. Und - kein Mensch tut etwas dagegen! Keine Flak schießt, keine FW 190 oder Me 109 ist zu sehen, und schon gar keine Me 262; die fliegen da oben, als ob Deutschland ihnen gehört!
Mich haben aus alter Gewohnheit die Typen interessiert: Flying Fortress, Thunderbolts und ein paar Lightnings. Also Amerikaner, zumindest das Gros. Andere hat interessiert, wie viel Vögel da in der Luft waren. Die Jäger zu zählen, war unmöglich, die waren zu flink, aber bei den Viermots sind Zahlen zwischen 450 und 600 zusammengekommen. Na, wo die abladen, möchten wir lieber nicht dabei sein. Interessant, wer wohl den Segen auf den Kopf kriegen wird?
Dann stehen wir wieder vor dem Bahnhof in Velten und warten auf die “Verladung” in die S-Bahn. Der hat sich aber seit damals (Anfang März) gründlich verändert. Zerbombt oder zerschossen, mit Plakaten wieder zugeklebt - große rote Zettel mit Namen - vollstreckte Todesurteile an Plünderern und Verrätern, Listen von gesuchten Deserteuren, Aufrufe “An das deutsche Volk” von allen möglichen Leuten, der Zeigefinger des Hitlerjungen: “Auch DU!” (immer noch zur Waffen-SS) - dann Menschen mit Rucksäcken (wo nur plötzlich so viele Rucksäcke herkommen?), Kisten, Koffer, Feldgendarmen (Halt - was wollen denn die hier? Ist denn Berlin Frontgebiet? Im Hinterland müsste doch normale Polizei stehen?) - Ich frage Kurt danach. “Sicher wegen der Deserteure . . .”, meint er. Dann kommt endlich der Zug für unsere Kompanie. Kein Fenster heil, Türen schließen nicht, er sieht toll aus. Aber - er fährt, und wir brauchen das letzte Stück nicht zu laufen.
Und das ist also die Flakkaserne Heiligensee. Von außen recht ordentlich, aber von innen . . . Keine Betten, keine Spinde, kein Stroh - nur blanker Fußboden und ein paar Ballen gepresste Holzwolle. Wenn mich meine bisherigen Erfahrungen nicht im Stich lassen, dann bleiben wir hier nicht lange, dann ist schon über unsere weitere Fortbewegung entschieden.
Von einer eingespielten Truppe scheint man bei "Hermann Görings" (sehr im Gegensatz zum Reichsarbeitsdienst) nicht allzu viel zu halten. Nun haben wir auf dem Marsch gerade gelernt zusammen zu arbeiten - da wird mal wieder neu aufgestellt. Dabei marschiert unser Zug - bis auf die Gruppenführer und den Zugführer - geschlossen in die 6. Kompanie. Ausgerechnet die 6.! Als wenn es nicht noch genügend andere Kompanien auf Gottes weiter Welt gäbe . . . Der Chef der 6., der einarmige Oberleutnant Rank, ist im ganzen Bataillon als Leuteschinder berüchtigt.
Unsere diesbezüglichen Befürchtungen werden aber dann noch übertroffen. Nicht nur, daß man uns wie blutigste Anfänger behandelt; nicht nur, dass man offensichtlich glaubt, die Hauptteile des Karabiners und ähnlicher Unsinn ließen sich am besten im Dauerlauf oder auf dem Bauch liegend auswendig wiedergeben; obendrein stimmt auch mit der Verpflegung etwas nicht. Ein Brot von 1500 Gramm für drei Mann bisher war ja schon nicht viel; aber dass dann plötzlich das gleiche Brot mal für fünf und mal sogar für sechs Mann reichen soll, und dass manchen Abend der Kunsthonig der einzige Brotaufstrich bleibt, das ist uns ziemlich unverständlich.
Wie der Kompaniechef, so sind auch die Zugführer, und der Spieß, die Gruppenführer sind auch nicht viel besser. Am besten, man verdrückt sich, sobald man sie von weitem sieht; denn sie haben immer und ständig Arbeiten zu vergeben oder etwas zu bemängeln, und wenn es nur ist, dass sie einen "Ehrenbezeugung mit dem Deutschen Gruß durch Erheben der geöffneten rechten Hand in Augenhöhe” üben lassen, weil man angeblich nicht richtig grüßen kann . . .
Dann werden plötzlich die nach dem Wittstocker Marsch eingesammelten Panzerfäuste wieder ausgegeben. Wir haben zwar damals gelernt, dass die Aufbewahrung von Panzerfäusten in Mannschaftsunterkünften nicht gestattet ist, aber für die 6. Kompanie muss das wohl nicht gelten. Die Dinger werden entsprechend einem Befehl des Zugführers auf den Stuben abgestellt. Dabei kann scheinbar von den “alten” Kompanieangehörigen (wir sind seit der Neuaufstellung “die Neuen”) keiner mit der Panzerfaust umgehen; ich habe erlebt, dass ein Unteroffizier die Schweiß- und die Sprengladung, die ja getrennt empfangen werden, für Taschenlampenbatterien gehalten hat . . .
In unserer Nachbarstube findet sich einer, der etwas mehr zu wissen glaubt. Er macht so eine Art improvisierten Dienstunterricht und erklärt seinen drei Kumpels die Handhabung. Zufällig höre ich durch die offene Tür, wie er erzählt, ohne den Schweiß- und den Sprengsatz wäre das Ganze eine absolut harmlose Angelegenheit. Ich kann mir nicht verkneifen, ihn zu korrigieren; denn immerhin steckt ja im Griffrohr noch der Treibsatz, und wenn der losgeht, ist der ausgeblasene Feuerstrahl von etwa vier Meter Länge alles andere als ungefährlich. Aber man soll sich nicht in fremde Gespräche einmischen; der Kumpel ist schwer beleidigt, gibt an, als hätte er zu Hause jeden Tag einen Panzer zum Frühstück geknackt, und empfiehlt mir, mich zu verziehen. Ich tu's; solchen Leuten geht man besser aus dem Wege.
Kaum habe ich unsere Stubentür zu, da rumst es nebenan, und jemand brüllt ganz entsetzlich los. Tür wieder auf, raus - der ganze Flur voll Qualm, nichts zu sehen. Fenster auf, durchlüften - der schreit ja immer noch, was ist denn da nur los? Rein in die Nachbarstube - und sofort wieder raus, Sani holen! Schnell, Sani holen! Irgendwer rast los, andere stürzen in die Stube, kommen aber auch gleich wieder. Wir können nicht helfen, beim besten Willen nicht, wir wissen nicht einmal, was tun oder wo anfangen. Die Stube sieht aus wie eine Räucherkammer, völlig schwarz verrußt, und ob von den Insassen außer dem, der immer noch schreit, noch einer lebt, kann man diesen versengten Körpern nicht ansehen. Unsere Aufregung ist groß, bis schließlich der Sani und der OvD kommen und uns alle auf den Hof schicken.
Am Abend werden sämtliche Panzerfäuste wieder eingesammelt. Was nebenan tatsächlich passiert ist, wird nicht bekannt gegeben. Es ist die Rede von einem bedauerlichen Unglücksfall, und von vier Mann, die im Lazarett lägen. Immerhin weiß ich das etwas genauer, und gemunkelt wird von vier Toten. Die hätten also ihr Heldengrab schon jetzt, und waren doch noch gar nicht an der Front. Und warum ist das passiert? Wofür sind die denn nun gestorben?
Eine andere Episode, die für die 6. Kompanie kennzeichnend ist: Früh stehen etwa 25 Mann vor der Schreibstube und wollen sich krank melden. Das sind bei den 500 Mann, die die Kompanie jetzt wieder stark ist, und bei dem Grippewetter im März wirklich nicht übermäßig viele, glaube ich. Rank (der Chef) kommt aus der Schreibstube, guckt, stutzt: “Was soll das hier? Alles Kranke? Unsinn, so viele Kranke kann's ja gar nicht geben!”. Spricht´s und zählt die ersten 10 Mann ab. “So, das reicht; mehr als zehn Kranke gibt's heute nicht. Der Rest macht Dienst!”.
Es wird schon wieder von einer Verlegung gemunkelt. Wohin? Unbekannt. Immerhin richten wir uns auf alles Mögliche ein. Auf zwei Märschen haben wir gelernt, was man doch so alles an unnötigen Dingen mit sich schleppt, und was man andererseits immer dann nicht hatte, wenn es nötig gebraucht wurde. Also wird das Vorhandene gesichtet und das nicht Vorhandene wird organisiert.
Und nun laufen wir mal wieder. Wohin, hat uns keiner gesagt; abends hieß es “Alarmbereitschaft”, wir haben uns also feldmarschmäßig auf die Holzwolle gelegt, und mitten in der Nacht ging es los. Aber - schön leicht marschiert es sich diesmal . . . Nicht nur, dass ich schon von mir aus alles Überflüssige aus dem Gepäck entfernt habe; ich habe auch sonst nichts zu tragen. Kein MG, keinen Karabiner, keine MPi, nicht einmal ein Seitengewehr; so etwas haben uns “die Alten” nämlich nicht zugestanden, das haben sie alles für sich behalten. Mögen sie sich jetzt damit abpuckeln . . . Na, und dass ich vielleicht einen MG-Schützen beim Tragen ablösen müsste - das gibt es in der 6. Kompanie nicht. Wer hier einmal etwas trägt, der schleppt, bis er umfällt. Diesmal habe ich den Vorteil davon.
Gegen zwei Uhr nachts sind wir losmarschiert, quer durch das nachtdunkle Berlin. Steine, Scherben, Dachziegel, Eisenträger rechts und links vom Weg, immer wieder Panzersperren, ab und zu ein leidlich erhaltenes Haus mit Pappe vor den Fenstern - toll sieht die Stadt aus. Ich versuche, mich an Hand der spärlich erhaltenen Straßenschilder zu orientieren - wenn mich die kümmerlichen Reste des Wissens aus meiner Kinderzeit nicht täuschen, geht es in Richtung Nordosten, vermutlich auf Bernau zu.
Am Straßenrand steht eine Baracke, dreifacher Stacheldrahtzaun rings herum, zerfetzte Lumpen hängen daran zum Trocknen, an jeder Ecke ein Wachturm. Scheinbar ein Arbeitslager oder so etwas. Da sind Leute drin, die nicht arbeiten wollen. Warum wollen die eigentlich nicht?
Heeressammellager Biesenthal; meine Prognose “Bernau” hat also ungefähr gestimmt. Hier soll heute Nacht unsere Unterkunft sein. Ein paar flache Bretterschuppen, einige kümmerliche Ballen Holzwolle, vier Mann ein Brot, zwei Löffel Marmelade - damit sind wir abgefertigt. Und das, nachdem wir seit 2 Uhr nachts unterwegs sind (jetzt ist 4 Uhr nachmittags) und gestern Abend zum letzten Male etwas gegessen haben!
Vor dem Lager ist eine Flakstellung, besetzt mit Luftwaffenhelfern etwa in unserem Alter. Die müssen wesentlich besser als wir verpflegt werden; sie haben so viel Brot übrig, dass sie fast unsere ganze Kompanie damit versorgen können. Da wird der Magen denn doch etwas ruhiger.
In diesem Stil geht es am nächsten Tag weiter. Dann landen wir in Tuchen, im Saal einer Dorfgaststätte. Keiner weiß, wo das Nest eigentlich liegt - ist auch egal. Wichtig für uns ist, daß unsere alte Kompanie, die 5., im Nachbardorf, in Danewitz, liegt und daß gemunkelt wird, wir sollten wieder zurück.
Tatsächlich, es geht wieder zurück! Heute früh kommt Leutnant Köhler, der Zugführer, in die Unterkunft - sternhagelbesoffen - und brüllt begeistert: “Freut Euch, Leute, bald sind wir wieder unter uns - wir werden den Schrott von der 5. wieder los!”. Gefreut haben sich dann allerdings nicht die, die er meinte, sondern wir uns. Richtig “Hurra!”. Geschrien haben wir . . . Bloß raus aus diesem Laden - kein Marschieren mehr mit gleichzeitigem Dienstunterricht; kein “Einmal um die Kompanie, marsch-marsch!” in der Bewegung - wenn die Kompanie auf etwa einen Kilometer auseinandergezogen ist und ja schließlich nicht deswegen stehen bleibt, so dass dann gut zweieinhalb Kilometer Laufstrecke dabei zustande kommen; Schluss mit all' dieser blödsinnigen Schinderei!
Und dann wären wir also - jetzt hätte ich doch beinahe “zu Hause” gesagt. Der Kontrast ist aber auch zu groß. Nicht, dass in der 5. Kompanie kein Dienst gemacht würde; laufen, springen und robben müssen wir hier auch, aber das ganze passiert nicht um seiner selbst willen, sondern weil es nun mal die Fortbewegungsarten des Soldaten im Felde sind und weil diese geübt werden müssen. “Es hat schon manchem das Leben gerettet, sehr schnell und sehr klein sein zu können!”, sagt Kurt Pohlmann bei solchen Gelegenheiten.
Aber irgendetwas liegt schon wieder in der Luft. Wir üben “Verhalten bei 'Landgraf'”. “Landgraf” ist das Schlüsselwort für unseren Einsatz in der etwa 20 Kilometer östlich bei Leuenberg gelegenen dritten Auffangstellung. Diese Überei wird auf die Dauer recht eintönig; wir sehnen beinahe den Moment herbei, in dem der Ruf “Fertigmachen für 'Landgraf'!” echt und endgültig ist.
Das geschieht dann aber doch schneller, als uns lieb sein kann - ausgerechnet am Ostersamstag! Und dabei wollten wir doch morgen richtig Ostern feiern! Sogar Kuchen sollte es geben - der Chef hat aus allen Zügen die gelernten Bäcker rausgezogen und sie an den Dorfbackofen gestellt - und nun das!
Also marschieren wir wieder. Panzergräben, Panzersperren, jeder etwas dickere Chausseebaum trägt in Hüfthöhe eine Drei-Kilo-Ladung, alle Brücken, sogar die, wo nur ein Graben in einem Betonrohr unter der Straße durchgeht, sind zur Sprengung vorbereitet - wozu das alles nur gut sein soll? Übrigens sind die Zeiten des gemütlichen Marschierens vorbei. Mit der Rückgliederung in die 5. Kompanie hat jeder wieder eine feste Aufgabe in seiner Gruppe gekriegt, und ich bin Schütze 2 am lMG 15. Das heißt in der Praxis, dass ich jetzt außer meinem Sturmgepäck und dem Brotbeutel eine MPi (und noch dazu eine 28-er “Schmeisser", bei der das Magazin waagerecht steht und die sich deshalb nicht wie ein Gewehr schultern lässt), dann den Ersatzlauf für das MG, die Ersatzteiltasche und zwei Tragegestelle mit je drei Trommeln zu 50 Schuss Munition schleppen darf. Das einzige, was leicht ist, ist der Brotbeutel - es hat vor dem Abmarsch keine Verpflegung mehr gegeben, die soll uns hinterher gebracht werden. Mittagessen also nach der Ankunft in Leuenburg, das heißt, zwanzig Kilometer später.
Das lMG 15, das wir (der kleine Wendland, Forstgehilfe aus Ostpreußen und ich) da gemeinsam bedienen sollen, gefällt uns gar nicht. Es ist nämlich eigentlich eine Bordwaffe aus einem stillgelegten Bomber und ganz und gar nicht für den Erdeinsatz gedacht. Nicht nur, daß es durch allerlei Anbauten (Lafette, Zweibein und Schulterstütze) erheblich schwerer geworden ist; es verträgt auch den märkischen Sand nicht so recht, und die neuerdings statt der Messing-Patronenhülsen verwendeten lackierten Stahlhülsen noch weniger. Nach drei bis vier Schuss kommt eine Ladehemmung, weil das heiße Patronenlager den Lack verbrennt und die Hülse festklebt, und dann muss der Lauf gewechselt werden, im Liegen und ohne sich dabei über die Deckung zu erheben - was das mal im Ernstfall werden soll?
In Leuenberg steckt man uns in ein ziemlich großes Gut. Von Mittagessen keine Spur, auch nicht, als es mittlerweile Abend wird. Wendland geht organisieren und kommt mit einem Stahlhelm voll angeschimmelter Brotrinden zurück. Den Schimmel sieht man nur im Licht, und dass das Brot etwas muffig schmeckt, stört uns schon lange nicht mehr; das tut es auch, wenn es noch nicht verschimmelt ist.
Wir sind kaum eingeschlafen, da werden wir schon wieder geweckt. Die Feldküche ist da! Jetzt, um zwei Uhr nachts, warmes Essen . . . Und was für welches! Zu Mittag wurde ja auf den Höfen gekocht, in denen die einzelnen Züge einquartiert waren; jeder Zug hatte seinen eigenen Speisezettel; und nun ist das alles zusammen in einen Kessel gekommen: Salzkartoffeln mit Rotkohl und Gulasch, Erbsen mit Speck, Weißkohleintopf, Kartoffelsuppe . . . Was uns damit aussöhnt, ist, dass es warm ist, denn die Nacht ist empfindlich kühl.
Außer dem Essen hat die Küche aber noch etwas mitgebracht: “Landgraf” war blinder Alarm, wir sollen zurück. Sofort - das müssen doch vielleicht Knallköppe sein da oben! Wir sind ja auch erst 20 Kilometer gelaufen, und die soll es jetzt, und noch dazu im Dunkeln, zurück gehen - na, wenn das keine Freude macht . . .
Dafür haben wir dann allerdings am Ostersonntag dienstfrei. Wenn auch bis Mittag alles schläft, so ist doch ein freier Nachmittag nicht zu verachten. Und dann gibt es tatsächlich noch Kuchen - für Jeden zwei kleine Stückchen, so groß wie zwei nebeneinander gelegte Finger, eins mit Streusseln und eins mit Zucker! Nicht viel, aber man sieht doch den guten Willen . . .
Jedes Dorf eine Festung! Wir schanzen, bauen die sogenannte “Rundumverteidigung” - ein pompöses Wort, hinter dem sich Schützenmulden und Ein-Mann-Löcher rings um das Dorf verstecken; dazu natürlich auf jedem einigermaßen befahrbaren Weg die obligatorischen Panzersperren aus Kiefernstämmen und Sand und mit einer Vorrichtung, die eine schnelle Verschließbarkeit sichert, meist ein Ackerwagen voll Stämme, der vor die Lücke gerollt wird und dem dann die Achsen gesprengt werden sollen. Sehr vertrauenswürdig sieht das ganze nicht aus; gegen einen Spähtrupp vom Iwan könnte man das Dorf damit vielleicht verteidigen, aber wenn richtige Einheiten mit Panzern kommen . . . Ich möchte dann lieber nicht hier sein.
Angeblich soll es schon wieder mal weitergehen . . . Also bereitet man sich vor; und es gibt schon wieder so viel in unseren Rucksäcken, was man auf dem Marsch nicht braucht. Immer weg damit!