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Revier und Lazarett

Abends komme ich dann mit Kurts Hilfe grade noch bis ins Lager. Die Hühnerleiter bis zum Revier schaffe ich nur Stufe für Stufe - auf jeder Stufe eine Pause . . . Nur gut, dass das Revier im ersten Stock liegt; bis zum zweiten Stock, wo unsere Pritsche steht, wäre ich wohl nicht mehr gekommen.

“40,3 Fieber”, stellt der Arzt fest, und “sofort ins Revier!”. Ich bleibe gleich da und schicke jemanden zu Kurt, damit er mir meine Decke und das Waschzeug bringt - ich kriege kaum noch ein Bein vor das andere.

Mir ist alles so gleichgültig, dass ich auch das Bett, das mir der Sani zuweist, ohne jede Gefühls- oder Meinungsäußerung beziehe. Welch einen Fehler ich damit gemacht habe, wird mir erst am nächsten Tage bewusst, als ich etwas klarer im Kopf bin. Das Bett ist nach Maß in eine Ecke neben der Tür hinein gebaut, und in dieser Ecke ist 1,70 Meter Platz; von meinen 1,82 Meter ist also allerhand übrig, und dieses “allerhand” sind ausgerechnet die Füße, die immer im Wege sind, wenn die Tür geöffnet wird. Da kann doch kein Mensch ruhig bei liegen! Ich stehe also trotz der ärztlich angewiesenen Bettruhe auf und sitze den ganzen Tag auf der Bank am Ofen, lasse mir den Buckel ordentlich durchwärmen und schnitze Späne zum Feuermachen und zur Beleuchtung (abends sitzen wir nämlich in Ermangelung von anderen Lampen bei Kienspänen wie im Mittelalter). Alles Übrige ist mir so ziemlich gleichgültig; seitdem ich zu dem Fieber auch noch einen schauerlichen Durchfall habe, interessiert mich nicht mal mehr das Essen.

Jeden Tag zur Visite - es geht hier nämlich richtig wie in einem Krankenhaus zu - klopft mich Dr. Roßdeutscher, unser Zahnklempner, der seit dem Weggang des “Damenschneiders” die gesamte studierte Medizin allein vertritt, von vorn und hinten ab und murmelt dazu alle möglichen lateinischen Befunde, die der Theologie-Sani auf einem Stück Zementsack festhält. Was die beiden bloß an mir so unheimlich interessant finden? Eine Diagnose gibt es jedenfalls bisher noch nicht, und die einzige Behandlung, die mir zuteil wird, ist ein “Jodanstrich”: den ganzen Oberkörper von vorn und hinten mit Jodtinktur eingepinselt, und dann sieht man aus wie ein Indianer in Kriegsbemalung . . .

Das Fieber fällt aber schließlich auch ohne Diagnose und ohne weitere Medikamente; das heißt, die Temperatur am Morgen nimmt langsam gesittetere Werte an. Abends aber steigt sie immer noch auf über 39 Grad. Die Fieberkurve auf dem Holzbrettchen an meinem Fußende sieht aus wie eine Schrotsäge. So eine merkwürdige Krankheit hatte ich bisher noch nie.

Im Lager ist unterdessen mal wieder Kommissionierung gewesen, und im Ergebnis dessen geht neuerdings auch die Arbeitsgruppe III nicht mehr raus zur Arbeit und wird in einer speziellen Unterkunft einquartiert. Der alte Kartoffelkeller, der ja schon lange leer steht, wird dafür eingerichtet. Außerdem sollen die Quartiere im 2. Stock (wo ja Kurt und ich bisher auch untergebracht waren) geräumt werden. Das ist mittlerweile dringend nötig geworden, denn das Dach des Hauses ist ja ausgebrannt und immer noch nicht wiederhergestellt, so dass der Schnee unmittelbar auf der Betondecke der Schlafsäle liegt und sie kühlt; und alles, was die 150 Mann in einem Schlafsaal so an Körperfeuchtigkeit ausdünsten oder -atmen, kondensiert an dieser Decke und kommt als sanfter, aber stetiger Regen zurück auf die Betten.

Ganz plötzlich ist das Fieber fort. Einen Tag behält der Doktor mich noch im Revier, dann werde ich entlassen. Bei der Entlassung werde ich in die Arbeitsgruppe III eingestuft, so dass ich also nur aus dem Revier in den Kartoffelkeller umziehe. Sonst ändert sich nichts für mich.

Den haben die Tischler wirklich ganz nett eingerichtet. Er gefällt mir sogar besser als die großen Schlafsäle oben im Haus. Nur - finster ist es. Ein paar Fenster sind ja eingebaut worden; aber gerade in der Ecke, in der sich für mich noch ein Platz gefunden hat, ist keines davon. Das hat andererseits auch seine Vorteile; denn so sind auch keine Ritzen da, durch die es ziehen könnte. Außerdem steht in dieser Ecke ein Tisch zwischen den Pritschen, so dass man nicht alles, was zu tun ist, im Liegen erledigen muss.

Die ersten paar Tage vergehen damit, die neuen Nachbarn kennen zu lernen und sich in die neuen Umstände einzugewöhnen. Dann wird es langweilig. Morgens aufstehen, frühstücken, schlafen - Mittag essen, schlafen - Abendbrot, schlafen - solange ich noch richtig müde war, weil ich ja im Revier auf dem kurzen Bett von jedem geweckt wurde, der nachts auf die Latrine musste - und das waren nicht wenige, und die meisten öfter als einmal - solange ich also müde war, gefiel mir das. Jetzt aber habe ich langsam ausgeschlafen, und da dürfte das Leben schon etwas abwechslungsreicher sein. Am besten wäre es, wenn man irgendeine Arbeit hätte . . .

Arbeit ist bald gefunden. Als erstes besorge ich mir aus der Bäckerei (schließlich hat man als ehemaliger Holzlieferant so seine Beziehungen) einen Eimer heißes Wasser, und dann wird ein großes Wäschewaschen veranstaltet. Das muss in zwei Raten vor sich gehen, weil ich ja immer so viel anzuziehen übrig behalten muss, dass ich auf den zum Trocknen aufgehängten Teil meiner Garderobe aufpassen kann; sonst finden sich unter Garantie Liebhaber dafür. Anschließend wird dann geflickt und gestopft, und weil das recht gut klappt, schneide ich schließlich von meinem “Knochensack” die Schöße mit den unteren Taschen ab, die mittlerweile doch recht zerschossen sind, und arbeite das Ganze zu einer taillenlangen Windjacke um.

Allerdings musste dieser mehrtägigen Putz- und Flickstunde ein recht komplizierter Akt vorausgehen: die Erschaffung der Nähnadel und die Erfindung des Zwirns. Nähnadeln sind nämlich unheimlich knapp geworden; die meisten wurden bei irgendwelchen Tauschgeschäften günstig umgesetzt, und wer wirklich noch eine hat, verborgt die entweder gar nicht oder nur gegen entsprechende Leihgebühr in Naturalien. Ich selbst hatte keine; und weil mir mein Essen zu schade war, um damit andere zu füttern, musste ich mir selbst eine fabrizieren, aus Kupferdraht, und das Öhr mit einem dünnen Stahldrähtchen reingebohrt und -geschabt. Sechs Mal war ich beinahe durch, und immer ist im letzten Augenblick das Öhr ausgerissen; erst das siebente Exemplar ist so geworden, wie ich mir das vorgestellt habe, daß die eine Seite mit einer Spitze durch den Stoff geht und man durch die andere einen Faden fädeln kann.

Den Zwirn, der mir dann noch fehlte, habe ich mir verschafft, indem ich ein ungefähr anderthalb Meter langes Stück Baumwolltau, das in der Tischlerei in einer Ecke lag, an mich gebracht und aufgedröselt habe. “Zwirn” ist für das, was dabei entstanden ist, nicht ganz der richtige Ausdruck; die einzelnen Fäden erinnern mehr an Perlgarn, aber sie sind recht haltbar, man kann damit nähen, und ich habe ausreichend davon.

Arbeit allein macht auf die Dauer aber auch nicht so restlos glücklich. Es ist zwar ein sehr angenehmes Gefühl, zu wissen, dass alles, was man auf dem Leibe trägt, so annähernd sauber und fast ohne Löcher ist, aber auf die Dauer wäre mir der Schneiderberuf nicht so ganz das Richtige. Das ewige Dämmerlicht in unserer Ecke im Kartoffelbunker kann einem auch auf die Nerven gehen, und wenn auch trockner als unsere Regengalerie im 2. Stock - so richtig trocken ist diese Erdhütte auch nicht. Von Zeit zu Zeit muss man da raus an die frische Luft.

Ich stelle mir also einen Tagesplan auf. Nicht schriftlich natürlich, und nicht mit Uhrzeit, aber doch soweit, dass ich mir vornehme, zu bestimmten Tageszeiten etwas Bestimmtes zu tun. Frühmorgens mit den Brigaden aus dem Steinhaus aufstehen, Bett machen, Essen holen, essen. Wenn die Brigaden ausgerückt sind, nach Möglichkeit Wasser besorgen und waschen; wenn kein Wasser zu kriegen ist (was öfter vorkommt, weil ja Wasser immer noch in Tonnen von auswärts kommt), dann wird das Waschen durch eine Abreibung der oberen Körperhälfte mit Schnee ersetzt. Schnee gibt es genug - und immer wieder neuen. Danach wenigstens die größten Läuse aus der Wäsche und dem Pullover suchen; alle erwischt man sowieso nicht. Danach Arbeit bis zum Mittagessen. Arbeit - das ist alles, was so anfällt, von Klamotten in Stand halten bis zum Ausfegen im Bunker (wofür sich sonst scheinbar keiner zuständig fühlt). Nach dem Mittagessen dann Spaziergang; der hat zwar täglich den gleichen Verlauf (weil es gar keine andere Möglichkeit gibt - raus aus dem Bunker, über den Appellplatz zum Wachgebäude, am Hauptgebäude entlang und zwischen der alten Kesselhalle und der Küche hindurch zum Hof; dort rings um das Latrinengebäude, und dann wieder zurück); aber er wird durch Abstecher in die am Wege liegenden Einrichtungen und Werkstätten verlängert: Küche, Bäckerei, Barbierstube, Wäscherei, Tischlerei und Schlosserei. Am liebsten halte ich mich dabei in der Schlosserei auf, denn dort steht eine Drehbank. Zwar keine so große und moderne wie die auf Suderemont, aber dafür darf ich hier zusehen, ohne dass mich jemand stört. Nach diesem Rundgang wird bis zum Abendbrot geschlafen. Nach Abendbrot und Zählung (die übrigens schon seit Weihnachten nicht mehr auf dem Appellplatz, sondern in den Unterkünften stattfindet) besuche ich Kurt im Steinhaus, oder er kommt zu mir, und dann spielen wir vor dem Schlafengehen noch eine Partie Schach.

Irgendwann fällt wohl der russischen Krankenschwester auf, dass die Mehrzahl der Bewohner des Bunkers kaum noch zum Essen holen an die frische Luft kommt; jedenfalls kommt sie auf den Einfall, mit uns jeden Vormittag Freiübungen zu veranstalten. Mich trifft das gar nicht so überraschend; schließlich veranstalte ich ja meine täglichen Rundgänge aus dem gleichen Grunde. So macht es mir denn auch nichts aus, zur ersten dieser Veranstaltungen nur mit Stepphose und Pullover bekleidet zu erscheinen. Die übergroße Mehrheit der anderen aber . . . Mantel, Mütze, Kopfschützer - und dann wundern sie sich, dass sie frieren . . . Wenn sie nur sehen könnten, was sie für lächerliche Figuren in ihrem Aufzug abgeben! Ich gebe ja zu, daß es mir als dem Jüngsten sicher leichter fällt - aber so ungeschickt möchte ich mich auch nicht anstellen, wenn ich mal älter sein sollte . . .

Einige unter diesen Älteren sind wirklich komische Käuze. Wenn sie nicht durch die tägliche Gymnastik gezwungenermaßen an die frische Luft geholt würden, wären sie vermutlich in dem Bunkermief schon erstickt. Sie gehen nämlich sonst keinen Schritt vor die Tür, lassen sich sogar das Essen mitbringen und haben eine alte amerikanische “Meat-and-vegetable-hash”-Dose als Nachtgeschirr unter dem Bett stehen - und die fünf Liter müssen erst voll sein, bevor sie sich aus eigenem Antrieb mal ans Freie bemühen. Es ist ja soooo kalt draußen!

Tatsache ist ja, dass die Kumpels von Suderemont, die das Thermometer der Eisgangsstation am Fluss zu sehen kriegen, von 20 und 25 Grad unter Null erzählen. Aber dabei ist es fast windstill und schöne trockene Luft, und meinen täglichen Spaziergang mache ich meist nur mit Pullover und der “neuen” Windjacke. Man muss sich nur Bewegung machen und auf Ohren und Nase achten, dann ist die Kälte recht gut zu ertragen.

Das komische ist mit den alten Herrschaften nur, dass gerade diejenigen, die sich scheinbar seit Beginn des Winters nicht mehr gewaschen haben (obwohl man schlimmstenfalls doch wenigstens Schnee auftauen und so zu Wasser kommen kann), die, die so voll Läuse sitzen, daß man sich manchmal wundert, dass sie von denen nicht weggeschleppt werden (täten sie's doch nur!), die, bei deren Pritschen es wie in den Pissoirs eines Großstadtbahnhofs stinkt - dass gerade die diejenigen sind, die von uns Jüngeren “mehr Achtung vor dem Alter” fordern und stundenlang darüber reden können, dass das doch früher alles ganz anders gewesen sei. “Ich  habe zu meinem Großvater noch 'Sie' sagen müssen”, hat mir neulich einer erzählt, weil ich ihn - wie übrigens ausnahmslos alle anderen hier im Lager - geduzt habe . . . Was es wohl an ihrer ganzen Aufmachung und ihrem Verhalten noch Achtenswertes geben soll, möchte ich mal wissen? - Wenn ich zaubern könnte (so wie im Märchen), dann würde ich all' diese Figuren so, wie sie jetzt aussehen, auf einen belebten Platz ihres Heimatortes stellen. Interessant, wie sie sich dort wohl vorkommen würden und was ihre dortigen Mitmenschen dann von ihnen denken würden . . .

Irgendetwas am Wetter muss mir aber wohl doch nicht so recht bekommen sein; den Husten werde ich überhaupt nicht mehr los, und dann scheint mir, als ob ich abends wieder etwas erhöhte Temperatur hätte. Vorsichtshalber gehe ich ins Revier zum Fiebermessen, und richtig - das Thermometer zeigt 38,4. “Heute Abend noch einziehen”, sagt der Doktor. “Ziehst in den Isolator!”. Was der wohl für eine gefährliche Krankheit bei mir festgestellt hat, dass ich in den Isolator soll?

Der nächste Morgen beginnt mit Abhorchen und Beklopfen, ganz so, wie das auch schon bei meinem ersten Aufenthalt hier war. Der Doktor schüttelt tiefsinnig den Kopf, schickt mich ins Bett und bestellt mich vor dem Mittagessen ins Ambulatorium. Dort liegt dann vor ihm auf dem Tisch ein großes rotes Formular – “Gistorija bolesnij  (Krankengeschichte)”. Jetzt wird es wohl ernst - diese Formulare werden immer für solche Patienten ausgefüllt, die im Lager nicht behandelt werden können und daher ins Lazarett oder ins Hospital kommen. - Neben dem Formular liegt das Holzbrettchen, auf dem beim ersten Aufenthalt meine Fieberkurve festgehalten wurde - eine rote Linie, die wilde Zickzacksprünge macht. “Na, dann mach' Dich mal frei!” - und wieder beklopft und behorcht er mich von allen Seiten, schüttelt zweifelnd mit dem Kopf, klopft und horcht wieder - und da fällt mir etwas ein, was ich bei den regelmäßigen Röntgenuntersuchungen in der Lungenfürsorge früher oft genug gehört und nie so recht verstanden habe; vielleicht hilft's ihm weiter? “Im linken Hilus gibt es einen Kalkfleck so groß wie ein Fünfzigpfennigstück!” – “Was sagst Du da?”, horcht er auf, “ein Kalkfleck? Ach so - na ja - ist gut, kannst Dich wieder anziehen!” - und greift zum Federhalter.

Jetzt wird es für mich spannend, denn nun muss er ja in sein Formular irgendwo eintragen, was er da bei mir festgestellt hat - und das möchte ich doch gerne auch wissen . . . Während ich langsam zum Stuhl mit meinen Sachen gehe, setzt er den Federhalter an. Wahrscheinlich glaubt er, wenn er jetzt schreibt, kriege ich nicht mit, was er da zu Papier bringt; mir kommt es ja die ganze Zeit schon vor, als wenn er mir nicht sagen will, was ich habe. Aber da hat er nicht mit den Qualitäten gerechnet, die ein Schülerleben so mit sich bringt; ich lese kopfstehende Schrift fast genauso flüssig wie aufrechte. Scheinbar völlig uninteressiert wende ich mein Hemd von der linken auf die rechte Seite - da, jetzt: Ganz langsam malt er ein großes “T”, dann etwas schneller ein “b” und schließlich ganz schnell ein “k” - blickt auf, merkt wohl, dass ich zugesehen habe und knurrt: “Wie lange willst Du Dich denn noch anziehen? Mach, dass Du raus kommst, es ist Mittag!”.

Das ist nun allerdings eine unangenehme Überraschung. Mit allem möglichem hatte ich ja gerechnet, aber nicht damit. Irgendwann im Biounterricht waren die Tuberkelbazillen und Robert Koch mal dran; irgendwann gab es ja auch im Kino einen Film über dieses Thema; wenn man damals gewusst hätte . . . Aber man hat eben nicht genug aufgepasst, und so ist das einzige, was mir noch einfällt, viel frische Luft; davon gibt es genug, und so nehme ich mir vor, meine Spaziergänge nicht nur fortzusetzen, sondern, wenn es geht, zeitlich noch auszudehnen. Das geht umso besser, da ich als Revierinsasse nicht nur nicht an den Tagesablauf im Lager, sondern darüber hinaus als Isolatorinsasse auch nicht an den Tagesablauf im Revier gebunden bin; ich habe völlige Freiheit, bei jedem Fünkchen Sonnenschein, das das Wetter hergibt, draußen rumzulaufen. Aber was zerbreche ich mir eigentlich den Kopf? Der Doktor hat doch für mich eine Krankengeschichte angelegt - ich bleibe also sowieso nicht mehr lange hier . . .

Im übrigen läuft die Parole um, unser Lager solle wegen seiner ungesunden Wohnverhältnisse aufgelöst werde. Wenn das stimmt, wird man sicher die Kranken zuerst fortschaffen, und bei denen werde ich mit der Diagnose dann ja auf alle Fälle sein; es hat also gar nicht viel Zweck, große Pläne zu machen. Erst mal abwarten und rankommen lassen; aber bis dahin behalte ich meine alte Tageseinteilung jedenfalls bei.

Auf dem Isolator liegen wir zu viert, und keiner von uns hat eine offizielle Diagnose. Sehr ansteckend können unsere Krankheiten jedenfalls nicht sein, denn weder der Doktor noch einer der Sanis sagen etwas, wenn wir im Lager herumspazieren. Nur dem Ältesten - einem steirischen Bergbauern von etwa 40 Jahren - scheint es nicht besonders gut zu gehen. Er spricht nicht mal mehr übers Essen, und das ist erfahrungsgemäß in diesem Alter ein ganz schlechtes Zeichen. Wir drei anderen sind dafür umso mobiler. Der eine, Werner, ein ehemaliger Flakhelfer aus Duisburg, den sie auf dem Weg von der Oder nach Hause geschnappt haben, ist genau so alt wie ich, und der andere, Hans, ist zwar einer von den ewigen Marschierern, ein Unterfeldwebel und Offiziersanwärter von den Kapitulanten von Hela, aber er ist nur zwei Jahre älter als wir und eigentlich ein ganz patenter Kerl  - abgesehen von seiner fast krankhaften Liebe zum Kommiss. Für die kann er aber wahrscheinlich gar nichts, denn sein Vater war auch schon Major, und da weiß er vermutlich überhaupt nicht, wie so ein Leben ohne Uniform, Dienstgradabzeichen und Befehle aussieht.

Wir - Werner und ich - haben recht lebhafte Diskussionen mit ihm darüber, ob denn wirklich erst das Militär zum “richtigen” Menschen erziehen könne. Abgesehen mal davon, dass dann ja wohl Frauen niemals richtige Menschen würden - da schnappt er nach Luft, denn darauf war er noch nicht gekommen - abgesehen also mal davon kann ich ihm als Gegenbeispiel mein eigenes Leben vorführen, auch, wenn es noch recht kurz ist. Schließlich versucht ja seit 1939 immerfort irgendwer, mich militärisch zu erziehen: Jungvolk, Hitlerjugend, Wehrertüchtigungslager, Arbeitsdienst, schließlich der Barras selbst; und jeder dieser Vereine wollte immer militärischer sein als der vorhergehende, so dass uns zum Schluss das Militär noch am unmilitärischsten vorkam . . . Aber bin ich deswegen zum Menschen geworden? Sicher, ich habe dabei eine Menge mehr oder weniger nützlicher Dinge gelernt; aber machen denn Karte, Kompass, Bewegen im Gelände, der Karabiner 98k oder “Zielen heißt, das Gewehr nach Höhe und Seite so einrichten, daß die gedachte Ziellinie vom Auge des Schützen über Kimme und Korn zum Ziel führt” - macht denn so etwas einen Menschen aus? Na, und der ganze andere Schmus, wie Soldatentum, Ehre, Kameradschaft - wo ist denn das alles hin jetzt? Soll er sich doch die Figuren unten im Kartoffelbunker mit ihren Konservendosen-Pisspötten ansehen . . . Ich bin der Ansicht, daß ich beim Arbeiten mit den Kumpels draußen auf Transport, wo einer dem anderen geholfen hat, weil wir gemeinsam fertig werden mussten, mehr gelernt habe, was einen Menschen ausmacht . . .

Meine Vermutungen unseren weiteren Verbleib im Lager betreffend haben sich bestätigt. Morgen geht es ab, ins Lazarett. Mit der offiziellen Bekanntgabe dieser Tatsache setzt rings um uns 25 Mann, die wir auserwählt sind, ein geschäftiges Treiben ein, in dessen Mittelpunkt wir stehen. Einer der Lagerdienstler nach dem anderen kommt mit der Liste, für die er zuständig ist, um sie auf den neuesten Stand zu bringen, nachzutragen, zu berichtigen, aufzunehmen, zu ergänzen . . . Der Bekleidungsmagaziner will alles, was wir an Klamotten mitnehmen, erfassen (und möglichst dabei die guten Sachen noch gegen schlechter erhaltene umtauschen), der Küchenchef muss uns aus der Verpflegungsliste streichen, der Zugführer streicht uns aus seiner Liste, trägt aber schnell vorher noch die fehlenden Geburtsdaten nach, der Arbeitseinsatzleiter hat eine Liste der verfügbaren Arbeitskräfte - nach Berufen geordnet - aus der wir ausgetragen werden müssen, der Lagerführer hat eine Gesamtliste des Lagers , in der wir ab morgen nichts mehr zu suchen haben . . . Ob wohl irgendwo wer sitzt, der die Liste aller Listen verwaltet?

Dafür geht es dann am nächsten Tag am Lagertor viel schneller. Tor auf, LKW rein - alles aufsteigen – “25 Mann ins Lazarett!”, sagt der Sani – “Charascho, pojechali! (In Ordnung, fahrt zu!)”, sagt der Posten - LKW raus, Tor zu - erledigt.

Das Lazarett liegt genau dort, wo wir am 1. Juni ausgeladen worden sind, und ist in den Steinbaracken untergebracht, die wir damals als ersten Anblick von Gomel zu Gesicht bekamen. Ein riesiger stacheldrahtumzäunter Hof, die drei langgestreckten Baracken, eine etwas kleinere, eine Menge LKWs - dann vor der Tür der ersten Baracke ein mittelgroßer breitschultriger Mann in einer Pelzweste. “Wo kommt Ihr her?”, ruft er uns zu, als der LKW hält. “Vom Lager 11!” – “Zuerst mal gleich zum Baden!” - und damit führt er uns in die kleinere Baracke. Drinnen kommen die Klamotten runter, und dann gibt es eimerweise heißes Wasser, Seife und saubere Wäsche. Während wir uns begeistert von oben bis unten abseifen, geht der, der uns da in Empfang genommen hat, von einem zum anderen und mustert uns. Ich frage den, der die Wäsche ausgegeben hat: “Du, was ist das für einer?” – “Mensch, das ist nicht 'einer' - das ist unser Chef, Oberarzt Doktor Beckenhaub!”, sagt der mit hörbarem Respekt. Unterdessen ist dieser Chef auch zu mir gekommen. “Was ist mit Dir, Langer?”, fragt er. “Auf der Krankengeschichte steht Tbk!”, sage ich. Er kriegt mich beim Oberarm und dreht mich hin und her. “Quatsch - Tbk . . . Weißt Du überhaupt, was das ist? Dir fehlt weiter nichts als ein bisschen Ruhe und genug zu fressen, ansonsten bist Du kerngesund!”. So einfach ist das . . . Und das hat unser Zahndoktor im Lager nicht rausgefunden?

Nach dem Baden kriegt jeder eine Decke umgehängt, und dann geht es über den Hof in die nächste Baracke. An der Tür empfängt uns ein Sani im weißen Kittel und verteilt uns auf die einzelnen Stuben. Werner und ich kommen auf Raum 4.

An der Tür zum Raum 4 hängt ein großes rotes Schild – “Isolator!”. Also wieder . . . Aber wieso in den Isolator, wenn ich gesund bin? Oder ist der Doktor sich seiner Sache doch nicht so sicher, wie er da vorhin getan hat? Oder will er mir das, was ich da gelesen habe, nur ausreden? - Auf alle Fälle ist das Lazarett überbelegt. In allen vier Stuben muss der Fußboden mit zum Schlafen benutzt werden (natürlich, indem man ihn mit Strohsäcken auslegt). In die Betten werden nur die schweren Fälle gepackt. Trotzdem ich einen Platz auf dem Fußboden erwische, fühle ich mich wie im siebenten Himmel - ein geheiztes, helles und sauberes Zimmer mit geweißten Wänden, an die sogar ein kleines Blumenmuster zur Verschönerung gemalt ist; ich selbst frisch gewaschen und in sauberer Wäsche eingepackt, dazu ein scheinbar recht freundlicher Stubensani (Hermann heißt er und stammt, dem Dialekt nach, aus dem Rheinland) - also, mehr kann ich mir im Augenblick wirklich nicht wünschen.

Am nächsten Morgen werden wir als “Neuzugänge” untersucht und die Fiebertabelle angelegt. Die ist hier nicht auf einem Holzbrettchen, sondern auf einem Stück Zementsack. - Wieder werde ich abgehorcht und beklopft, und als Endergebnis steht dann auf meiner Tabelle hinten drauf (ich habe natürlich sofort nachgesehen) als Diagnose “Morbus Kochii” mit drei großen Fragezeichen. Da haben wir den Salat - die wissen hier auch nicht genau, was mir fehlt. Oder soll “morbus Kochii” eine andere Bezeichnung für Roßdeutschers “Tbk” sein? Vielleicht will der hiesige Chefarzt mir genauso wenig deutlich sagen wie Dr. Roßdeutscher, was ich wirklich habe? Bei der Untersuchung selbst hat er jedenfalls wieder gesagt: “Du und Tuberkulose - daß ich nicht lache! Frische Luft und Ruhe und ein bisschen mehr zu essen brauchst Du, und sonst fehlt Dir nichts!” - Übrigens hat Werner die gleiche Diagnose gekriegt wie ich.

Also frische Luft und Ruhe . . . Das letztere kriegen wir in ausreichendem Maße - den ganzen Tag nur auf dem Hocker sitzen und warten . . . Für die frische Luft aber fehlt uns eine wichtige Voraussetzung, nämlich die entsprechende Kleidung. Außer der frischen Wäsche, die man uns bei der Ankunft verpasst hat - Unterhose und Unterhemd - und einer Wolldecke haben wir nämlich nichts anzuziehen, und wenn es auch draußen schon gelegentlich taut, kann man so denn doch nur schlecht rausgehen. Also fragen wir den Hermann, ob er uns etwas zum Anziehen besorgen kann. Er zieht mit uns in den Raum, an dessen Tür “Magazin” steht und in dem wir alle die Klamotten wiederfinden, die wir - und andere - bei der Einlieferung abgegeben haben. “Sucht Euch was 'raus!”. Auf diese Weise kleiden wir uns fast völlig neu ein. Zwischendurch gibt es dann auch das erste Essen in dieser Anstalt - und wir staunen. Weißbrot gibt es, dazu eine Portion Räucherfisch - scheint Lachs zu sein - und eine prima Hirsesuppe. Anschließend ziehen wir aber los – “Frische Luft” hat Doktor Beckenhaub gesagt, und wir sind neugierig, wo wir hier überhaupt gelandet sind . . .

Werner und ich gehen auf Entdeckungsreise. Es muss wohl so eine typische Eigenart unserer Generation in Gefangenschaft sein, dass man sich überall, wo man hinkommt, möglichst schnell einen umfassenden Überblick über sämtliche Lokalitäten, ihre Zweckbestimmung und ihre eventuellen Verwendungsmöglichkeiten  verschaffen will. So geht es uns jedenfalls, und im Ergebnis wissen wir am Abend dann schon recht gut Bescheid.

Im Komplex des Lagers befindet sich nicht nur das Lazarett, sondern auch ein gar nicht so kleiner Fuhrpark und das Hauptbekleidungsmagazin des für uns zuständigen Stabes, der “Ypravleni 189”. Der Fuhrpark ist, wie gesagt, recht groß, und besteht aus ganz netten Fahrzeugen. Meist sind es erbeutete LKWs der Deutschen Wehrmacht beziehungsweise Wagen, die die Wehrmacht auch schon erbeutet hatte, und die Kraftfahrer sind Plenis wie wir. Ein großer Sechstonner - ein Tatra - zwei bildhübsche englische Dodge, ein Opel “Blitz”, ein paar V8 von Ford; dann eine ziemliche Zahl an Pferden, schwere Belgier und Oldenburger Kaltblüter, nicht solche Minipferdchen, wie sie hier zu Hause sind, die dazu gehörigen schweren Wagen, dann eine Schmiede, eine Kfz-Werkstatt - und alles von Plenis bedient, Deutschen und Ungarn, die vollständig auf sich selbst gestellt arbeiten. Die Fahrer machen sogar, haben sie erzählt, große Überlandfahrten ganz allein . . . Da müsste man als Transportkommando arbeiten dürfen . . .

Auch mit der Einrichtung des Lazaretts und mit dem Personal sind wir bekannt geworden. Das  Lazarett besteht aus vier Stuben - Stube 1 für innere Krankheiten, Stube 2 für chirurgische Fälle, Stube 3 ist nur ein kleiner Raum, in dem die älteren Kranken liegen, und Stube 4 ist der Isolator, in dem wir auch untergebracht sind. Dazu kommt das Ärztezimmer, das Ambulatorium (“Behandlungszimmer” würden wir zuhause sagen) und das Kleiderlager, das "Magazin". Nicht sehr groß, aber überall hell und sauber. Verwaltet wird das Ganze von einem Militärarzt im Range eines Kapitäns, also gewissermaßen einem Stabsarzt, einem alten freundlichen Opa, und drei Schwestern mit Unterleutnants-Schulterstücken: Njura, Paula und Ljussa. Paula heißt allgemein “Paulinchen”, und sie erinnert tatsächlich an das Mädchen mit den Streichhölzern aus dem “Struwwelpeter”. Ljussa hingegen wird “Konni” genannt – “Konij” heißt “Pferd”, und genauso trampelt sie auch durch die Stuben. Njura ist ein kleines Dickerchen mit einem Vollmondgesicht; aber beim Stubendurchgang achtet sie mehr auf “Hygiene” (darunter versteht sie einen tadellos sauberen Fußboden) als ein Unteroffizier in einer preußischen Kaserne.

Im Großen und Ganzen gefällt es mir recht gut hier. Das Essen ist gut und schmackhaft, dürfte nur, wie immer, etwas mehr sein; die Unterkunft ist besser als alles andere, was ich seit März 45 in Wittstock erlebt habe, auch wenn ich immer noch jeden Abend meinen Strohsack auf dem Fußboden ausrollen muss; und schließlich haben Werner und ich sogar Arbeit gekriegt. Übrigens sind wir beide die letzten Übriggebliebenen der 25 Mann aus dem Lager 11, die damals hier gemeinsam angekommen sind. Die meisten davon sind schon am nächsten Tage weiter transportiert worden, nach Rjetschiza ins “Gocpital”, ins Krankenhaus, und der Rest ist geheilt in irgendwelche Lager entlassen.

Dass wir Arbeit gekriegt haben, ist gut, denn sonst könnte man direkt vor Langeweile eingehen. Die Bettlägerigen können einem in dieser Beziehung leid tun; die haben den ganzen Tag nichts weiter zu tun als von einer Mahlzeit auf die nächste zu warten. Das einzig Aufregende am Tag ist das morgendliche Großreinemachen. Jeden Tag wird gewischt und der nasse Fußboden mit einer Ziehklinge abgezogen, so daß die Kiefernbretter fast schneeweiß aussehen; und dann kommt Njura und kontrolliert und findet trotzdem immer noch etwas zu bemängeln . . . Ansonsten kann so ein armer Bettlägeriger immer nur die Decke (oder den Strohsack seines Obermannes) anstarren.

Mit der morgendlichen Scheuerorgie hat sich die Aufgabe der Stubensanis aber nicht erschöpft, auch, wenn sie den Rest der Arbeit nicht alle gleich ernst nehmen. Die Strohsäcke der Kranken sollten eigentlich jeden Tag aufgeschüttelt werden, und nicht alle Kranken können sich jeden Tag selbst waschen. Was das angeht, ist der Hermann von Stube 4 immer hilfsbereit; aber in den anderen Stuben lässt das schon zu wünschen übrig. Dabei hat gerade der Hermann es nicht leicht, weil die meisten, die im Isolator liegen, das Bett kaum verlassen können.

Ich möchte seine Arbeit nicht machen. Schon, wenn ich den Schieber nur sehe, wird mir richtig ungemütlich. Da gehe ich wirklich lieber jeden Tag raus und schaufele an “unserem” Müllhaufen herum. Vor dem Lazarett liegt nämlich ein ziemlicher Haufen Unrat - der Müll des ganzen Winters, alte Binden und Gipsverbände, leere Arzneipackungen, Bauschutt und sonstige Abfälle, bisher  gnädig unter einer Decke von Eis und Schnee verborgen; aber es taut jetzt schon ein paar Tage . . . Werner und ich laden den Müll auf einen Wagen, der, wenn er voll ist, abgeholt wird. Der Haufen, der anfangs hart wie Beton war, wird jetzt von Tag zu Tag weicher, man kann auch schon ohne Mantel arbeiten - wenn man so Tag für Tag draußen ist, merkt man, dass es Frühling wird.

Der Verpflegungs-Sani vom Lazarett ist eine komische Nudel. Willi heißt er und kommt aus dem Ruhrgebiet – “Nu, wie heißt Stadt - ist nicht Topf, ist nicht Eimer – ist Wanne!”, variiert er einen alten Kommisswitz, denn er stammt aus Wanne-Eickel. In Zivil ist er Buchhalter, aber mit diesem Beruf hat er offensichtlich seine Berufung verpasst; Operettentänzer hätte er werden sollen . . . Er kann einfach kein Bein wie ein normaler Mensch auf die Erde setzen - immer tanzt er, gelenkig wie eine Schlange. Dabei steckt er bis oben hin voll Operettenschlager und Zitaten aus irgendwelchen Lustspielen. Anfangs habe ich gedacht, er hätte irgendwo eine Schraube locker. Vielleicht ist das auch so, vielleicht auch nicht - auf alle Fälle lebt er nur für Theater und Bühne. Seine größte Freude ist es, jemanden zu finden, dem er sein “zweiaktiges Singspiel, das er gerade vollendet hat”, vortragen kann. Das singt er dann mit verteilten Rollen, alle vier oder fünf Darsteller in einer Person, Bass und Tenor und Sopran. Ich hab's schon dreimal hören dürfen - eine vielleicht sogar nicht mal ungeschickte Zusammenstellung von Liedern und Dialogen, die es alle schon irgendwo anders gibt und zu denen dann getanzt werden soll. Wie es mir gefällt, will er am Ende wissen . . . Schwere Frage . . . Ich verstehe davon doch so gut wie überhaupt nichts . . . “Donnerwetter!”, sage ich; und er ist glücklich . . .

Für unsere drei Ärzte bringt er sich fast um, denn außer seiner Tätigkeit als Verpflegungsverwalter ist er auch Putzer oder Bursche oder wie man das sonst nennen will bei ihnen. Dabei könnte ich mir gut vorstellen, dass sein Gehampele einem Menschen mit einer so verantwortungsvollen Arbeit, wie sie die Ärzte haben, ganz schön auf die Nerven gehen kann. Schließlich haben die drei schon so einiges hinter sich; der Chef, Dr. Beckenhaub, und der Zahnarzt, Dr. Schäfer, sind “Stalingrader”, d.h. im Kessel von Stalingrad in Gefangenschaft gekommen (Dr. Beckenhaub soll dort mit einem ganzen Feldlazarett kapituliert haben, wird erzählt), und der Chirurg, Dr. Neeb, stammt aus dem Kurlandkessel, der im Mai 1945 kapituliert hat, war vorher seit 1939 dabei und soll unter Bedingungen operiert haben, die in keinem Lehrbuch vorgesehen waren.

Für seine Fähigkeiten in dieser Hinsicht haben wir hier auch schon ein Beispiel erlebt. Eines Abends kommt ein LKW mit einem einzelnen Kranken - ganz dringend, Blinddarm vereitert, schon ein paar Tage lang, also wahrscheinlich kurz vor einem Durchbruch. Riesenaufregung, sofort auf den Tisch zur Operation - Narkose, der Doktor fängt an - da geht im ganzen Lager das Licht aus. Stromsperre! Der Doktor lässt aus allen vier Stuben die kleinen Benzinfunzeln, die für solche Fälle bereitstehen, zusammenholen, zu jeder Lampe ein Mann, der sie hält (so bin ich zu dieser Operation gekommen) - und operiert weiter! “Skalpell - Lampe höher - Tupfer - Lampe mehr nach rechts . . .” - und der Mann lebt.

Inzwischen sind wir beide - Werner und ich - als Jüngste des ganzen Lagers ziemlich bekannt geworden, und so kommt es, dass Werner eines Tages vom Wachoffizier als “Ordonnanz”, als Läufer und Mädchen für alles, in die Wachbude geholt wird. Der hat's geschafft . . . Draußen wird es langsam, aber sicher grün, und er sitzt am Lagertor und kann rein und raus, wie er will . . . Geht mit den Frauen der Offiziere in die Stadt und auf den Markt einkaufen, Körbe und Taschen tragen - ich möchte zu gerne auch mal wieder laufen, ohne dass jemand aufpasst, dass ich das auch richtig mache . . .

Es wird aber nicht nur grün, sondern auch dreckig. Sehr dreckig sogar . . . Die oberen Bodenschichten tauen auf, drunter ist es noch gefroren, und so kann der gelbe Lehmbrei, der fast wie Erbsensuppe aussieht, nicht ablaufen und bleibt stehen. “General Schlamm” hieß das in den Frontberichten. Man kann nicht mal mehr die knapp 25 Meter vom Lazarett zur Küche laufen, ohne bis an die Knöchel einzusinken. So werden alle verfügbaren Kräfte - auch die Lazarettinsassen, die als “Genesende” geführt werden - eingesetzt, um irgendwelche Möglichkeiten zu schaffen, wenigstens die wichtigsten Wege einigermaßen sauber zurücklegen zu können. Am besten hat sich dabei bewährt, wenn man auf dem geplanten Wege mit Schaufeln den Schlamm bis auf den Frostboden abträgt und den entstandenen flachen Graben mit Ziegelsplitt auffüllt. Wenn das Auftauen weiter fortschreitet, braucht man dann nur ständig neuen Splitt nachzufüllen, und die roten Ziegelsteinwege sehen sogar recht ordentlich aus.

Ihr Aussehen hat dann wohl auch die Konni auf den Gedanken gebracht, den Hof mit einer Grünanlage zu verschönern. Ein Anfang dazu ist schon vorhanden; in der Mitte zwischen den etwa im Viereck stehenden Baracken ist unter dem Schnee eine recht verwahrloste Grünfläche zum Vorschein gekommen, an deren Ecke irgend welche struppigen Büsche stehen und deren Mitte ein Rondell mit einem großen roten Sowjetstern bildet - selbstverständlich auch aus Ziegelsplitt. Das also soll in Ordnung gebracht werden, und gleichzeitig soll die Fläche zwischen Lazarett und Küche, die im Moment von unseren Wegen “verschönt” wird, mit Rasen bepflanzt werden; und hinter der Lazarettbaracke soll Gemüse gezogen werden. Termin: der 1. Mai.

Also wird aus den Genesenden eine Gartenbaubrigade zusammengestellt, Spaten werden verteilt, und dann beginnt ein eifriges Arbeiten. Kies zum Auffüllen der Wege rollt an, Stiefmütterchen  und Tabakpflanzen sollen der Verschönerung dienen, Rasen wird in ganzen Soden außerhalb des Lagers ausgestochen und innen ausgelegt - und am 1. Mai ist es tatsächlich geschafft - wo vor anderthalb Monaten Werner und ich noch mit den steinhart gefrorenen Müllhaufen gekämpft haben und wo vor drei Wochen noch knöcheltief gelber Schlamm stand, haben wir jetzt eine richtige kleine Grünanlage, und auch die Rasenfläche mit dem Sowjetstern in der Mitte des Hofes sieht wieder ganz anständig aus. Hinter den Baracken aber warten große umgegrabene und glatt geharkte Beete auf die Bestellung.

An all' dem bin ich aber nur sehr wenig beteiligt gewesen. Wir hatten grade damit angefangen, da wurde der eine der beiden Küchenabwäscher krank, und ich wurde mitten in der Nacht geweckt und informiert, dass ich am nächsten Morgen seine Stelle in der Küche einnehmen sollte. Na, hab' ich mir gedacht - jetzt bist Du mal an den Fleischtöpfen, die Gelegenheit musst du wahrnehmen, und habe mir so richtig den Bauch vollgehauen - mit dem Erfolg, dass man schon nach drei Tagen auf mich und meine Dienste verzichtet hat. Zur Teilnahme am Küchenleben gehört eben auch, dass man arbeitet, hat mir der Küchenchef erklärt.

Dafür hat man mich auf eine andere Stelle abgeschoben, die mir - wenigsten, was die Arbeit angeht - fast noch mehr Spaß macht. Unsere Verpflegung lässt, trotzdem sie viel besser als die normale Lagerverpflegung ist, in einem Punkt sehr zu wünschen übrig: Sie besteht ausschließlich aus konservierten, getrockneten oder eingesäuerten Nahrungsmitteln. Nichts Frisches, keine Vitamine - und die sind doch für Kranke und Genesende so ungeheuer wichtig! So hat der Chef es der Konni klar gemacht und ihr erklärt, dass man hier mit Wildgemüse, wie es in Form von Brennnesseln rings um das Lager immer dichter wächst, Abhilfe schaffen könnte. Also gibt es jetzt eine Brennnessel-Brigade, und die hat natürlich auch einen Brigadier - und der bin ich . . .

Das ist eine Arbeit - die könnte ich den ganzen Sommer über machen . . . Zwar kommt an der ersten Tagen Paulinchen noch mit, um auf uns aufzupassen, aber bald sieht sie ein, daß uns keiner was tut, und dass auch wir keinem was tun, so bleibt sie bald zuhause, und wir können uns auf unseren Streifzügen außerhalb des Stacheldrahtes so ziemlich frei bewegen. Nur in die Stadt hinein dürfen wir nicht; aber was sollten wir dort auch schon? Mir genügt es, wenn ich mit meiner Mannschaft in den Trümmern und den alten Schützengräben und Geschützstellungen, die ringsum sind, umher stromern kann. Brennnesseln gibt es überall, aber die Küche legt Wert auf möglichst junge und zarte Pflanzen, und die muss man eben suchen . . .

Die Gefahr, daß einer von der Brigade ausreißt, ist wirklich nicht sehr groß; denn ich bin der einzige von den fünf Mann, der vollständig angezogen ist. Die anderen vier haben nur Unterwäsche, Turnschuhe und graue Lazarettmäntel an, und in diesem Aufzug dürfte es schwer fallen zu türmen. Na, und meine Kleidung ist auch nicht gerade so, dass ich mich damit unerkannt durch die Stadt bewegen könnte. Aus einer alten Drillichhose habe ich durch radikales Verkürzen der ohnehin zerrissenen Beine eine kurze Hose fabriziert; dazu weiße Kniestrümpfe und ein Unterhemd, das ich durch Annähen eines Kragens, den ich aus einem blauen Taschentuch fabriziert habe, an das Halsbündchen zum Oberhemd befördert habe, und eine fast neue blaugraue Fliegerbluse zu ein paar Bordschuhen von der Kriegsmarine - das ist ein Anzug, der bei uns zuhause in meinem Alter zwar durchaus möglich wäre, der aber hierzulande offensichtlich als unmoralisch gilt. Man zeigt seine Beine nicht öffentlich . . . Mit der Konni habe ich deshalb auch schon Krach gehabt, aber der “Opa” - der Kapitänsarzt, der hier der oberste Chef ist und zu dem sie mich geschleppt hat - hat mir eine Ausnahmeerlaubnis erteilt. Trotzdem sieht sie jedes Mal weg, wenn ich ihr begegne . . .

Wir dehnen unsere Streifzüge aus, immer weiter in die benachbarten Apfelplantagen hinein. Schade nur, dass noch nicht Herbst ist; dann könnten wir Äpfel ernten . . . Jetzt stehen die Bäume in voller Blüte, und wenn das auch ein sehr hübscher Anblick ist, all' die weißblühenden Bäume, so ist es doch kein sehr nahrhafter. Im Herbst wäre das sicher anders . . . Dafür wächst unter den Bäumen wilder (oder verwilderter?) Rhabarber, viel kleiner als bei uns zuhause im Garten, mit nur etwa fingerdicken Blattstielen und handtellergroßen Blättern, aber Rhabarber. Auf den legt hier offensichtlich keiner Wert; sogar die Konni hat ihn für giftig gehalten, als wir die ersten Stiele mit in die Küche brachten, und es bedurfte der Diskussion aller drei Ärzte, sie davon zu überzeugen, dass das etwas viel besseres sei als die Brennnesseln. Letztlich hat sie aber einen Versuch gestattet, und seitdem gibt es zum Mittagessen als dritten Gang Rhabarberkompott.

Dann darf - oder muss? - ich endlich aus dem Isolator ausziehen und kriege einen Schlafplatz im Vorraum der Sauna zugewiesen. Aus den Lagern in der Stadt kommen in großen Schüben Durchfallkranke, man munkelt von einer Ruhrepidemie, und im eigentlichen Lazarett dürfen sich nur noch die bettlägerig Erkrankten und das Pflegepersonal aufhalten. Alle sogenannten “Genesenden” werden irgendwo außerhalb untergebracht. Mir gefällt das so viel besser; man ist nicht mehr so streng an den Tagesablauf im Lazarett gebunden, mit Visite und Nachtruhe und so, und kann sich seinen Tag viel besser einteilen.

Vor meiner neuen “Wohnungstür” wird eine große Plantage angelegt. Einhunderttausend Weißkohlpflanzen sollen für die Landwirtschaft des Stabes, die irgendwo in den Wäldern oder Sümpfen zwischen Sosch und Dnjepr liegt, bereitgestellt werden. Das gibt wieder Arbeit für die Genesenden . . . Diese Landwirtschaft, “die Kolchose”, wie sie bei uns heißt, ist im Moment für uns das wichtigste Gesprächsthema. Der größte Teil der Pferde und der Wagen und die dazugehörigen Fahrer sind schon dahin abgewandert, die ganze Kuhherde ist dorthin auf die LKWs verladen worden, und alle die, die das Lazarett als geheilt verlassen, werden auch dorthin in Marsch gesetzt. Na, und wenn einer von denen wieder mal zu uns reinkommt - mit dem Wagen, der die Verpflegung holt, oder zur Zahnbehandlung - dann schwärmt der von dem Leben da draußen. Fast frei, kein Zaun, gutes Essen - wenn ich mal nicht mehr “Genesender” bin, möchte ich auch dahin geschickt werden.

Vorläufig sieht es aber bei mir noch nicht danach aus. Ich weiß zwar immer noch nicht, von was für einer Krankheit ich genesen soll - bei jeder Vorstellung sagt der Doktor, eigentlich sei ich kerngesund - aber zum Bestand des Lazaretts gehöre ich noch immer. So kommt es denn, dass ich eines Tages wieder als Abwäscher in der Küche lande. Diesmal bin ich aber gescheiter als beim ersten Mal; jetzt weiß ich, dass Küchenarbeit nun mal in erster Linie Arbeit ist, und daß man sich das bessere Essen erst mal verdienen muss . . .

Arbeit gibt es ausreichend. Zweimal am Tage wird die ganze Küche aufgewischt; dann müssen die Holzkübel, in denen das Essen für die einzelnen Quartiere ausgegeben wird, stets blitzsauber gescheuert werden; drei große Gusseisenkessel mit je 500 Litern Fassungsvermögen und zwei kleinere mit je 200 Litern sind nach jedem Kochen zu reinigen, was besonders dann kompliziert wird, wenn dazu das Feuer nicht gelöscht werden kann (weil die nächste Mahlzeit schon dran ist) oder wenn die Mehlsuppe angebrannt ist (was leider auch mal vorkommt). Nebenbei darf ich Suppe rühren, die Kessel heizen und schließlich jede vierte Nacht Nachtdienst machen. Im Nachtdienst muss ich das Feuer unter einem Kessel am Brennen halten und den Morgenkaffee (der meist Wehrmachts-Einheits-Kräutertee und nur sehr selten Malzkaffee ist) kochen. Der Tag fängt früh um sechs Uhr an und ist abends um neun Uhr zu Ende, und jeder vierte Tag (nach dem Nachtdienst) ist frei. Also wirklich - Arbeit genug; aber es gibt auch danach zu essen . . .

Mit den drei Köchen komme ich gut aus. Der Küchenchef, Gerhard, hat in Zivil eine Hotelküche in Köln geleitet, und er ist der, dem immer wieder etwas Neues einfällt, damit der Speisenplan nicht so unbedingt nach Kommiss aussieht. Der zweite Koch, Wolfgang, hat in Mainz eine Fleischerei und war bei der Wehrmacht Koch an der Feldküche. Der Dritte schließlich, Otto, hat in Zivil nichts mit Kochen zu tun; er ist Landarbeiter auf einem pommerschen Gut gewesen, aber das merkt man ihm nicht an; er kocht genauso gut wie die anderen. - Was mir besonders imponiert, ist die Tatsache, dass es in dieser Küche für niemanden eine Extrawurst gibt. Ob der Lagerführer, ein rumänischer Offizier aus der Karpatho-Ukraine (die ja jetzt, wie man sagt, auch zur Sowjetunion gehören soll), ob die Ärzte oder ob die Köche selbst - alle essen aus demselben Kessel.

Dabei wäre es bei den Verpflegungszuteilungen, die es hier gibt, ein Leichtes, mal etwas Ausgefallenes zu machen . . . Es gibt die verschiedensten Konserven: amerikanisches “Luncheon meat” von Oscar Mayer, Blutwurst in Dosen mit einem Ahornblatt drauf (also scheinbar Armeeverpflegung aus Kanada), gesüßte Kondensmilch (auch von einer amerikanischen Firma), es gibt Räucherlachs und Lachs in Weißbrotteig eingebacken, es gibt viel Fleisch, Sonnenblumenöl, Reis, Backobst - und Gerhard setzt immer wieder durch, daß das, was sich dazu eignet, als Kaltverpflegung direkt “an den Mann” gebracht wird und so jeder seinen Anteil in natura erhält.

Trotz der doch recht schweren und anstrengenden Arbeit fühle ich mich wohl. Bei der letzten Vorstellung hat der Chef gesagt, es würde Zeit, dass ich nach Hause käme, sonst würde mich keiner mehr erkennen, so dick würde ich . . . Immerhin wiege ich jetzt 130 Pfund, und mit hundertfünf Pfund bin ich damals im Februar hier eingeliefert worden . . .

Eines Tages tauchen zwei sonderbare Figuren unter uns auf. Der eine ist so etwa 40 Jahre alt und trägt das blau-weiß gestreifte Zeug, das in Deutschland die KZ-Häftlinge trugen, mit einem großen roten Dreieck auf der linken Brustseite; der andere ist eigentlich noch ein kleiner Junge, vielleicht so an die 10 bis 12 Jahre, und der trägt eine richtige Uniform von der Roten Armee mit Russenkittel, Stiefelhosen und sogar passenden Stiefeln. Sie beziehen eine kleine Stube in der Baracke, in der die Bekleidungskammer der Wachmannschaften untergebracht ist, und werden in der Verpflegungsliste des Lazaretts geführt. Durchs Tor dürfen sie gehen, wie es ihnen passt, sprechen beide perfekt Deutsch - der Kleine aber auch recht gut Russisch - und überhaupt scheinen sie wohl etwas Besonderes zu sein.

Als wir wie üblich am Abend auf den Bänken vor der Lazaretttür sitzen und klönen, kommen beide dazu. Es gibt natürlich eine Menge Fragen, und dabei stellt sich dann heraus - der Alte heißt Emil Dombrowski und war in Auschwitz im KZ. Auschwitz kenne ich bisher nur aus Artikeln in den “Nachrichten für deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion”, unserer Lagerzeitung - so etwas wie Ravensbrück, aber wohl noch schlimmer . . . Er reist jetzt von Lager zu Lager und hält Vorträge über die KZs und kennt sich da scheinbar wirklich gut aus, denn als ich ihm erzähle, daß ich aus dem Südharz komme, sagt er sofort: “Da war doch bei Nordhausen die V-2-Fabrik? Die wurde auch mit Leuten von uns betrieben!”.

Der Kleine heißt Heinz, stammt aus Ostpreußen und ist dort 1944 von einem russischen Artillerieregiment aufgelesen worden. Vater Soldat, Mutter in dem Durcheinander auf der Flucht plötzlich weg, er ganz alleine - und plötzlich die Russen da. Die haben ihn dann wohl als so eine Art Maskottchen mitgeschleppt, und es ist ihm gut gegangen - bis das Regiment kurz nach Kriegsende aufgelöst wurde. Seitdem muss sich der Emil um ihn kümmern. Ehrlich - der Emil tut mir leid. Der Bengel ist derartig vorlaut und verzogen . . . Ich habe ja zuhause auch einen Bruder in dem Alter; wenn der mir so dumm käme, wie der hier zu dem Alten ist - da hätte es längst geknallt . . .

Das geht nun ein paar Tage so, bis die beiden wieder weiterreisen; tagsüber ist der Emil in den Lagern draußen und hält seine Vorträge, und der Bengel treibt sich im Lager rum und fällt allen und jedem auf die Nerven. Das Betreten der Küche ist grundsätzlich verboten, also lasse ich ihn nicht rein – “Ich will aber mal sehen, wie das da gemacht wird!” - und weil er das so schön bockig nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Russisch kann, führt ihn die Njura trotz Hygiene persönlich, erklärt ihm alles und lässt ihn von allem kosten. So gut müsste man das auch haben . . . Andererseits - so klein noch und ohne Eltern und ohne Zuhause . . .

In der Apfelplantage, aus der wir den Rhabarber geholt haben, soll ein Erholungslager eingerichtet werden. Ein Erholungsheim für Gefangene . . . Schon seit ein paar Tagen gehen die Handwerker aus den Werkstätten des Stabes dorthin und richten ein großes Holzhaus entsprechend ein. Es geht die Parole um, das ganze Personal für dieses Erholungslager solle von uns hier gestellt werden; so sei der Wolfgang, unser zweiter Koch, als Küchenchef vorgesehen, und der Willi, der Operettenheini, solle das Krankenrevier übernehmen . . .

Dann ist plötzlich der erste Schub in das neue Lager weg. Wolfgang ist mit, als Koch, und Willi auch. Da wäre ich gerne auch mitgegangen - aber daran ist nicht zu denken, denn in der Küche fehlt nicht nur Wolfgang; er hat den Hans, unseren zweiten Abwäscher, auch noch mitgenommen, und dessen Nachfolger stellt sich Küchenarbeit offensichtlich genau so vor, wie ich damals in meinen ersten drei Tagen. So wissen wir bald nicht mehr, wo uns der Kopf steht. Otto steigt zum zweiten Koch auf, und mir sagt keiner was, aber einer muss ja Ottos Arbeit übernehmen; so bin ich praktisch dritter Koch und gleichzeitig erster Abwäscher, mit einem zweiten Abwäscher, der keine Arbeit von selbst sieht und überall mit der Nase drauf gestoßen werden muss . . . Mein Arbeitstag geht jetzt von mittags halb eins bis früh um acht. Mittags gebe ich das Essen mit aus, dann muss die Küche gewischt werden (wenn ich Joseph das allein machen lasse, werde ich die Njura den ganzen Nachmittag nicht los); dann Abendsuppe aufsetzen, während sie kocht, das Mittag für den nächsten Tag vorbereiten: Konservendosen öffnen, Fleisch schneiden usw., Abendessen ausgeben, Küche für die Nacht vorbereiten, dann die Nachtwache, dabei aufpassen, daß Feuer unter dem Kaffeekessel bleibt, also nichts mit Schlafen; Morgenkaffee und Morgensuppe kochen, Morgensuppe mit ausgeben, dann wieder Küche wischen (Joseph - siehe vorhin) - und dann schlafen bis Mittag, denn jetzt kocht Otto das Mittagessen. Gerhard hat den ganzen Tag mit Verpflegungsempfang und “Menju” (auf Deutsch: Speiseplan) zu tun, denn da muss für jede Mahlzeit der Kaloriengehalt berechnet werden, und dann gibt er ja auch noch die Kaltverpflegung aus, und die ist bei uns eben wegen der vielen Kleinigkeiten viel komplizierter als anderswo . . .

Eine Woche mache ich das so mit, und als Joseph sich dann immer noch nicht bequemen kann, mal von selbst etwas anzufassen oder das, was ihm aufgetragen wird, ordentlich zu machen, reißt mir die Geduld, und ich gehe zu Dr. Beckenhaub. Einer von uns beiden muss raus aus der Küche, und weil ich mit meinen mittlerweile 135 Pfund den Joseph, der etwa so verhungert aussieht wie ich vor einem Vierteljahr, schlecht von den Fleischtöpfen wegdrängeln kann, bitte ich den Chef um eine andere Arbeit.

Am nächsten Tag soll der zweite Schub in das neue Lager 13, das Erholungslager, abgehen, und Dr. Beckenhaub setzt mich mit auf die Liste. Also wieder mal umziehen . . . Ich packe meine Siebensachen zusammen - und staune, was da doch mittlerweile so alles an Kram zusammenkommt. Allerhand, schon allein die Garderobe: Hose und Fliegerbluse, zwei Garnituren Unterwäsche, das weiße Drillichzeug aus der Küche, die kurze Hose, Decke und Mantel (ich habe mir einen schönen dicken Fahrermantel besorgen können), Lederschuhe und Turnschuhe, Schlafdecke - nur gut, daß ich rechtzeitig an einen stabilen Luftwaffenrucksack gedacht habe . . .