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Gomel

So geht es acht Tage lang. Dann stehen wir plötzlich eine ganze Nacht hindurch. Morgens natürlich großes Rätselraten - wo sind wir jetzt? Linker Hand scheint eine größere Stadt zu liegen, rechts auf einem flachen Hügel stehen irgendwelche langgestreckten einstöckigen Gebäude mit Stacheldraht drum herum - das ist offensichtlich ein Lager. Vielleicht das, wo wir hinsollen? Wo wir hier wohl sind? Auf alle Fälle nicht in Dresden, also in Russland, muss ich mich an die Eylauer Parolen erinnern. Hätte nicht gedacht, dass ich das noch mal kennen lerne. Na - mal sehen, wozu's gut ist . . .

Wir werden ausgeladen. Irgendwer - solche Zufälle gibt es - kennt die Gegend, hat mal oben in den Baracken im Feldlazarett gelegen: Wir sind in Gomel . . . Gomel? War das nicht irgendwo im Mittelabschnitt, eine der Städte, bei denen gleich zu Anfang eine der großen Kesselschlachten gewesen ist? - Dann sollen wir sicherlich die Stadt aufräumen; die wird wohl ungefähr so wie Berlin aussehen - und "wozu gibt es denn Kriegsgefangene" habe ich ja schließlich mal selber gesagt . . .

Dolmetscher laufen herum, rufen in ihrem unmöglichen Deutsch Nummern auf - die Waggons waren auf der Fahrt nummeriert - fluchen und malträtieren die deutsche Sprache geradezu erschreckend (meist sind es Polen aus Oberschlesien oder irgendwelche lettischen SS-Männer, und ihr Russisch scheint nicht viel besser zu sein als ihr Deutsch) – “Wagon fimfßen, Wagon ßwanßik, Wagon ßwanßikunains, Wagon ßwanßikunfimf” - Mensch, das soll doch “Fünfundzwanzig” heißen, das sind wir doch! “Los, Antreten mit Gepäck!”. Da vorn steht schon ein Haufen, werden so etwa 400 Mann sein - wir noch dazu – “Eto wsjo (Das ist alles)!” - und ab geht's.

Nur gut, dass Kurt und ich in dem ganzen Trubel geschafft haben, immer noch zusammen zu bleiben. Allein unter lauter Fremden (denn auf der Bahnfahrt war wirklich keine Gelegenheit, sich kennen zu lernen, weil man meist geschlafen hat) - also, allein unter lauter Fremden in einem ganz fremden Land - das wäre schon ein Grund, trübsinnig zu werden. Was weiß man denn, was da jetzt auf uns zukommt? Und vor allen Dingen - wann kommen wir hier mal wieder weg? Die haben uns doch nicht zur Entlassung bis hierher verfrachtet . . .

Nachdem wir eine ganze Weile eine schnurgerade Straße entlang gelaufen sind, an der zuerst Blockhäuser mit Blumengärten davor, dann heile und schließlich zerbombte (oder zerschossene) Mietshäuser stehen, liegt vor uns ein riesiger Trümmerhaufen. Steine, Betonbrocken, Eisenträger, Steine, Steine - und mitten dazwischen ein Betonklotz ohne Dach, die meisten Fenster vermauert, an der einen Seite überdimensionale Hühnerleitern zum ersten und zum zweiten Stock, rings um das ganze dreifacher Stacheldraht, an den Ecken Wachtürme aus Holz - das soll doch nicht etwa unser Lager sein?

Doch - es soll. Schön ist unsere neue Behausung wirklich nicht, aber wenn es denn sein muss . . . Hauptsache, Kurt und ich bleiben weiter zusammen. Wir vom “Wagon ßwanßikunfimf” werden in den zweiten Stock eingewiesen. Große Räume, aber kühl - Betonfußboden, und finster; zwei kleine Fensterchen, und die lassen sich nicht öffnen. 150 Mann in einer solchen Halle - das wird ein schöner Mief werden . . . Die Betten sind toll, riesige Regale zur Menschenaufbewahrung, zweistöckig, jeweils 15 Mann nebeneinander, und das wird eng - da muss dann wohl einer nachts immer "Umdrehen" kommandieren . . . Die Bretter biegen sich durch und sind nicht gehobelt; ob es wohl mal Strohsäcke gibt? - Das schönste aber sind die Treppen. Richtige Hühnerleitern, Bretterrampen mit aufgenagelten Quersprossen, man kommt sich wie eine Henne darauf vor. Dabei sind unsere Beine das Laufen nach der langen Fahrt gar nicht mehr richtig gewöhnt. Und einen Hunger haben wir . . . Schließlich hat es heute noch kein Essen gegeben, und Mittag dürfte längst vorbei sein. “Falls Du Dir den Tag Deiner Landung in Russland merken willst”, sagt Kurt plötzlich, “heute ist der 1. Juli.”

Während wir das Quartier besichtigt und uns eingerichtet haben, entspinnt sich den Zaun entlang ein lebhafter Tauschhandel. Alles irgendwie Entbehrliche wird dort verscheuert; Abnehmer sind Russenjungen so im Alter von 10 bis 12 Jahren, auch einige Frauen darunter; Zahlungsmittel von ihrer Seite ist Brot. Brot für Taschentücher, Brot für Hemden, Brot für Brotbeutel, Brot für Pullover - alles, was man im Moment nicht unbedingt benötigt, wird verscheuert; und bei denen, die seit Hela ihr komplettes Marschgepäck mit sich herumschleppen, ist das nicht ganz wenig. Wir sind da wesentlich schlechter dran; das einzige, was ich mit gutem Gewissen gegen mich selber anbieten kann, sind Koppel und Koppelschloss; dafür kriege ich ein Stück Brot von etwa 200 Gramm - ein Genuss nach der Zwiebackzeit im Zug!

Wie vorausgesehen, wird das Schlafen zum Problem. Nicht nur, dass wir auf den blanken Brettern liegen - das sind wir nun mittlerweile schon gewohnt. Das größere Problem ist, dass die Pritschenbretter alle möglichen verschiedenen Stärken haben und nicht längs des Körpers, sondern quer zu ihm verlaufen. Damit liegt von vornherein jeder Abschnitt des Körpers auf einem anderen Niveau, und das ändert sich sowohl bei eigenen Bewegungen wie auch bei Bewegungen der Nebenleute. Irgendeine Kante drückt immer . . . Dazu kommt, dass wir uns tatsächlich nur gemeinsam umdrehen können; wir liegen wie die Silberlöffel im Besteckkasten, und da passt ja auch keiner andersrum rein . . . Außerdem könnte man morgens die Luft mit Schaufeln aus dem Raum tragen. Wie bequem war da doch unser “Wagon ßwanßikunfimf”!

Am nächsten Morgen wird sofort nach dem Aufstehen wieder mit sämtlichem Gepäck angetreten, und dann geht wieder mal eine wüste Filzerei los. Das ist uns nun schon so oft wiederfahren, dass man sich fragt, was die eigentlich immer noch suchen. Waffen hatten wir doch schon seit der Gefangennahme nicht mehr, Messer, Nähzeug, Schreibzeug sind wir seit Stargard schon los; und so erhebt sich ein fast brüllendes Gelächter, als frischgebackene Lagerdolmetscher, ein Lette oder Este, in seinem holprigen Deutsch fragt, “ob noch einer von die Kameraden hat Schissgewehr oder so mit sich, dann soll geben ab, sonst kommt in Bunker”.

Das mit dem Schießgewehr scheint aber wohl eine Formsache gewesen sein; die haben es diesmal auf ganz etwas anderes abgesehen. Vor allem bei den Helaern, den “Kapitulanten”, die ja bis hierher mit vollen Rucksäcken gereist sind und offensichtlich auch beim großen Tauschen gestern noch genug übrig behalten haben - bei denen räumen sie aus. Am Ende hat jeder von denen so viel wie wir, nämlich nur das, was er auf dem Körper trägt. Alles, was sie darüber hinaus an Kleidung mitgeschleppt haben, wird kassiert. “Offißier gesagt: nicht gut, eine Kamerad ßwei, drei, fimf Hemd und andere keine; muss man geben alle eine Hemd!”, erklärt der Dolmetscher. Wenn das so ist, imponiert mir das sogar; denn seit man mir in Deutsch-Eylau das gewaschene Hemd von der Leine geklaut hat, trage ich die Fliegerbluse auf der blanken Haut und könnte schon ein neues Hemd brauchen.

Wie erwartet, ist bei mir nichts mehr zu finden. Im Gegenteil - am Ende der Veranstaltung habe ich mehr als vorher. Irgendwer hat vor mir, vermutlich gewitzt durch frühere Erfahrungen, ein wunderschönes Küchenmesser auf die Erde fallen lassen, sicher in der Hoffnung, es später dort wieder vorzufinden. Na, die Hoffnung konnte ich ihm nicht lassen; ich hab´s aufgehoben und bin ganz frech damit vorgegangen an den Tisch, wo wir einzeln durchsucht werden sollten - und durfte es behalten. Beim Weggehen habe ich dann noch schnell das oberste von einem Stapel bereits konfiszierter Bücher gegriffen und unter der Fliegerbluse verschwinden lassen - und das hat auch geklappt. Als ich das Buch rausholen konnte, um festzustellen, was ich da in Zukunft schmökern würde, habe ich vielleicht gestaunt: Knaurs Konversations-Lexikon . . . Hat zwar recht wenig Handlung, aber ist ungemein informativ; das gibt Lesestoff für lange Zeit!

In den nächsten Tagen wird ringsherum aufgeräumt. Schutthaufen werden planiert, der Zaun verbessert, eine Wachbude gebaut (“Nun sperren wir uns selbst so richtig ein!”, witzelt einer) und - vor allen Dingen und als wichtigstes - eine Küche eingerichtet. Ansonsten leben wir nämlich bis jetzt noch von dem, was wir mitgebracht haben - Trockenbrot und Schweinefleischkonserven, und die Portionen davon sind denn doch recht klein.

Überall wird geklopft, geschaufelt, gehämmert, gepickt, geplant - ja, geplant wird sicherlich am meisten. Die Arbeit ist nach dem langen Nichtstun doch recht ungewohnt geworden. Eine Ruine wird abgerissen, in einer zweiten werden alle möglichen Werkstätten eingerichtet: Tischlerei, Wäscherei, Schlosserei, Schneiderei, Schusterei und so weiter; wir richten uns scheinbar auf Dauer ein. Schutthaufen verschwinden allmählich, Löcher werden zugemauert und - auch nicht unwichtig - eine überdachte Latrine entsteht.

Die Klempnerwerkstatt, die dabei mit eingerichtet wird und die Küche mit den notwendigen Utensilien versorgen soll, ist - wenigstens zum größten Teil - Kurts Werk. Er ist in Zivil Flugzeugbauer, hat also auch mit Blech zu tun, und hat sich ganz ungeniert als Klempner gemeldet. Nun sitze ich jede freie Minute bei ihm und sehe zu. Da entstehen aus den Dosen der Schweinefleischkonserven Schüsseln, Becher, Schöpfkellen und Ähnliches. Das sieht eigentlich gar nicht so schwer aus; aber immer, wenn ich's probiere, kommen nur irgendwelche schiefen und krummen Gebilde heraus. Aber vielleicht kann man das mit der Zeit doch noch lernen?

Dann sieht die Gegend um unsere hochgebauten Betonhöhlen schließlich etwas anständiger aus. Alle Löcher sind aufgefüllt, alle Schutthaufen abgetragen, was an Mauerwerk nicht benötigt wird, ist abgerissen; für die Tischlerei und die Schlosserei sind alle möglichen Maschinen gekommen, überall hin ist elektrisches Licht gelegt; was nun wohl hier gearbeitet werden soll? Zum Nichtstun sind wir doch sicher nicht hergekommen?

Das Gebäude, in dem wir untergebracht sind, ist die ehemalige Badeanstalt der Stadt. In der gesprengten Vorderfront, die offensichtlich von uns wieder aufgebaut werden soll, waren Wannen- und Dampfbäder, und wir schlafen in den Sälen der ehemaligen Großwäscherei. Im Erdgeschoss unter unseren Schlafräumen stehen noch die Reste von vier großen Wanderrostkesseln, ganz modern; und da hat man uns was von “dreckigen Russen” erzählt? Bei so viel heißem Wasser, wie es hier gegeben haben muss?

Jeden Morgen und jeden Abend ist Zählung. Dazu tritt alles, was zum Lager gehört, auf dem Hof an; natürlich zu fünft, aber das sind wir nun schon lange gewohnt. Dann komm der “Dishurni”, der Offizier vom Dienst, und zählt. Weil es offensichtlich gar nicht so einfach ist, dass sich fünf Mann hintereinander stellen, wenn man das bisher nur zu dritt gelernt hatte, stimmt die Zählung kaum jemals beim ersten Mal; dann wird in den Zügen neu ausgerichtet und neu gezählt. Na, und beim zweiten, dritten oder auch vierten Male stimmt es dann scheinbar, denn dann dürfen wir abtreten; morgens zur Arbeit oder abends ins Bett.

Einen Lagerführer gibt es jetzt auch, der zum Beispiel die Zählerei kommandiert und die Meldung dabei macht, sicher aber (denke ich mir) auch sonst noch einiges an Verwaltungsarbeit haben wird bei 500 Mann im Lager. Er ist ein Feldwebel von den Helaern. Nun kann ich die seit Deutsch-Eylau und der Geschichte mit dem “Kompaniemelder” nicht mehr ausstehen; doch der hier scheint einen vernünftigen Eindruck zu machen. Sein Dolmetscher ist der Lette, der von uns die “Schissgewehre oder so” haben wollte. Er spricht scheinbar besser Russisch als Deutsch, aber man kann sich offensichtlich einigermaßen mit ihm verständigen.

Dann muss eines Tages das ganze Lager zu völlig ungewohnter Zeit, nämlich vor dem Mittagessen, antreten, und der Lagerführer meldet einem russischen Oberleutnant, der sich - mit sämtlichen Orden und Ehrenzeichen und mit goldenen Schulterstücken statt der sonst üblichen khakifarbenen - als unser Lagerkommandant vorstellen lässt und dann eine Rede hält. Er spricht vom Krieg, der nun vorbei ist für uns, und von den Schäden, die die Deutschen hier angerichtet haben, und dass das alles wieder in Ordnung gebracht werden soll - und wir müssten jetzt wieder gut machen, was im Kriege passiert ist, wir wären jetzt die Soldaten der Wiedergutmachung, und unser Lager wäre ein Wiedergutmachungsbataillon, und es läge an uns, das Ansehen der Deutschen wieder herzustellen - und der Dolmetscher kommt über den vielen ungewohnten Worten, die er da übersetzen soll, ins Stottern, und mein Nebenmann sagt halblaut: “Die Trümmerhaufen hier reichen dann aber für Lebenslänglich . . .”.

Wiedergutmachungsbataillon, Wiedergutmachungssoldaten - wieder etwas Neues . . . Oder, wie die Helaer Kapitulations-Soldaten sagen, nur schöne Worte, um uns das Recht des Siegers schmackhaft zu machen? Und - ob so oder so - was geht das mich eigentlich an? Was kann denn ich kleine Figur für diesen Krieg, in dem ich nicht einen Schuss abgegeben habe und eigentlich nur immer fortgelaufen bin? Was habe ich also wieder gut zu machen? Aber mich hat vorher keiner nach etwas gefragt, und jetzt fragt mich schon gar keiner - jetzt bin ich hier, und ringsum ist der Stacheldraht, und mir bleibt nichts weiter übrig, als zu tun, was mir aufgetragen wird, und zu warten, was weiter wird, und zu hoffen, dass es besser wird als vorher . . .

Dann sind wir in “Brigaden” eingeteilt worden. So heißen hier scheinbar die Arbeitskommandos; jedenfalls gehören zu einer Brigade immer Leute mit gleichen oder ähnlichen Berufen. Große Frage für mich - was habe ich denn nun zweckmäßigerweise für einen Beruf? Abgebrochene Oberschüler werden wohl kaum gefragt sein (“So was geht Steine klopfen!”, sagt Kurt); also was dann? Was könnte man denn sonst noch so sein? Vielleicht hilft mir mein Steckenpferd, das Detektorradio, weiter; ich melde mich als “Hochfrequenztechniker-Lehrling” und lande so in der Brigade der Elektriker und Autoschlosser. Hoffentlich geht das gut . . .

Am nächsten Tag sind wir zum ersten Mal draußen, außerhalb des Zaunes, und gehen arbeiten. Nur sind unsere Beine sehr schwer geworden; wir haben alle Holzschuhe an, Schuhe aus alten Verpflegungssäcken mit Lederbesatz und Holzsohlen aus einem Stück. Mit den Dingern zu laufen, will erst mal gelernt sein, und einen Krach machen sie! - Unsere Lederschuhe hat man eingesammelt, weil sie - angeblich - für den Winter geschont werden sollen.

Eine ziemlich breite Straße geht es entlang, immer schnurgeradeaus. Rechts und links mächtige Silberpappeln, deren weißwattige Samen überall durch die Luft fliegen, dahinter ausgebrannte Häuser - das gibt allerhand Arbeit, wenn wir das alles wieder aufbauen sollen. So ändern sich die Zeiten; noch vor knapp einem halben Jahr wollte ich Berlin von Kriegsgefangenen wieder aufbauen lassen . . .

Jetzt biegen wir links ab. Ein großer Hof, jede Menge LKWs darauf, die Autoschlosser werden lebendig und mir rutscht das Herz in die Hose. Autos . . .? Krampfhaft suche ich zusammen, was vom Physikunterricht über den Ottomotor hängen geblieben ist und stelle fest - viel ist es nicht . . . Wir haben haltgemacht, warten, und ich überlege gerade, ob denn nun der Zweitakter - oder der Viertakter - oder vielleicht beide? - eine Zündkerze haben, da kommt ein Russe in Zivil, in einer Lederjacke, auf uns zu. Hinter mir tuschelt einer “Das iss'n Kommissar!” - Der Lederjackenmensch fragt nach einem Dolmetscher, d.h. er fragt: “Wer sprechen russische Sprache?”. Der hinter mir sagt laut: “Hier spricht keener Russisch, der soll Deutsch lernen, wenn er wat von uns will!” - Doch ein anderer geht nach vorn und redet eine Weile auf Russisch mit dem Lederjackenmenschen herum, dann sagt er zu uns: “Der Ingenieur sagt, wir sollten die Leitern aufnehmen, die da drüben liegen, und dann mitkommen.” - Also Ingenieur und nicht Kommissar, und Leitern und nicht Autos. Ein Glück; bei Autos hätte ich mich doch wohl unsterblich blamiert. Bei Leitern erscheint mir diese Gefahr denn doch wesentlich geringer.

Dann ziehen wir mit den schweren Leitern - drei Mann an jeweils einer - die Straße, die wir gekommen sind, wieder zurück. Die Leitern sind aber wirklich ausgefallen groß, fast dreiviertel Meter breit und bestimmt zehn Meter lang, gut ein halber Meter von Sprosse zu Sprosse. “Die sehen aus wie Gerüstleitern”, sagt mein Nebenmann. Was sollen wir damit? Gerüste bauen? Und dann? Doch nicht etwa Freileitungen oder Hausanschlüsse oder so etwas? Davon verstehe ich nämlich auch nicht allzu viel . . .

Auf halbem Wege zum Lager zurück steht ein kleineres, d. h. nur zweistöckiges, Gebäude, heil, mit Dach und Fenstern aus Glas und mit vielen Plakaten und Transparenten dran. Auf den Transparenten immer wieder ein Wort mit sechs Buchstaben, von denen drei wie bei uns aussehen: “-OME--”. Ich vermute, dass das “GOMEL” heißen soll. Dann wäre also der erste Buchstabe, das halbierte „T“, ein “G” und eventuell der vorletzte, das „A“ ohne Querstrich, ein L. Was bedeutet dann der letzte, der wie ein „b“ aussieht? - Kriegen wir auch noch raus; müssen wir einfach rauskriegen, denn so wie der vorhin (“Soll Deutsch lernen”), so wird es wohl kaum gehen. Ich denke, je eher man Russisch versteht und möglichst auch spricht, desto eher wird man seinen Platz finden, und den wird man finden müssen, wenn man hier durchkommen will.

Soweit bin ich gerade mit meinen Überlegungen, da biegen wir rechts ab und gehen gerade auf dieses Haus zu. Was gibt es da mit unseren Leitern zu tun? Aber schnell stellt sich heraus: nicht das weiße Haus ist unser Ziel, sondern die dreistöckige Ruine dahinter, vor der große Haufen von Abbruchsteinen und Stapel sauber abgeputzter Steine liegen. Na also - da hätte ich auch Oberschüler bleiben können. Steine kloppen . . . Aber das ist auf alle Fälle besser als vor irgendetwas stehen, wovon man keinen blassen Dunst hat.

Zuerst wird aus unseren Leitern so ein Stück Gerüst zusammengebaut, dann bewaffnen sich ein paar Mann mit Spitzhacken und klettern nach oben. An die Mauerreste werden lange Rinnen aus zusammengenagelten Brettern angelehnt, und dann geht´s los: oben werden die Ziegelsteine losgebrochen, rutschen dann in den Rinnen nach unten, und dort werden sie durch uns von den Mörtelresten, die noch dran hängen, befreit. Dazu gibt es so ein Mittelding zwischen Tennisschläger, Schlächtermesser und Maurerhammer, ganz einfach aus einem Stück Bandeisen fabriziert. Wir bearbeiten sie so lange, bis sie annähernd wieder die Form und die Größe eines Ziegelsteins haben, und dann werden sie aufgestapelt. Im Grunde eine ganz gemütliche Arbeit, bei der man sich - wenn auch notgedrungen etwas lauter als sonst - sogar noch mit seinem Nebenmann unterhalten kann.

Nur der Wachposten, der uns die ganze Zeit begleitet, stört uns dabei. Er kann wohl nicht viel älter sein als ich und stolziert mit seiner MPi und einer wichtigen Miene um uns herum, als hätte er uns ganz persönlich gefangen genommen. Dazu ruft er alle paar Minuten “Dawai, dawai, dawai”, was so viel wie “Schneller, schneller, macht schon zu!” oder so etwas Ähnliches heißt. Zweck hat es keinen, wir denken nicht daran, seinetwegen etwa schneller zu arbeiten, nur, als er anfängt, seinem Geschrei durch Herumfuchteln mit der MPi Nachdruck zu verleihen, wird uns das ungemütlich. In der Lagerordnung, die am Schwarzen Brett hängt, ist festgelegt, daß die Posten uns nur zu bewachen und keinerlei Anordnungen in Bezug auf die angewiesene Arbeit zu geben haben. Der Brigadier will sich deswegen beschweren. Aber ob das Sinn hat?

Es hat. Als wir nach dem Mittagessen wieder aus dem Lager ausrücken, spricht der Fischer (das ist der, der sich als Dolmetscher gemeldet hat) mit dem Wachoffizier, und daraufhin staucht der den Posten zusammen - und dann sitzt der Kleine den ganzen Nachmittag still in einer Ecke und sagt kein Wort mehr.

Dafür ist aber einer vom “Stroi kontor”, vom Baubüro (das ist das weiße Haus vor unserem Arbeitsplatz) da und hält uns einen Vortrag von fast einer halben Stunde. Fischer fasst das dann ganz kurz zusammen: Wir müssen am Tage eine bestimmte Anzahl Steine, eine “Norm”, schaffen, wenn wir eine 100%ige Arbeitsleistung erreichen wollen, und zwar sind das 80 Steine pro Mann. Dabei soll für den Brigadier und den Dolmetscher mitgearbeitet werden; aber die beiden wollen gar nicht den ganzen Tag nur herumstehen und arbeiten also selbst.

Richtig, das war ja so: Unsere Arbeitsleistung wird nach Prozenten abgerechnet, und wer mehr als 100 % erreicht, für den gibt es eine Zulage von 200 Gramm Brot zu der täglichen Ration von 600 Gramm. Dazu brauchen wir also nur mehr als 80 Steine pro Mann? Das klingt ja ganz verheißungsvoll; mal sehen, wie das am Abend aussieht.

Die geputzten Steine werden schön ordentlich in Türmchen zu je 200 Stück aufgestapelt, 12 Lagen zu je 16 Stück und dann noch 8 Stück extra obendrauf. Am Abend kommt der vom Nachmittag wieder und besieht sich die Angelegenheit. Wir haben 8 solche Stapel, also 1600 Stück. Für 15 Mann ist das weit mehr, als wir für unsere 200 Gramm “Prozentebrot” brauchen würden. Fischer übersetzt: der Meister will uns 1400 Stück aufschreiben und den Rest aufheben, falls es mal nicht so gut geht. Uns soll das nur recht sein; wichtig ist, dass das jeden Tag klappt, denn ob man 600 oder 800 Gramm Brot am Tage hat, das ist schon ein Unterschied.

So vergeht jetzt ein Tag nach dem anderen. Frühmorgens gegen 5 Uhr aufstehen, waschen, Essen holen - Graupen pur mit Wasser und 200 Gramm Brot - dann antreten, zählen lassen, Abmarsch zur Arbeit gegen 6.30 Uhr, gegen 7 Uhr auf der Baustelle, dann bis etwa 12 Uhr Steine klopfen, zurück ins Lager, Graupensuppe wie zum Frühstück, dazu noch in den Kochgeschirrdeckel einen Klecks “Kascha”, auch aus Graupen und Wasser, aber dick und mit Fleischkonserven gekocht, 200 Gramm Brot, noch vor 1 Uhr wieder raus, Steine klopfen bis gegen 6  abends, zurück, Abendessen - Graupensuppe wie früh und 200 Gramm Brot - und dann wieder Zählung. Nach der Zählung “Prozentebrot”, 200 Gramm, wenn die Arbeit geklappt hat, und dann noch ein bisschen an der frischen Luft sitzen oder gleich auf die Pritsche, denn der nächste Tag fängt wieder gegen 5  Uhr an.

Bei der Arbeit lässt es sich aber aushalten. Man sitzt den ganzen Tag auf seinem Hintern, klopft seine Steine sauber und unterhält sich dabei. Über was wird geredet? Von Deutsch-Eylau her sitzt uns der Kohldampf noch im Magen, also dreht sich die Unterhaltung meist ums Essen. Wenn das langweilig wird, kommt die große Politik an die Reihe. Da sind es die Unteroffiziere und die uralten Stabsgefreiten von der Hela-Truppe, die davon anfangen, und das endet dann immer in einem Loblied auf die “guten alten Zeiten” (die mit dem Mai dieses Jahres zu Ende gegangen sind) und auf den preußischen Kommiss im allgemeinen und irgendeine Batterie oder Kompanie im Besonderen. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, was denen beim Militär so ausnehmend gefallen hat; im großen und ganzen war es dort nicht viel anders als jetzt, ganz abgesehen mal davon, dass ich hier nicht unversehens in Granatwerferfeuer geraten kann.

Im Lager selbst werden die Zustände auch immer geordneter. Ein Krankenrevier ist eingerichtet worden, das von einer russischen Krankenschwester mit Leutnantsschulterstücken (also wohl einer Ärztin?) und einem deutschen Arzt, der sich unter uns gefunden hat, geleitet wird (irgendwie kommt mir der Arzt aber immer wie der sächsisch sprechende Schweizer aus Deutsch-Eylau vor?); dann sind vor dem Küchenbau zwei große Brettertafeln für Anschläge und Bekanntmachungen aufgestellt worden, die eine für die Abrechnung der Arbeits-Prozente, die andere als Wandzeitung; aber die letztere ist ziemlich leer, nur ein Gedicht von Storm hängt dran; dann haben sich ein paar Leute, die in Zivil Schauspieler und Musiker sind, zu einer “Artistengruppe” zusammengefunden und für einen der kommenden Sonntage ein “Programm” versprochen, und dann ist von irgendwoher noch einer aufgetaucht in deutscher Feldbluse, aber russischer Stiefelhose und mit einer weißen Armbinde “NKFD”, der spricht fließend Deutsch und soll der “Propagandist” sein.

Die erste Amtshandlung des “Propagandisten” war heute, dass er uns nach dem Mittagessen alle im Lager behält und nicht zur Arbeit lässt. “Politische Schulung” oder so etwas Ähnliches - mal sehen, was das wird. Im Prinzip kann uns doch egal sein, was wir machen; früher hätten wir gesagt: “Geht jedenfalls vom Krieg ab . . .”.

Am Ende ist es aber dann doch ganz interessant geworden. Er hat uns - alle 500 Mann - auf dem Hof im Halbkreis sitzen lassen, hat sich mitten rein gestellt und hat dann einfach erzählt, wie er eigentlich hergekommen ist. Kommunist gewesen - im KZ - dann bei den 999-ern, also im Strafbataillon - 1942 übergelaufen (das kann ich ihm nicht verdenken, wenn ich an mein Erlebnis in Ravensbrück denke) - dann beim “Nationalkomitee Freies Deutschland” (das heißt das “NKFD” auf seiner Armbinde) - mit dem Lautsprecher an der Front (fällt mir ein: so einen Lautsprecher haben wir in Liepe doch auch mal gehört?) - dann von deutscher Ari beschossen worden, verwundet, und jetzt bei uns.

Die Helaer schimpfen hinterher mächtig auf ihn; er hätte das Vaterland verraten, und so . . . Ich weiß nicht recht; beinahe beneide ich ihn. Nicht etwa, weil er sich fast frei bewegen darf und ein “Einzelzimmer” hat, d.h., einen Raum, in dem er arbeitet und schläft; da ist noch etwas anderes. Der weiß nämlich ganz offensichtlich, warum er das getan hat, was er getan hat, mag es nun falsch oder richtig gewesen sein. Der ist für eine Sache verwundet worden, die er so haben wollte; wenn mich damals bei Friedrichswalde in der Schonung ein Granatsplitter erwischt hätte - mich dürfte heute keiner fragen, wozu das gut gewesen sein sollte. Oder wenn es mich ganz erwischt hätte . . .? Gefallen - für Großdeutschland? Zu diesem Großdeutschland gehörte doch auch das Lager in Ravensbrück . . . Es ist alles so restlos durcheinander; außer dem, was ich in der Schule gelernt habe oder wenigstens lernen sollte, gibt es auf der Welt wohl viel mehr, womit man sich beschäftigen müsste. Es scheint ganz so, als ob das, was fremd und ungewohnt ist, deswegen durchaus nicht schlecht sein müsse, und als ob andererseits auch das, was einem vertraut und bekannt ist, deswegen noch lange nicht unbedingt richtig sein müsse - aber woher weiß man, was wie ist? Da drüben auf der Nachbarpritsche sind sie jedenfalls schon wieder bei “Mensch, das waren noch Zeiten - haben wir gesoffen!”.

Wir sind mit unserem Arbeitsplatz umgezogen. Etwa drei Kilometer vom Lager entfernt steht die Ruine eines großen Mietshauses, die bauen wir jetzt ab. Sie ist offensichtlich jünger als unser bisheriges Arbeitsobjekt; im Mörtel scheint ziemlich viel Zement zu stecken, das Mauerwerk ist erheblich stabiler, und so müssen wir jetzt ganz schön ran, um unsere Norm weiterhin zu schaffen. Da bleibt weniger Zeit als bisher für Unterhaltungen. Dafür denkt es dann in einem in alle möglichen Richtungen, denn von der Klopferei wird man ja geistig nicht weiter beansprucht; na, und Themen zum Denken gibt es genug . . .

Wie mag das wohl jetzt zuhause aussehen? Ob die Mutti mit den drei Kleinen wohl gut durch den ganzen Schlamassel der letzten Kriegsmonate gekommen ist? Wenn das zuhause auch so durcheinander gegangen ist wie bei der Räumung von Liepe am 20. April? Damals meldete doch der Wehrmachtsbericht “schwere Kämpfe an den Zugängen zur Festung Harz” . . . Ist unser Städtchen ein Zugang zum Harz? Wenn man es von der verkehrstechnischen Seite betrachtet, wohl schon . . . Also könnte es eventuell verteidigt worden sein? Was heißt hier “eventuell” . . .? Wenn überhaupt, dann nur dort! Das schmale Tal, Bahnlinie und Straße unmittelbar nebeneinander - und die Bahn wechselt mit einer großen Brücke auf die andere Talseite . . . Diese Brücke sprengen, und der Zugang ist dicht . . . und in den Tälern oberhalb ist dann das gleiche Durcheinander wie in Liepe . . . Bloß nicht . . . Hoffentlich nicht . . .! Wenn man das nur genau wüsste! Aber andererseits - vielleicht war das mit den “schweren Kämpfen” auch bloß Spinnerei? So wie damals, als wir auf dem Marsch nach Heiligensee oben auf dem Krämer festgelegen haben und bei 500 “Flying Fortress” aufhörten zu zählen, und dann stand im Wehrmachtsbericht “keine Feindfliegertätigkeit”? Das kann schließlich auch möglich sein . . . Man müsste mal einen Brief schreiben können . . . Der Kommandant hat ja gesagt, wir dürften, das stände in der Genfer Konvention über Kriegsgefangene, nur seien die vorschriftsmäßigen Postkarten vom Roten Kreuz noch nicht da. Ob die wohl bald kommen? Und wenn - ob das stimmt, dass da nur 25 Worte drauf dürfen? Und wenn - was schreibt man denn da . . . ?

Wenn wir am Abend wieder im Lager sind, tauschen Kurt und ich unsere Tageserlebnisse aus. Er arbeitet immer noch als Klempner im Lager, baut Küchengeschirr aus Konservendosen, und ist verständlicherweise interessiert daran, wie es außerhalb unseres Stacheldrahtzaunes aussieht. Mich interessiert dafür, was er macht. Irgendetwas Nützliches möchte ich schließlich auch gern können; und so sitzen wir manchen Abend an seinem Arbeitsplatz, und ich versuche, einen Falz zu bördeln oder zwei Blechreste zusammen zu nieten.

Heute hat mich auf unserem Arbeitsplatz etwas ziemlich überrascht. Gegenüber von unserer Ruine ist ein Bretterzaun mit einem der üblichen Blockhäuser dahinter - scheinbar ein ganz gewöhnliches Blockhaus, wie die meisten hier am Rande der Stadt. Aber heute - da ging die Tür in dem Bretterzaun auf, und heraus kamen - kleine Kinder! Richtige kleine Kinder, in bunten Kleidchen und Kittelchen, und die Mädchen mit großen weißen Schleifen an den Zöpfen - wie meine kleine Schwester zuhause . . . Ich habe ja schon vorher Kinder gesehen, solche wie die, die am ersten Tage bei uns am Zaun standen und “Kammeratt - gibb Chemd für disse Brott” getauscht haben - graue Gestalten in aufgerissenen Wattejacken und mit Gummigaloschen an den bloßen Füßen - und nun die da gegenüber, zu zweit angefasst, und singen ein Lied - das sieht wie ein Märchen aus, beinahe wie zu Hause . . .

Das muss wohl ein Kindergarten sein. Warum aber - warum sehen die einen so verwahrlost aus, und die anderen so . . . so . . .ordentlich? Das lässt mir keine Ruhe.

Im Lager fasse ich mir ein Herz und klopfe nach dem Abendbrot an der Tür, an der der Propagandist ein Brett mit den eingebrannten Buchstaben “Antifa” befestigt hat. Der muss das doch wissen? - Eigentlich habe ich's ja bisher immer mit Großmutters Spruchweisheit gehalten – “Gehe nie zu Deinem Fürst, wenn Du nicht gerufen wirst!” - aber irgendjemanden muss ich jetzt fragen; und ich weiß sonst niemanden, von dem ich annehmen könnte, dass er mich und meine Fragen ernst nimmt. Kurt . . . ? Der ist doch auch nur drei Jahre älter als ich; woher soll der so etwas wissen?

Der Antifa-Mensch scheint sich richtig zu freuen, dass mal jemand zu ihm kommt. Er hört mir zu, und dann erklärt er mir zunächst mal, was es mit dem Kindergarten und den zwei Sorten Kindern auf sich hat. Der Kindergarten gehört der “SelMasch”, das ist ein Betrieb, der landwirtschaftliche Geräte herstellt, und die Kinder sind die Kinder von Arbeitern und Arbeiterinnen aus diesem Betrieb. Vater und Mutter arbeiten, und der Betrieb passt solange auf die Kinder auf; eigentlich logisch . . . Aber die anderen? Die haben, sagt er, nach Krieg und deutscher Besetzung und wieder Krieg Schwierigkeiten damit, zum normalen Leben zurückzufinden; sie leben vom Schwarzhandel, der eigentlich verboten ist, aber trotzdem existiert, und dabei hilft ihnen kein Betrieb und keine Verwaltung, denn - Arbeit wäre auch für sie da . . .

So ganz verstanden habe ich das zwar nicht, und es gäbe noch eine ganze Menge andere Fragen; aber es ist Zeit, ins Bett zu gehen. “Komm' ruhig mal wieder!”, sagt der Propagandist, und ich denke, das werde ich auch tun; es ist doch ein schönes Gefühl, mal wieder auf einem Stuhl an einem Tisch zu sitzen (wenn beides auch ganz einfach aus Brettern zusammengeschlagen ist) und jemanden gegenüber zu haben, der auch dann noch zuhört, wenn man noch gar nicht richtig weiß, was man eigentlich fragen will . . . Ich glaube, außer Russisch zur besseren Verständigung gibt es noch eine Menge Dinge mehr, die man lernen sollte. So, wie die meisten Helaer das machen (“Alles bloß Propaganda!” und “Ach was, Russland . . .” und “Ja, damals in Frankreich!”) - so geht es nicht. Es gibt da zu viel um uns herum, was man sich näher ansehen muss, um es richtig zu verstehen . . .

Eines Abends erzählt mir Kurt, dass im Lager eine Brigade aufgestellt wird, die Spielzeug bauen soll; weil doch die Deutschen so gut Spielzeuge bauen können . . . Ob die glauben, wir hätten hier unter uns welche von den Nürnberger oder Sonneberger Spielzeugmachern? Ist auch egal; aber als Ältester von vier Kindern habe ich Mutter immer bei den Weihnachtsvorbereitungen helfen müssen, und was da so alles an selbstgenähten Teddybären, Puppenstubenmöbeln, Kasperleköpfen und so weiter durch meine Hände gegangen ist - ganz abgesehen vom Reparieren, wenn die Kleinen was kaputtgespielt hatten; Spielzeugbauen, denke ich, kann ich auch. Werkzeug wird es wohl geben, Holzabfälle sind von der Tischlerei genug da - also werde ich mich da melden. Auf jeden Fall wird das interessanter als das ständige Steineklopfen.

Ja, und nun bauen wir also Spielzeug. Ich spezialisiere mich sehr schnell auf Dackel aus Holz, die auf exzentrischen Rädern laufen und im Körper drei Gelenke (aus Stoffresten) haben und deswegen, zieht man sie an einer Schnur hinter sich her, beinahe wie richtige Dackel hin- und herschaukeln. Der weite Weg zur Arbeitsstelle fällt weg, und die Arbeit macht Spaß.

Heute sind nach dem Mittagessen wieder mal alle im Lager geblieben; es soll “Kommissionierung” sein. Kein Mensch hat eine Ahnung, was das sein soll. Die Angelegenheit geht brigadeweise vor sich, und dann sind wir vom Lager-Innendienst immer die Letzten. Alles wartet gespannt darauf, dass die Ersten, die schon unterwegs sind, zurückkommen.

Sie kommen sehr bald, und dann wissen wir Bescheid. So eine Art Musterung oder Untersuchung; die russische Krankenschwester sieht sich jeden an und sortiert ihn dann in eine Kategorie ein - Gruppe I, II, III oder OK gibt es. “Wie auf dem Viehmarkt, kannste glauben, die guckt dir vorne und hinten rein wie einer Kuh - ne richtige Schande ist das, was die da mit uns anstellen - und auch noch splitterfasernackt!”.

Verstehe ich mal wieder nicht, was den Kumpel so aus dem Häuschen bringt. Was ist daran Unvernünftiges? In der Lagerordnung - die hängt am Schwarzen Brett - steht, daß jeder zu einer Arbeit entsprechend seiner Arbeitsgruppe verpflichtet ist. Das war mir bisher unklar, weil ich ja nicht wusste, was “Arbeitsgruppe” heißt. Jetzt fange ich an, es zu verstehen. Was soll daran eine Schande sein, wenn man doch offensichtlich Schwächeren leichtere Arbeiten geben und die schweren Arbeiten von Stärkeren ausführen lassen will? Das scheint mir doch sehr vernünftig; aber manchmal kommt es mir so vor, als wenn für bestimmte Leute alles, was die Russen machen, schon deshalb nichts taugt, weil es eben die Russen machen.

Bei dieser Gelegenheit ist es dann aber auch Schluss mit meiner Spielzeugbauerei. Das ist nämlich Arbeit für die Gruppe “OK” (“ohne Kraft”, hat der Landserjargon daraus gemacht), und bei mir hat es immerhin noch zu einer III gereicht. Also muss ich wieder auf den Bau hinaus.

Am anderen Morgen werden bei der Einteilung am Tor fünf Maler gesucht. Wir bisherigen Spielzeugbauer sind gerade fünf; na, und Gemälde werden die doch sicher nicht erwarten . . . Nach kurzer Beratung melden wir uns und werden dem Kommando “Schule Nummer fünf” zugeteilt. Das ist kein schlechtes Kommando; die Arbeitsstelle liegt irgendwo am äußersten Stadtrand, und weil der Weg so weit ist (und die Wege ja grundsätzlich zur Arbeitszeit gehören), bleiben die Kumpels über Mittag draußen und kriegen das Essen auf die Baustelle gebracht. Dadurch sind die Mittagsportionen immer etwas größer, denn so genau kann kein Koch austeilen. - Außerdem geht mit den 20 Mann keiner von den Armeeposten mit, sondern sie werden von einer Zivilistin mit Karabiner abgeholt.

Der Weg zur Arbeit ist fast vier Kilometer lang - quer durch die ganze Stadt, an der Theaterruine vorbei, über den Basar, über die Bahn weg, bis auf das Steilufer des Sosch (das ist der Fluss, an dem Gomel liegt). Dort steht die Schule Nr. 5; d.h. eigentlich nur noch die halbe Schule, denn der rechte Flügel ist gesprengt. In der Schule hat noch im Frühjahr 1943 ein deutscher Stab gelegen. Die anderen Kumpels haben bisher aufgeräumt, was da so an Dreck und Müll herumgelegen hat, und haben die Türen von dem stehen gebliebenen zu dem gesprengten Flügel, die ja nun ins Bodenlose geführt haben, zugemauert; wir sollen die Klassenzimmer weißen. Ich bin vor allen Dingen gespannt, wie so eine Schule hier wohl aussieht.

Das muss wohl mal ein ganz netter Bau gewesen sein; die Hälfte, die noch steht, ist schon imposant genug. Große Fenster, geräumige Klassenzimmer - nur die Treppen kommen mir ein wenig zu schmal vor. Auf denen hätte es bei uns wohl ständig Rempeleien gegeben; aber vielleicht waren die Schüler hier gesitteter als wir? Eine Aula, die bestimmt an die 500 Personen fasst, breite Flure - aber das alles grau bis schwarz und völlig verräuchert. Das soll also unsere Arbeit werden; vor dem Haus liegt ein großer Berg Weißkalk, dazu gibt es Böcke, Bretter, Eimer und Bastwische statt der Pinsel - dann also mal ran!

Wenn es zuerst auch aussah, als ob mit den verdreckten Wänden nicht fertig zu werden wäre - mit der Zeit entwickeln wir ein Verfahren, nach dem die Räume wieder hell werden. Man muss den Kalk nur einigermaßen sämig anrühren, dann deckt er jeden Dreck und wird beim Trocknen schneeweiß. Dabei ist uns dann aber gleich zu Anfang etwas Seltsames passiert. Wir haben unsere Arbeit mit der Aula begonnen und die Böcke vor der großen Stirnwand gegenüber der Eingangstür aufgestellt. Beim Pinseln fielen uns dann viele Stellen auf, die dunkler waren als die umliegende Wand und die sich zunächst nicht so einfach zumalen ließen. Im Vertrauen auf unseren dick angerührten Kalk haben wir einfach weiter gepinselt - bis die Aufseherin oder Bauleiterin oder was sie sonst ist, hereinkam. Die blieb gleich an der Tür stehen und machte zuerst auf Russisch und dann auf Deutsch einen ganz fürchterlichen Skandal - von “Duraki” (Dummköpfe) bis zu “Faschisti” und “was chabben Sie gemacht dort!” und “Gleich jetzt Sie machen Ende mit diese!” und so - und als wir dann von unseren Böcken herunterkletterten und zu ihr gingen, da sahen wir, was wir (mangels genügenden Abstandes und deshalb fehlender Übersicht) bisher nicht sehen konnten, und verstanden ihre Aufregung: Zwischen den einzelnen Flecken, die uns da beim Pinseln gestört hatten, bestand ein Zusammenhang, und auf der Wand prangte nun - zwar blass, aber trotzdem unübersehbar - ein riesiger Pleitegeier und die Inschrift “Wo wir sind, da ist Deutschland!”.

Zum Glück versteht die Bauleiterin so viel Deutsch, daß wir ihr ohne Probleme klar machen konnten, dass dieses Gemälde nicht unser Werk ist, sondern vielmehr von den früheren Benutzern stammen muss und bisher von Dreck und Ruß verdeckt war; na, und als es denn beim Trocknen tatsächlich verschwindet, ist sie beruhigt.

Dass sie Deutsch nicht nur versteht, sondern auch spricht, interessiert uns aber doch. In der Mittagspause fragen wir sie aus. Sie war bis zum Einmarsch der Deutschen Lehrerin an dieser Schule, und sie erzählt dann davon, wie es hier früher aussah. Nur eine einfache Schule (bei uns hätte das wohl Volksschule geheißen), bis zur siebenten Klasse (Schulpflicht vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr); aber trotzdem mit Physikraum und Chemieraum und Turnhalle (die war in dem gesprengten Flügel), mit einer großen Küche (der gekachelte Raum im Keller ist uns schon aufgefallen) - aber wozu so eine große Küche in einer Schule? - Weil jedes Kind sein Mittagessen in der Schule bekam . . . Und dann zeigt sie uns die Reste der Schulmöbel, die in dem gesprengten Flügel liegen - Stahlrohrmöbel, verbrannt und verbogen, ausgeglüht, zerstört. Wir brauchen gar nicht zu fragen, wer das war; das ist uns auch so klar . . .

Das ist mal wieder mehr, als ich so auf die Schnelle verstehen kann. Die Russen waren Barbaren, gegen die ich das zivilisierte Europa verteidigen sollte (hat der Direx mir vor einem Jahr bei meiner Einberufung gesagt). Barbaren mit Stahlrohrmöbeln und einem Physikraum in der Volksschule? Und mit warmem Essen in der Schule? In den letzten Jahren war ich jeden Tag von früh um sechs Uhr bis mindestens nachmittags drei Uhr unterwegs, um richtig am Unterricht teilnehmen zu können; ob ich da warmes Essen hatte, hat außer meiner Mutter keinen Menschen interessiert - und hier kriegte das jedes Kind umsonst . . .

Dann sind wir mit der Malerei fertig. Wir haben nicht nur alle verfügbaren Wände und Decken strahlend weiß gepinselt (wenn man davon absieht, dass alles ein wenig wolkig geworden ist; aber das geht wohl mit den Bastwischen nicht besser . . .); wir haben in allen Räumen auch noch bis in anderthalb Meter Höhe einen blauen Sockel gepinselt, von einem Blau, das einen in die Augen beißt, aber andere Farbe gab es nicht; die Oberkanten der Sockelflächen sehen auch nicht grade aus, als ob sie ein Maler gemacht hätte - aber alle sind zufrieden. Nun sind wir darauf gespannt, was die nächste Arbeitsstelle wird; denn hier sind wir jetzt offensichtlich überflüssig.

Dem ist aber nicht so. Ich weiß nicht, ob hierzulande das Verglasen von Fenstern zu den Obliegenheiten des Malers gehört, oder ob wir so einen vertrauenerweckenden Eindruck gemacht haben; jedenfalls wird das unsere nächste Aufgabe. Die Schule muss rundherum neues Glas in die Fenster kriegen, denn in den meisten ist nur Pappe oder Sperrholz, und in manchen auch gar nichts. Zu unserem Glück brauchen wir das aber nicht ohne Anleitung zu tun; mit dem Glas kommt auch ein Alter, der davon etwas versteht, und dem sollen wir helfen.

Keine Frage, dass wir das gern tun; denn es wäre nicht sehr schön gewesen, schon wieder eine neue Baustelle suchen zu müssen. Irgendwo wären wir schon gelandet; aber ob wir da so gute Arbeit und vor allem so freundliche Nachbarn gefunden hätten, scheint doch sehr fraglich. Mit den Nachbarn ist das so: Um unseren Arbeitsplatz ist nicht, wie an den anderen Baustellen, ein Stacheldrahtzaun gezogen; und so läuft ein nicht unbeträchtlicher Teil des Verkehrs zwischen den umliegenden Häusern (sicher aus alter Gewohnheit) über den ehemaligen Schulhof. Besonders die Kinder sind mächtig daran interessiert, was die Deutschen da so machen; und so gibt es eine Reihe von Anwohnern, von denen wir die Namen wissen und die auch immer wieder mal versuchen, sich mit uns zu unterhalten.

Da ist mir doch letztens eine Sache passiert, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Als wir hier draußen angefangen haben, hatte ich ein Furunkel am Bein. Das haben zur Zeit viele von uns; es soll mit der einseitigen Ernährung zusammenhängen, sagen die, die was davon verstehen. Das Ding wurde immer größer und tat auch beachtlich weh; man hätte was dagegen tun müssen, aber ins Revier wollte ich damit nicht gehen. Dort soll die Verpflegung bedeutend schlechter sein, als wenn man arbeiten geht. Das ist zwar nicht ganz einleuchtend, wenn man die Verpflegungssätze für Kranke und Gesunde miteinander vergleicht, wird aber von allen, die das praktisch mit erlebt haben, bestätigt. Also selbst behandeln; aber wie? “Zwiebel daranmachen, das zieht!”, sagt Kurt. Zwiebeln wachsen ja nun in den Gärten rings um die Schule genug; aber einfach so klauen? Das gehört sich wohl nicht. Also frage ich ein kleines Mädchen, das mittags bei uns auf dem Schulhof sitzt, danach - auf Russisch natürlich, ich habe mich erkundigt, wie das heißt. Die Kleine versteht, zieht los und kommt nach kurzer Zeit zurück - mit einem Kanten Brot mit Zwiebelringen belegt. Hat gedacht, ich wollte sie essen, die Zwiebeln . . . Aber dann gleich ein Stück Brot dazu? Das hätte ich nicht erwartet . . . 

Die Glaserei geht besser vorwärts, als wir das erwartet haben. Wir säubern die Rahmen von den alten Scherben, den Kittresten und den alten Glaserstiften; die neuen Scheiben schneidet der grauhaarige Alte zurecht, der mit dem Glas gekommen ist, und der setzt sie auch ein. Wir verkitten sie dann und hängen die Flügel wieder an ihren Platz in den Fenstern. Der Alte spricht übrigens auch Deutsch, ein etwas sonderbares, altertümliches Deutsch zwar, trotzdem können wir uns gut mit ihm verständigen.

Mittags sitzt er etwas abseits auf dem Hof vor einem kleinen Feuerchen und kocht sich ein paar Pellkartoffeln in einem alten deutschen Kochgeschirr. Wir sind mit unserem Essen fertig und sehen ihm zu. Plötzlich fragt einer: “Meister, warum kocht Ihre Frau nicht und bringt Ihnen das Essen her? Dann brauchten Sie doch nicht selbst zu kochen?”. Er blickt langsam auf.  “Fru -? Jo . . . hob ich gehobt a Fru - hoben geholt de Daitschen, is nich gekummen zarick . . . bin ich itze ganz alleinig, kann kainer nich kochen . . .” – “Warum hat man . . .?”, will einer wissen. “Nu, hot men su geton mit uns Jidden . . .”.

Nun verstehen wir und sind irgendwie erschrocken. Nicht nur, weil es uns leid tut, in dem Alten Erinnerungen geweckt zu haben, die er wohl lieber ruhen lässt; auch weil wir es erst mal fassen müssen, dass da neben uns einer sitzt, dass da einer mit uns arbeitet, der doch eigentlich allen Grund hätte, uns recht weit weg zu wünschen . . . Da sieht der Alte wieder auf. “Sull ober sain wegen dem kaine Feindschaft nicht zwischen mir und Aich, zwischen unsre Lait und Aire Lait . . . Said  Ehr de Jungen,  kunnt Ehr nich for den Krieg; sull man Aich nich strofen. Kummt, losst uns schaffen . . .”.

Am Abend unterhalte ich mich noch lange mit Kurt darüber. “Sull man Aich nich strofen”, hat der Alte gesagt; und auf der anderen Seite hieß es “Die Juden sind unser Unglück” - warum hat man das gesagt? Was haben die Juden uns denn eigentlich getan? Immer neue Fragen - und keiner gibt einem eine Antwort. Der Propagandist, der gesagt hatte “Komm ruhig mal wieder”, der ist weg - zurück in ein Lazarett; seine Verwundung war doch noch gar nicht ausgeheilt, er ist ja auch bei uns immer am Stock gegangen; und jemand anderen von den Älteren hier fragen? Die träumen doch heute alle noch von den Zeiten, als sie “wie der liebe Gott in Frankreich” gelebt haben . . .

Bevor der Propagandist wegging, hat er uns allen aber noch einen großen Dienst erwiesen. Er hat im Revier gründlich aufgeräumt; und wie sich herausgestellt hat, war das bitter nötig. Der “Feldunterarzt” entpuppte sich dabei als einfacher Sanitätsobergefreiter (aus Leipzig, und nicht aus der Schweiz, wie er in Deutsch-Eylau noch behauptet hat), der auf diese Weise versucht hat, ein möglichst bequemes und sattes Leben zu führen. Das ist ihm und den beiden Sanitätern auch gelungen; und darüber hinaus haben sie von der Krankenverpflegung noch eine ganze Reihe guter Freunde mit durchgefüttert. Kein Wunder, dass die Kranken so wenig zu essen bekamen. Jetzt dürfen die Herrschaften alle drei mit auf den Bau gehen.

Stattdessen haben wir nun zwei Ärzte - der eine Frauenarzt, der andere Zahnarzt - und einen Sani aus dem Lazarett in Rjetschiza zugeteilt gekriegt. Der “Damenschneider”, wie er schnell allgemein genannt wird, legt zwar scheinbar mehr Wert auf ausgiebigen Schlaf und messerscharfe Bügelfalten als auf die Kranken; aber der Zahnarzt und der neue Sani kümmern sich wirklich sehr um die Revierinsassen. Jeder Kranke muss sich jetzt beim Arzt vorstellen; Selbstbehandlung ist verboten und soll bestraft werden. Das war wohl wirklich nötig, denn wenn auch mein Furunkel damals (sicher wegen der Zwiebeln?) relativ schnell abgeheilt ist, so haben doch andere wesentlich weniger Glück gehabt und laufen jetzt mit Löchern von der Größe eines Fünfmarkstücks in den Unterschenkeln oder im Genick herum. Zu dem “Feldunterarzt” und seiner Mannschaft hat sich eben keiner hin getraut.

Mittlerweile sind nun auch alle Fenster ringsum eingeglast, und das heißt, daß wir nun doch von der “Schule Nummer fünf” Abschied nehmen müssen. Schade; aber hier werden bald die Kinder einziehen, für die das alles bestimmt ist, und dann braucht man uns nicht mehr. Es war keine schlechte Zeit hier; was mag uns nun blühen?

Am nächsten Morgen bei der Arbeitsaufteilung am Tor werden wir völlig auseinandergerissen und, wie es gerade kommt, allen möglichen Baustellen zugeteilt. Ich lande dabei als einziger auf der “Perwomaiskaja”, der “Straße des 1. Mai”. Ausgerechnet dort . . . Das kann auch nur mir passieren: von der beliebtesten Baustelle des ganzen Lagers zur unbeliebtesten . . . Nicht gerade, dass die Behandlung dort besonders schlecht wäre; das gibt es eigentlich wohl nirgends. Es ist nur so, dass seit dem Bestehen des Lagers auf dieser Baustelle noch niemals jemand seine Norm mit 100 % oder mehr erfüllt hätte; und das bedeutet ganz einfach jedes Mal 200 Gramm Brot weniger am Tag . . . Man hat sich inzwischen so an die 200 Gramm “Prozentebrot” gewöhnt, daß man sie nicht vermissen möchte. So ganz verstehe ich ja nicht, warum das dort so schlecht läuft; denn die Normen sind doch überall die gleichen, wir arbeiten doch alle bei dem gleichen Betrieb, dem “Gomelskij stroj kontor”, dem Gomeler Baubüro, und warum sollte man die in der “Perwomajskaja” nicht genauso schaffen wie auf den anderen Baustellen?

Nun heißt es also wieder mal, was Neues lernen . . . Steineklopfen war ja nichts besonderes, Malern und Glasern schon besser; nun bin ich unter die Holzwürmer geraten. Wir hobeln . . . Ganz recht - wir; denn der Hobel ist so groß, dass man ihn nur zu zweit bedienen kann. Zu diesem Zweck hat er die Griffe nicht oben, wie ich das bisher kannte, sondern an den Seiten, auf jeder Seite zwei. Wir stapeln die zu bearbeitenden Bretter - Bohlen wäre richtiger, die sind fast drei Zentimeter stark - so hoch, dass man bequem drauf sitzen kann, setzen uns rittlings darauf einander gegenüber, jeder fasst seine Hobelgriffe rechts und links an, und dann wird gehobelt, daß die Späne fliegen . . .

Erste und wichtigste Frage ist die nach der Norm. 250 laufende Meter am Tag, wird uns von der - noch recht jungen - Bauleiterin erklärt. Die Bretter sind etwa 8 Meter lang; das wären also mindestens 32 Bretter pro Tag. Bei 10 Stunden Arbeitszeit also drei bis vier Bretter pro Stunde; das müsste doch zu schaffen sein, wir haben doch grade erst angefangen, und da liegen schon sieben Stück fertig . . .

Ja, hier wird zehn Stunden am Tag gearbeitet. Das ist mir anfangs umso unverständlicher gewesen, als ich mich irgendwo so dunkel an einen Zusammenhang zwischen Kommunisten und Achtstundentag erinnern kann . . . Auf der “Schule Nummer Fünf” habe ich dann mal die Bauleiterin gefragt, und die hat es mir erklärt. Während des Krieges wurden sogar 11 Stunden am Tag gearbeitet, weil ja die Männer alle Soldaten waren; und jetzt arbeitet man 10 Stunden, weil es so viel aufzubauen gibt, dass man anders gar nicht fertig würde. Später wird es wieder mal einen Achtstundentag geben, und irgendwann noch später noch weniger Arbeitszeit pro Tag. Da möchte ich dann aber eigentlich lieber schon zu Hause sein . . .

Sehr schnell kriege ich mit, warum es so schwierig ist, hier auf dieser Baustelle seine Norm zu erfüllen. Die Normen sind die gleichen wie überall; nur kommt kaum jemand dazu, die Arbeit, die ihm morgens aufgetragen wird, bis zum Abend durchzuhalten. Immer wieder muss man unterbrechen, weil man zu etwas anderem geholt wird. Schnell mal den LKW Zement mit abladen; schnell mal den Dachreiter mit aufrichten; schnell mal ein paar Bretter umstapeln, weil sie die Zufahrt versperren; schnell mal die Bretter mit auf's Dach tragen; schnell mal dies . . . schnell mal das . . . schnell mal noch etwas . . . klar, dass da bei der eigentlichen Arbeit nichts rauskommen kann!

Das müsste sich doch aber ändern lassen . . . In der Mittagspause spreche ich mit dem Arbeitseinsatzleiter im Lager. Der meint, wir brauchten ja nur am Abend bei der Abrechnung darauf achten, dass auch wirklich alles, was wir so nebenbei gemacht haben, mit aufgeschrieben wird. Kann man ja mal versuchen; mal sehen, ob's hilft . . .

Am Abend können wir dann insgesamt 25 Bretter vorweisen, haben aber so nebenbei noch etwa 15 andere Arbeiten mit abzurechnen. Als die kleine Bauleiterin mit der Liste kommt und die 25 Bretter notiert hat, lassen wir sie nicht fort. Sie hört sich unseren Bericht an, guckt etwas erstaunt, sagt “Nitschewo!” und will weitergehen. Nix nitschewo - das muss alles mit aufgeschrieben werden! Nachdem wir ihr das mehrmals klar zu machen versucht haben, schreibt sie schließlich; scheinbar mehr, um uns los zu werden, als weil wir sie von irgendetwas überzeugt hätten, aber - sie schreibt.

Am nächsten  Abend gibt es dann im Lager ein großes Staunen: auf der “Pjeromaiska” hat die “Brigade Petersen” (wir zwei laufen als eigene Brigade unter meinem Namen) doch tatsächlich das erste Mal, seit es die Baustelle gibt, die Norm erfüllt - und nicht nur so knapp, sondern richtig, mit 112 Prozent!

Damit ist es dann vorbei mit dem schlechten Ruf der Baustelle in der 1. Mai-Straße. Unser Beispiel macht Schule, und die Nebenarbeiten werden alle mit abgerechnet; andererseits  aber wird es der Kleinen offenbar lästig, jeden Abend an jedem Arbeitsplatz solch eine Litanei hergebetet zu kriegen (und aufschreiben zu müssen), und sie lässt jetzt diese Arbeiten von den Handlangern, die ja auch eigentlich dafür zuständig sind, erledigen.

Mein Partner am Hobel ist ein schon älterer Kumpel aus Schlesien; könnte fast mein Vater sein, hat auch schon selbst ein paar Kinder und hatte einen kleinen Bauernhof. “War ja nich sehre gruß, aber scheen huch, Lerge!”, sagt er. – “Wieso 'war', Richard?” – “Nu, sind doch im Herbst 44 alle ausgerissen vorm Iwan; wie ich meine Alte kenne, hat die die Kinder geschnappt und sich dünne gemacht und sitzt heute bei ihrer Schwester in Sachsen; und wenn die jetzt dorten wirklich die Güter enteignen, dann besorgt die sich was Neues, kannst Dich drauf verlassen.”

Das muss er mir genauer erklären - und dann stellt sich heraus, dass Richard vor 33 immer schon KPD gewählt hat, weil die die großen Güter – “die Junker”, sagt er - schon damals enteignen wollten und das Land an die Landarbeiter aufteilen. “Kann doch nicht richtig sein, dass einem Hunderte von Hektar gehören und die andern im Dorf haben gar nichts - und ist ja wohl auch nicht immer so gewesen; bei den alten Germanen hat das Land ja wohl allen gehört, und die haben gemeinsam gewirtschaftet . . .” - Na ja - das mit der Markgenossenschaft, das habe ich ja in der Schule auch gelernt, aber wie ging das dann weiter? Man müsste mal mit jemanden sprechen, der davon mehr weiß . . .

Das ist es eben - keiner kann einem richtig erklären, was eigentlich jetzt so um mich herum vorgeht . . . Man steht vor einem Berg neuer Probleme, die man verstehen müsste, und keiner kann einem helfen. Aber es gibt zugegebenermaßen auch keinen mehr, der einen anbrüllt: “Denken . . .? Das überlassen Se jefällichst den Pferden, die ham jrößere Köppe, Sie unabjewaschene Kaffeetasse, Sie!” - Es gibt zwar - und nicht ganz wenig - noch Leute, die es sicher gern täten; aber sie dürfen's nicht . . .

Da ist doch neulich von der Lagerleitung (angeblich auf Befehl der Russen) angeordnet worden, dass Orden, Ehrenzeichen und die alten Dienstgradabzeichen wieder getragen werden sollten. Mal abgesehen davon, dass unter denen von uns, die in der Berliner Gegend geschnappt wurden, kaum noch jemand so etwas mit sich herumschleppt - ich kann auch sonst nicht so recht verstehen, was das für einen Sinn haben soll.  Interessant ist aber, wer sich aus diesem Anlass da plötzlich wieder auf sein früheres “Heldentum” besinnt. Vom KVK II ohne und mit Schwertern über den Gefrierfleischorden bis zum EK I ist so ziemlich alles vertreten, was es für den deutschen Landser um den Hals zu hängen gab, und dass keiner das “Deutsche Kreuz” trägt, liegt sicherlich nur an dem großen Hakenkreuz darauf. Beweisen kann übrigens keiner mehr, dass ihm das Lametta wirklich zusteht; denn die Soldbücher haben die Russen alle einkassiert.

Interessant ist aber auch, dass sich bei dieser Gelegenheit alle die, die ständig von “damals in Frankreich . . .” und “weißt Du noch, das Spanferkel in . . .” schwärmen, als Feldwebel und Oberfeldwebel entpuppen. Dass es denen nicht ganz schlecht ging, will ich gerne glauben; aber schließlich bestand ja die Wehrmacht nicht nur aus Feldwebeln . . .

Überhaupt - wenn man sich mal richtig überlegt, wovon die eigentlich so gut gelebt haben in jenen Zeiten . . . Man braucht ja nur zuzuhören, wenn sie erzählen. Die meisten haben den ganzen Krieg zuerst in Frankreich und dann in Polen und Russland gesteckt, und das, was sie haben wollten….. alle die Schweine, Schafe, Kühe, Weinflaschen, von denen sie heute schwärmen, müssen doch vorher auch irgendwem gehört haben, und nach Lage der Dinge können diese bisherigen Eigentümer dann doch wohl nur Polen, Russen, Franzosen gewesen sein? Wie die wohl darüber denken?

Bei solchen Überlegungen (und Gesprächen, denn mit Richard kann man sich großartig unterhalten) wird unser Bretterstapel immer kleiner. Wir haben uns gut aufeinander eingearbeitet, schaffen unsere Norm spielend (trotz immer noch nicht ganz zu vermeidender Nebenarbeiten), und es gibt Tage, da gehen wir mit 150 Prozent nach Hause. Als eines Tages irgend so eine Ingenieursinspektion vom Trest unsere Baustelle heimsuchte, hat die Anja - die kleine Bauleiterin - den ganzen Pulk extra an unseren Arbeitsplatz geführt und “den Alten und den Jungen da” als gute Arbeiter vorgestellt. Das war fast noch schöner als mein Geburtstag.

Ja, Geburtstag habe ich mittlerweile auch gehabt. Nun sind die mitleidheischenden “sechzehn Jahre” vorbei, nun bin ich siebzehn. Eigentlich war der Tag ja einer wie alle anderen, abgesehen davon, dass mein Name an der Glückwunschtafel am Schwarzen Brett angeschlagen war und dass ich zum Mittagessen einen doppelten Schlag Suppe gekriegt habe. Halt, das war noch nicht alles: als ich abends von der Arbeit kam, stand auf meinem Platz ein kleiner rohgezimmerter Holzkasten. Inhalt: zwei Stücken Brot von je 200 Gramm und eine Glückwunschkarte von Kurt aus einem Stück Zementsack mit ein paar gezeichneten Blümchen drauf . . .

Auf der Baustelle sind neue Bretter angekommen. Also haben wir vorläufig noch genug Arbeit. Es wäre aber auch schade, wenn wir grade jetzt von dieser Baustelle weg müssten; im Keller werden nämlich die Wintervorräte für die Werksküche des “Trest” eingelagert, und das heißt, das täglich LKWs mit Kartoffeln, Rüben, Möhren und so weiter anrollen. Wenn man da beim Abladen hilft, kann man immer eine Kleinigkeit für sich abzweigen; nicht viel, aber wir sind ja bescheiden, und weil wir mitten auf dem Hof für alle Ankommenden sichtbar arbeiten, und weil die Anja weiß, dass wir trotzdem schaffen, was gefordert wird, sind wir jedes Mal beim Abladen dabei.

Mit Anja verstehen wir uns jetzt wirklich gut. Dabei spricht sie kaum Deutsch; aber einmal habe ich so mittlerweile doch eine ganze Menge russische Brocken mitgekriegt, und dann gibt sie sich immer Mühe, langsam und sehr deutlich zu sprechen, ganz im Gegensatz zu unserer zweiten Gesprächspartnerin. Die heißt Lenotschka, mag so etwa acht bis zehn Jahre alt sein und ist uns zuerst aufgefallen, weil sie völlig graue Haare hat, wie eine alte Frau. Wie Anja uns klargemacht, ist die Kleine 1941 beim Einmarsch der Deutschen mit ihrer Mutter in einen Tieffliegerangriff geraten und hat seitdem die grauen Haare. Der Vater ist gefallen . . . Zu uns kommt sie jeden Abend mit einem Sack und holt sich die Hobelspäne, von denen ja Massen anfallen, zum Feuermachen. Dabei schnattert sie pausenlos mit einer Geschwindigkeit, daß man eigentlich nur ein einziges Wort verstehen kann: “Frietz” - das ist der Spitzname, den die Deutschen hier haben, so, wie bei uns jeder Russe “Iwan” hieß. Na gut - warum nicht “Frietz”?

Unterdessen ist es Oktober geworden. Morgens ist es neblig, und tagsüber regnet es immer wieder; manchmal sind auch schon kleine Schneeflocken dazwischen. Es wird eigentlich Zeit, dass man sich nach einem Dach über den Kopf umsieht; aber Richard meint, wir sollten auf alle Fälle noch abwarten, bis der Kartoffelkeller gefüllt wird. Die Kartoffeln sollten wir noch mitnehmen.

Auf der Baustelle “Krestjanskaja wuliza (Straße der Bauern)” scheint der Teufel los zu sein. Der Bau dort - ein ähnliches Wohnhaus wie unseres hier - soll bis zum 7. November fertig sein, und das will man erreichen, indem man mehr Leute einsetzt. Darum müssen jetzt auch Lagerdienstler - und mit ihnen auch Kurt - raus auf den Bau. Als er am Abend zurückkommt, ist er hell begeistert. Das Haus ist fast fertig ausgebaut und unter Dach, es gibt fast nur Innenarbeiten, und außerdem hat man vom “Trest” eine zusätzliche Mittagsmahlzeit versprochen, um den Weg zum Essen im Lager und zurück einzusparen. Das ist doch genau das, was Richard und ich suchen?

Als es am nächsten Morgen dann wieder heißt “Zehn Mann zusätzlich zur Krestjanskaja!” - da lassen Richard und ich unsere “Pjeromaiskaja” sausen und melden uns. Übrigens ist Brigadier auf der “Krestjanskaja” der Jupp Mordhorst, mit dem ich im Juli zum Steineklopfen gegangen bin; der ist in Ordnung, bei dem war ein gutes Arbeiten.

Auf dem neuen Arbeitsplatz gibt es tatsächlich fast nur Innenarbeiten - aber ich habe als einer der wenigen das Pech, draußen bleiben zu müssen - wenigstens überwiegend - ich trage Mörtel für die Putzer . . . Na ja, was sollen die schließlich auch sonst mit einem anfangen, der weiter nichts gelernt hat als englische unregelmäßige Verben und Dreieckskonstruktionen . . . Letzten Endes lässt es sich aber auch bei dieser Arbeit aushalten; man ist den ganzen Tag in Bewegung, da merkt man nicht so, dass es doch schon ganz empfindlich kalt sein kann. Abends allerdings ist man dann schlagkaputt von dem dauernden Rauf und Runter auf den Hühnerleitern; aber daran werde ich mich schon noch gewöhnen.

Im Lager merkt man auch, dass wir uns auf den Winter vorbereiten. In unseren Betonhallen werden Öfen gesetzt, die Fenster werden verglast, alle vorhandenen Ritzen - und das sind nach der Sprengung des Vorderhauses nicht wenige - werden verschmiert und auf dem Hof entsteht eine große Erdhütte, in der erhebliche Mengen von Kartoffeln und Rüben eingewintert werden. In der alten Kesselhalle im Erdgeschoss wird Torf als Heizmaterial für die Öfen eingelagert und Strohsäcke werden - endlich! - gestopft und ausgegeben. Der erste dünne Schnee liegt ja auch schon, und damit man bei den Abendzählungen noch was erkennen kann, wird mitten auf dem Hof ein Mast mit drei großen Straßenlampen aufgestellt. Schließlich wird dann ab Ende Oktober nur noch acht Stunden täglich gearbeitet.

Mitten in diese ereignisreiche Zeit hinein platzt dann ganz plötzlich und völlig unplanmäßig eine “Kommissionierung”, eine Untersuchung für die Arbeitsgruppen-Einstufung. An und für sich sind wir ja “Heinzelmännchens Nacktparade” nun schon gewohnt - findet ja schließlich alle vier Wochen statt - aber die vier Wochen sind nun eben noch nicht um, und außerdem werden dieses Mal etwa 50 Mann, alles alte Leute so um die 50 herum, aussortiert, die nicht mehr arbeiten gehen und obendrein eingekleidet werden, als sollten sie zum Lumpenball. Das älteste Zeug, das überhaupt zu finden ist, hängt man ihnen an, und als sie dann die Lederschuhe (die wir doch tatsächlich wiedergekriegt haben) abgeben müssen und wieder in die Holzbotten umsteigen, und nachdem man jedem ein Brot, eine Büchse Schmalzfleisch und einen ganzen Räucherfisch in die Hand gedrückt hat, da steht zumindest fest, dass sie eine längere Reise vor sich haben; und so läuft denn die Parole um: “Die fahren nach Hause!”.

Bei den Aussortierten ist auch der alte Beinroth aus Helfta. Das ist zwar noch ein Stückchen von uns zuhause entfernt, aber probieren kann man es ja, schließlich sind wir doch beinahe “Landsleute”; ich schreibe ihm meine Adresse auf ein Stück Zementsack und gebe sie ihm mit. Er verspricht, wenn es klappen sollte mit der Entlassung, nach Haus zu schreiben. Hoffentlich geht das klar; dann wissen sie zuhause doch wenigstens, dass ich noch lebe.

Die sollen tatsächlich nach Hause fahren . . . Der Kommandant hat es ganz offiziell bei der Abendzählung gesagt und gleichzeitig versprochen, dass da noch mehr Transporte gehen sollen. Dann könnte es sein, daß ich vielleicht Weihnachten doch noch zu Hause bin . . .?

Unser Bau in der “Krestjanskaja” ist nun rechtzeitig fertig geworden, d.h., was man hierzulande und in dieser Zeit so "fertig" nennt; er hat einen Zustand erreicht, in dem er jemanden, der in einer Erdhütte wohnt (und davon gibt es hier noch viele) als Ziel seiner Wünsche erscheinen mag. Das hält zwar keinen Vergleich mit dem aus, was wir zuhause wohnlich nennen; aber erstens wissen wir nicht, wie es jetzt zuhause aussieht, und zweitens sind wir eben hier und nicht zuhause . . . Wir haben jedenfalls am 4. November die Baustelle erst auf- und dann endgültig geräumt, Jupp Mordhorst hat seine 100 Rubel gekriegt und alle zusammen einen schönen Dank vom Bauleiter. Dafür kann man sich zwar nichts kaufen, aber es freut einen irgendwie doch; und der Jupp hat auf dem Markt, an dem wir täglich vorbeigeführt worden sind, für die ganzen 100 Rubel Machorka gekauft, 25 Wassergläser voll (so ein Wasserglas, ein “stakan”, ist hierzulande ein übliches Hohlmaß), und die hat er dann an uns verteilt. Richtig ein feiner Zug von dem Mann, auch, wenn ich nicht rauche. Man kann den Tabak ja auch gegen Brot vertauschen . . . Am Abend höre ich, wie der Brigadier vom “Kino Kalinin”, der Georg Mindt, der gegenüber auf der Pritsche seinen Platz hat, sagt: “Schön blöd, der Mordhorst - für 100 Rubel Machorka, und dann verteilen . . . Wüsst ich was Besseres, wenn's mir passieren täte, wüsst' ich schon . . .”.