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Im Erholungslager

Die Apfelbäume blühen nicht mehr, aber es macht trotzdem Spaß, mal wieder durch die Plantagen zu laufen. Wir ziehen 25 Mann hoch im Gänsemarsch zu unserem neuen Domizil, quer durch die Trümmer einer gesprengten Ziegelei, vorbei an ein paar abgesoffenen Lehmgruben (ob man hier im Sommer baden gehen kann?) zu einem großen Blockhaus, ein Mittelflügel und zwei Seitenflügel, das mitten in einem großen Gemüsegarten liegt. Ein dürftiger Stacheldrahtzaun ringsherum, ein Ziehbrunnen vor dem Tor, ein Wachhäuschen und zwei kleine Blockhäuser (sicher für die Wachmannschaft) - das ist also das Lager 13, das Erholungslager.

Am Eingang werden wir von Willi begrüßt. Er tänzelt um unser Häufchen rum, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht gesehen - der Kerl kann eben nie wie ein normaler Mensch laufen - der Lagerarzt, ein kleiner Ungar, mustert jeden einzelnen kritisch, als wenn er gleich hier draußen eine Zugangsuntersuchung machen wollte, der deutsche Lagerführer - ein ganz junger Kerl noch, sicher ein Offiziersschüler oder so etwas - fertigt eine Liste von uns an, lässt uns antreten und meldet dem Lagerkommandanten, einem Kapitänsarzt, und dann hält uns der eine Begrüßungsansprache. Er spricht das merkwürdige Deutsch, das ich schon von dem Glaser aus der Schule No. 5 kenne: “Wer'n Se sich vor allem erholen hier - wer'n Se arbeiten a bissel, nich ze viel, bloß de Halbe vun de Norm - wer'n Se gehn a jeden Tog on de frische Liften - wer'n Se assen gutt - un wer'n Se wer'n weder starke un kreftije Lajt. Machen Se bloß de Körpers, zieh'n Se aus die Jäcken un de Hemden, lossen Se de Liften an de Lajbers!”.

Das hört sich alles recht vielversprechend an. Die Stuben sind zwar recht klein und nur mit dem dringendsten ausgestattet (das heißt: Es stehen nur Doppelstockpritschen drin, und mit denen ist jeder verfügbare Raum ausgenutzt), aber wir werden ja wohl die wenigste Zeit des Tages in der Stube sein. “Lossen Se de Liften an de Lajbers” , da sind wir sicher mehr draußen als drinnen, und meine im Lazarett nur geduldete kurze Hose ist hier vielleicht angebrachter?

Ich bin kaum kurz behost das erste Mal auf dem Hof, da hat mich der Kapitän auch schon entdeckt und ruft mich zu sich. Aha, denke ich, also auch hier . . . Aber ich habe mich geirrt. Er ist von der Idee, in kurzen Hosen zu laufen, begeistert, mustert mich von allen Seiten wie ein Ausstellungsstück und überlegt, wie er solche Kleidungsstücke für alle Lagerinsassen beschaffen könnte. Aber das wird wohl letzten Endes daran scheitern, dass ja auch mal wieder Winter wird und dann alle ihre langen Hosen brauchen und eben jedem nur eine Hose zusteht . . .

Das Essen ist erwartungsgemäß genauso gut wie drüben im Lazarett , und die Arbeit . . . Die ist offensichtlich nur Formsache, damit der Mensch irgend einen Sinn in seinem Leben sieht. Wir sollen auf der Plantage Baumscheiben graben, 2 Meter Radius um jeden Baum, einen Spatenstich tief, 2 Scheiben pro Tag - und das für zwei Mann! Wir fangen dazu um 8 Uhr an, arbeiten bis 11 Uhr, gehen um 1 Uhr wieder raus und dann ist um 4 Uhr Feierabend. Am ersten Tag war ich so gegen 10 Uhr mit der Norm fertig; und dabei hatte der Kumpel, mit dem ich zusammen graben sollte, den Spaten noch nicht einmal angefasst. Der Rest des Tages war dann ziemlich langweiliges Nichtstun, denn weiter arbeiten ging schlecht; die anderen, die nicht so schnell waren, sind nämlich körperlich etwa so schlecht dran, wie ich im Februar war, und die haben mit dieser Aufgabe schon den Tag zu tun. Da kann ich doch nicht wie wild vorneweg arbeiten, das sähe ja aus, als wenn ich mit meiner Gesundheit angeben wollte . . .

Statt denen also die Norm zu verderben, verteile ich mir die Arbeit möglichst gleichmäßig über die sechs Stunden Arbeitszeit - wenn mein Kumpel unbedingt will, kann er mir ja helfen, aber müssen muss er das nicht - und versuche in den ziemlich langen Pausen, mich mit dem Mädel, das uns “bewacht”, zu unterhalten. Sie wird etwa so alt wie ich sein, lässt sich “Galina Fjodorowna” nennen (förmliche Anrede für Fremde oder Höhergestellte, wie ich mitgekriegt habe) und sitzt mit einem alten russischen Karabiner bewaffnet die ganze Zeit am Rande des Plantagenabschnitts, in dem wir grade arbeiten.

Die Unterhaltung mit ihr ist relativ einfach, denn sie hat in der Zeit der deutschen Besatzung eine Menge deutsche Brocken aufgeschnappt, und ich kann, wie ich jetzt feststelle, doch schon wesentlich mehr Russisch, als ich bisher geglaubt habe. Sie ist 18 Jahre alt, Studentin, will “Agronom” werden (studiert also sicherlich irgendein landwirtschaftliches Fach), und arbeitet in den Semesterferien im gleichen Betrieb wie ihre Eltern und ihre ältere Schwester, die irgend etwas (was, verstehe ich nicht) in der Verwaltung des “Sowchos” macht. Ihr Bruder ist an der deutschen Front gefallen, und sie selbst sollte “in der deutschen Zeit” nach Deutschland zur Arbeit geholt werden; aber sie ist nicht gegangen, ihre Eltern haben sie versteckt. Das alles erzählt sie mir - immerhin einem Deutschen - so völlig unbefangen, als hätte ich damit überhaupt nichts zu tun; und als sie merkt, dass ihre Erzählung mich irgendwie betroffen macht, sagt sie: “Das alles - Krieg gewesen . . . Nun vorbei, nun arbeiten zusammen, muss reden zusammen, verstehen die andere . . .” - Mir fällt wieder der alte Glaser von der "Schule No. 5" ein – “Sull me eich nich strofen . . .”.

Mir fällt auf, wie konsequent sie darauf besteht, dass wir hier auf einem “Sowchos” arbeiten. Bei uns heißt alles, was hier mit Landwirtschaft zu tun hat, “Kolchose”, aber offensichtlich gibt es da Unterschiede, und die soll sie mir erklären. Sehr schnell merken wir aber beide, daß weder ihr deutscher noch mein russischer Wortschatz für dieses Gebiet ausreichen, und so brechen wir ab, als sie merkt, dass ich verstanden habe, dass ein Sowchos “wsjo narod”, dem ganzen Volk, also wohl als Staatsbetrieb allen gehört, während ein Kolchos nur dem gehört, “kto tam rabotajet”, der dort arbeitet, also scheinbar eine Art Genossenschaft ist. Besser ist die Verständigung, als sie mir klarmacht, wem die Plantagen hier früher gehört haben: einem “Fürsten” (also wohl einem Adligen), der im ehemaligen Petersburg gelebt hat, sich hier in seinem ganzen Leben nicht hat sehen lassen und von einem Verwalter die Einkünfte der Plantagen abkassieren ließ. Der Verwalter hat übrigens im gleichen Haus gewohnt, in dem jetzt unser Lager untergebracht ist.

So vergehen ein paar Tage mit etwas Arbeit und viel Reden. Galja (wir sind sehr schnell von der förmlichen Anrede abgekommen) hat sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, meine Russischkenntnisse in Bezug auf landwirtschaftliches Inventar und landwirtschaftliche Tätigkeiten aufzubessern; sie nennt mir Dutzende von Vokabeln, lässt mich nachsprechen, bis sie mit Aussprache und Betonung einverstanden ist, und schreibt mir die Wörter in den Sand. Wenn das so weitergeht, kann ich eines Tages doch noch als “perewotschik”, als Dolmetscher, fungieren . . .

Es geht aber nicht so weiter. Weiß der Teufel, woher - jedenfalls überfällt mich eines Abends plötzlich ein höchst unangenehmer Durchfall, und nachdem ich die Nacht über mehr zur Latrine unterwegs als auf meiner Pritsche gewesen bin, gehe ich am Morgen zu Willi, dem Obersani, und stelle ihm die Sache vor. Der tänzelt in gewohnter Weise vor mir auf und ab, gibt mir zwei Esslöffel einer dunkelbraunen, ekelhaft bitteren Brühe zu trinken (“Eichenrindenabkochung - wegen der Gerbsäure!”) und kann sich gar nicht genug wundern: “Also Durchfall hast Du? Wirklich richtigen Durchfall?” – “Ich kann Dir ja mal in die Stube scheißen, damit Du's glaubst!”, sage ich ganz freundlich. – “Hach - Du bist vielleicht ein frecher Kerl . . . Weißt Du was - zieh ins Revier ein, in Zimmer drei!” - So schlimm war's ja nun meiner Ansicht nach nicht, daß das nötig gewesen wäre; aber wenn er meint . . .

Der Durchfall ist schon am nächsten Tage besser, und somit könnte ich von mir aus eigentlich entlassen werden; aber der ungarische Lagerarzt hält an den eisernen Regeln des Lazaretts fest - drei Tage fieberfrei und drei Tage festen Stuhl . . . Na gut, machen wir eben noch ein paar Tage Pause.

Mit dem Sani, der unter Willis Aufsicht für die Krankenzimmer zuständig ist, habe ich mich schon am ersten Tag angefreundet. Rudi heißt er, ist ein Jahr älter als ich, auch mitten aus der Oberschule raus (allerdings mit “Notabitur”) und will, wenn er wieder zu Hause ist, Mathematik studieren. Er stammt aus Kitzingen in Mainfranken – “wo die berühmte Brücke über den Main ist”, und ist enttäuscht, daß mir diese Brücke so gar kein Begriff ist. “Sie ist nämlich die einzige Brücke aus dem Mittelalter, die in einem einzigen Bogen über den Main geht . . .”, erklärt er mir dann.

Am dritten Tag ruft mich Rudi vor in das Ambulatorium. Aha, denke ich, Zeit vorbei - Entlassung . . . Aber wieder mal kommt alles ganz anders. In der Ambulanz steht eine Krankenschwester mit Leutnantsschulterstücken und mit einer so aufgedonnerten wasserstoffblonden Dauerwellenfrisur, dass man eigentlich von der ganzen Frau nur die Frisur sieht. Wie im Schaufenster eines Friseurs, die Wachsköpfe, geht es mir durch den Kopf - da kriegt Willi mich beim Arm und baut mich vor der Dame auf. “Hier, das ist er, und er wird der andere Sanitäter”, radebrecht er auf Russisch. Was will der von mir? Ich soll Sanitäter werden? “Mach' doch keinen Mist, Willi”, sage ich, “das geht doch nicht, ich kann doch keinen Schieber sehen . . .”. Aber er lässt sich auf nichts ein und redet weiter mit ihr: “On charoschi sanitar, ja emu snaju, on budit wtoroje sanitar”, und zu mir: “Du hältst jetzt den Mund, ich erklär' Dir das später!” - Die Schwester beguckt mich, als ob sie mich kaufen wollte, von allen Seiten, sagt dann “Gutt, gutt!” und geht aus dem Raum.

Als sie draußen ist, sieht mich Willi strahlend an. “Na, wie habe ich das gedreht? Nun sind die beiden Jüngsten im Lager Sanitäter! Irgendwer muss sich ja schließlich um euch kümmern, nicht wahr?”. Sicher, das hat er gut gemeint; aber - ich und Sanitäter? – “Mensch, Du kriegst den Isolator!” – “Na und? Gibt es dort etwa keinen Schieber?” – “Schieber schon”, sagt er grinsend, “aber keine Patienten; alles, was dahin müsste, wird doch gleich rüber gebracht ins Lazarett . . .”.

Unter diesen Bedingungen lässt es sich allerdings auch als Sani leben. Morgens wische ich meine Stube auf - wie drüben im Lazarett, mit Seife und Ziehklinge, damit der Fußboden richtig weiß strahlt - dann wechsle ich mich beim Essenholen für die Kranken mit Rudi ab, beide assistieren wir dem Dr. Nagy bei den Sprechstunden und den ambulanten Behandlungen - Rudi als Schreiber (er schreibt die russische Schrift fast genau so schnell wie unsere, und alle Namen müssen in Russisch in Listen und Karteien eingetragen werden), und ich als Assistent – “Tupfer - Skalpell - Pinzette - Zinksalbe – Kompresse” und so weiter. In der übrigen Zeit unternehme ich immer wütendere Anstrengungen, die Fenster der Krankenzimmer und des Ambulatoriums so weit zu bringen, dass man hindurchsehen kann. Sie müssen seit Jahren weder Lappen noch Wasser gesehen haben, es scheint, als ob die Scheiben aus Mattglas wären. Nach vielen mehr oder weniger vergeblichen Versuchen mit heißem Wasser, Seife und “Natr. carbonic. crud.”, von dem mehrere Pakete im Bestand unserer kleinen Apotheke sind (nur gut, dass ich aus dem Chemieunterricht behalten habe, dass das simples Soda, lateinisch bezeichnet, ist) mache ich schließlich die Erfindung: Ungelöschter Kalk und Waschbenzin, zu einem dicken Brei verrührt und mit dem Lappen aufgetragen und anschließend verrieben und wieder abgewischt, beseitigen sogar den sonst absolut widerstandsfähigen Fliegendreck auf den Scheiben.

Dann sind die Fenster eines Tages sauber, und da es, abgesehen von vielen Fällen von Bartflechte (die ich zunächst zum Entsetzen unseres Doktors, aber letztlich erfolgreich mit Schwefelsalbe behandele) bei herrlichem Sommerwetter kaum Kranke gibt, haben wir beide kaum noch etwas zu tun. Rudi ist mir als Notabiturient und angehender Mathematikstudent um Einiges im Wissen voraus, aber schlecht war ich in Mathe und Physik jedenfalls auch nicht; und so finden wir massenweise Probleme, mit denen wir uns beschäftigen. Da ist die Eimeraufgabe vom letzten Winter, die Kurt und ich seinerzeit bei Seite gelegt haben; Rudi akzeptiert meinen damals vorgedachten Lösungsweg, und wir entwickeln eine Formel, nach der sie allgemeingültig gelöst werden kann. Als Rudi dabei entdeckt, dass ich das schriftliche Ziehen einer Quadratwurzel in der Schule nie so richtig verstanden habe, paukt er solange mit mir, bis ich das sicher beherrsche; und schließlich landen wir beim “gekrümmten Raum”, den wir aus den utopischen Romanen von Hans Dominik kennen, und versuchen, uns dazu eine Vorstellung zu schaffen. Wenn der Dominik - der ja immerhin Konstruktionsingenieur bei Siemens gewesen sein soll - darüber schreibt, dann muss man sich so etwas doch auch vorstellen können, und auch, wie wir das sehen würden, wenn . . . Na, und von da landen wir bei der vierten Dimension, und beim Einfluss der Gravitation auf das Licht, und schließlich sind wir bei Einstein und der Relativitätstheorie, von der ich überhaupt keine Ahnung, Rudi aber immerhin Vorstellungen hat . . .

Dann schleppt Rudi eines Tages ein richtiges Vermögen an - einen ganzen leeren Zementsack! Der verwandelt sich unter seinen Händen in etwas, das einem Oktavheft entfernt ähnlich sieht. Ein winziger Bleistiftstummel taucht auf, für den ich eine Verlängerung aus Konservenbüchsenblech erfinden muss, und dann “gehen wir unter die Sprachforscher”. Rudi will Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der russischen und der lateinischen Sprache untersuchen, und dazu tragen wir in dem Heft alles zusammen, was uns in dieser Hinsicht bekannt ist. Und wir stellen voll Staunen fest - es ist wesentlich mehr, als wir gedacht und viel mehr, als wir uns selbst zugetraut haben. Angefangen von Vokabeln, die in beiden Sprachen zumindest den gleichen Stamm haben, wie dom und domus (das Haus), über die Ähnlichkeit der Endungen bei der Konjugation der Verben bis zu den Ablativen des Ortes und des Mittels - plötzlich ist das Heft voll . . .

Diese Art der Beschäftigung bringt für mich zumindest mit sich, daß ich (was Rudi offensichtlich schon lange getan hat) ein wenig in die Grammatik des Russischen hineinsehe und nun schon mal versuchen kann, einen Satz selbst zu bauen; na, und zusätzlich werde ich auch geübter im Lesen und Schreiben der russischen Buchstaben. Nun müsste man ein richtiges Wörterbuch haben . . .

So nebenbei, und um nicht nur das Gehirn zu betätigen, bastele ich aus den Blechdosen, in denen die kanadische Blutwurst angeliefert wird, Lampen für die Quartiere. Vorbild dafür ist die Benzinfunzel, bei deren Licht Kurt und ich im letzten Winter Schach gespielt haben. Noch ist ja Sommer, und die Tage sind lang; aber das bleibt nicht so, und dann brauchen wir sicher Licht in den Stuben, und Elektrizität gibt es hier draußen nicht . . . Schließlich kommt sogar der Wachoffizier und bestellt sich solche Lampen für das Wachhaus und die Unterkünfte der Wachmannschaft.

Dann wird mal wieder von Transporten gemunkelt. Transport - das heißt irgendwo ganz im Hinterkopf “nach Hause”, und darüber gehen immer wieder mal Parolen um. So ungefähr alle zwei Monate scheint jemand dieses Gerede wieder aufzufrischen, damit wir bei guter Laune bleiben . . . Diesmal wollen die Kumpels in einem Kommando, das in der Plantage an den Eisenbahnschienen gearbeitet hat, einen ganzen Güterzug voll Plenis gesehen habe, der dort durchgefahren ist - na, und wenn es einen Transport gegeben hat, dann gibt es doch sicher auch noch andere, und wenn es andere gibt, dann sind wir hier im Erholungslager doch sicher die ersten dabei, und Zeit dafür wäre es doch schon lange . . .

Ja, und dann habe ich plötzlich Arbeit genug - mehr als genug sogar, und obendrein auf dem Gebiet, das Willi von vornherein ausgeschlossen hat. Bei mir auf dem Isolator liegt ein Kranker, völlig fertig und nicht transportfähig, sonst wäre er ja gleich ins Lazarett gekommen. Keiner weiß, was ihm eigentlich fehlt oder woran er so plötzlich erkrankt ist. Durchfall, wie ich bisher noch nicht mal bei den Ruhrkranken des Frühjahrs gesehen habe; allerdings ohne Blut, nur ein völlig flüssiger, grünlich-schleimiger Stuhl, den er offensichtlich überhaupt nicht kontrollieren kann und der abgeht wie Wasser; ein völlig zusammengebrochener Kreislauf, kaum noch fühlbarer Puls, starke Abmagerungserscheinungen, allgemeine Schwäche, dazu entweder völlige Apathie oder irres Reden - keiner von uns, der Arzt nicht, die Schwester nicht und wir drei Sanis schon gar nicht,  hat so etwas schon einmal gesehen. Früh um vier Uhr hat ihn der Wachoffizier mitten auf dem Hof aufgelesen - er war wohl auf der Latrine und ist auf dem Weg zurück ohnmächtig geworden. Willi Weber heißt er und stammt aus Frankfurt am Main; dort soll er Koch in einem großen Hotel gewesen sein, sagen seine Kumpel, die mit ihm auf einer Stube liegen.

Unsere ganze Mannschaft im Revier ist in heller Aufregung. Schwester Toni läuft rüber ins Lazarett, um Dr. Beckenhaub zu holen - zwei Ärzte wissen mehr als einer - Willi stellt vor lauter Nervosität im Ambulator alles von einem Platz auf den anderen, Dr. Nagy sitzt auf der Bank vor der Reviertür, studiert in Webers Aufnahmekarte - auf der ja nicht viel mehr als der Name und das Einlieferungsdatum von heute stehen kann - und klopft sich mit dem Stethoskop auf die Oberschenkel, und Rudi und ich sitzen im Isolator, beobachten den Kranken - der ist grade mal wieder geistig weggetreten - und kontrollieren seinen Puls. Ob das Herz das wohl aushält . . .? Mir ist die ganze Aufregung sehr verständlich, denn um das alles lebendig zu überstehen, muss der hier vor uns wirklich ganz verdammtes Schwein haben. Schon diese Schwankungen in Puls und Temperatur können einen Menschen, selbst, wenn er sonst gesund ist, umbringen; und nun erst einen, der so skelettartig abgemagert ist wie der hier . . . Wie er so daliegt, könnte man auf den ersten Blick annehmen, er sei schon gestorben. Das Gesicht ist nicht mehr blass, wie im Anfang, sondern bläulich, als wenn er zu lange in kaltem Wasser gebadet hätte, und über die Gesichtsknochen spannt sich nur nach Haut . . .

Rudi geht zum Fenster und zündet sich eine Zigarette an. Eigentlich ist ja das Rauchen im Revierbereich verboten, aber: “Der merkt doch sowieso nicht, was um ihn herum vorgeht . . .”. Rudis Tabakdose ist voll bis obenhin, es hat gestern erst Tabak gegeben, 150 Gramm für einen halben Monat. - Der Rauch zieht vom Fenster her langsam durch das Zimmer, direkt über Webers unbeweglich auf dem Kopfkeil liegenden Kopf hinweg. In dem Moment schreit der plötzlich auf wie ein Verrückter, reißt mir die Hand weg, an der ich gerade den Puls kontrollierte - 112 hatte ich gezählt - schlägt wie wild um sich, wirft sich auf dem Strohsack hin und her: “Nein! Neiin! Neiiin! Ich will nicht! Ich will nicht! Keinen Tabak! Kei-nen  Ta-bak . . .”. Wir sind beide erschrocken zur Seite gesprungen, aber dann fällt mir der rasende Puls ein - der darf sich nicht so aufregen, der muss still liegen, der muss ruhig werden - und “Rudi, Zigarette aus!”, rufe ich und werfe mich dann auf den Tobenden. Es ist nicht allzu schwer, ihn auf seiner Pritsche festzuhalten, aber er versucht immer wieder, unter mir hervor zu schlüpfen, und entwickelt dabei eine Gewandtheit, die man ihm bei seinem Zustand gar nicht zutrauen sollte. Still liegen soll der Kerl, still liegen!

Langsam werden seine Bewegungen schwächer; er hat wohl seine letzten Kraftreserven verbraucht. Wenn er nun nur nicht . . . Aber sein Puls geht jetzt fast normal, 92 Schläge, und ist auch ziemlich gleichmäßig. Stinken tut es widerlich, er scheint bei der Toberei mal wieder ausgelaufen zu sein - und das darf ich jetzt ab- und auswaschen . . .

Unterdessen kommt Rudi wieder rein. Er geht an Webers Brotbeutel, der am Kleiderhaken neben dem Ofen hängt, und räumt ihn aus. Ich muss wohl ein ziemlich blödes Gesicht machen, denn er sagt geheimnisvoll: “Ich muss nur mal was nachsehen . . .” Weber ist schon wieder weggetreten, aber sein Puls ist bei 92 geblieben. - Der Brotbeutel zeigt das übliche Bild, wie es bei etwa drei Viertel aller Plenis aussieht: ein mehr oder weniger sauberes Waffelhandtuch, eine Oscar-Mayer-Dose mit einem Stück Seife, ein paar Flicken von Uniformtuch, noch zwei von den pyramidenstumpfförmigen Corned-beef-Dosen – “Siehst Du, so hab' ich mir das gedacht!”, zischt Rudi durch die Zähne. Ich begreife nicht recht, was er meint. “Na, hier”, hält Rudi mir die beiden leeren Dosen unter die Nase. Ich verstehe immer noch nicht. “Na, leer sind sie, alle beide!”. Warum sollten leere Dosen nicht leer sein? – “Mensch, gestern hat es Tabak gegeben - wo hat er den?”.

Das stimmt, die 150 Gramm Tabak müsste er irgendwo haben. Er war keiner von denen, die ihn gegen Brot eintauschen; die kenne ich alle, weil ich selbst dazu gehöre. Wo aber dann . . .? Er kann doch nicht 150 Gramm in einer Nacht verpafft haben? “Geraucht nicht, aber gefressen!”, sagt Rudi bissig. “Altes Rezept: Tabak fressen, Scheißerei kriegen, krank feiern - und hier vielleicht sogar nach Hause fahren . . .”.

Das wäre allerdings eine Erklärung . . . Nur, wenn er Pech hat - und im Augenblick sieht dieses Pech wesentlich wahrscheinlicher aus als sein erhofftes Glück - wenn der also Pech hat, dann fährt er statt nach Hause von hier aus nur noch auf den Lazarettfriedhof in dem alten Panzergraben vor der Stadt . . . Aber noch lebt er und ist Patient in meinem Isolator, und da habe ich für ihn zu sorgen, und das heißt, dass ich als nächstes seine beschissenen Unterhosen auszuwaschen habe . . .

Der Anfall vorhin muss wohl so eine Art Krise gewesen sein, denn seitdem bleibt sein Puls ruhig, immer so um die 90 herum; der Kreislauf kommt also wohl wieder in die Reihe. Dr. Beckenhaub war hier, hat ihn untersucht und eine Vergiftung diagnostiziert; womit, hat er nicht feststellen können oder vielleicht auch nicht feststellen wollen, und wir beide haben uns gehütet, etwas über unseren Verdacht zu sagen; wer weiß, was die Russen von “Selbstverstümmelung” (so hieß so etwas beim Kommiss) halten und wie sie darauf reagieren? - Als übrigens Dr. Beckenhaub und die Schwester ihn untersuchten, kam er für kurze Zeit zu sich, hat wohl die Schwester erkannt und mühsam geflüstert: “Schwester . . . wann fahre ich nach Hause?”. Das ist für uns Beweis genug, daß Rudi recht hat. Ich kann allerdings nicht verstehen, wie ein erwachsener Mensch so einen Unsinn anstellen kann. Weil ein Kommando in der Plantage einen Zug mit Kriegsgefangenen hat fahren sehen, und weil daraufhin die Gerüchte um das Nach-Hause-Fahren wieder mal neue Nahrung gekriegt haben, und weil immer wieder gesagt wird, dass Alte, Schwache und Kranke bei Entlassungen bevorzugt werden, macht sich der Kerl selbst so kaputt, dass jetzt zumindest fraglich ist, ob er überhaupt je heimfahren wird . . .

Der Kreislauf scheint wieder so einigermaßen in Ordnung zu sein, aber die Verdauung noch lange nicht. Das meiste, was ich ihm zu essen anbiete, lässt er erst gar nicht in den Mund, sondern presst die Lippen zusammen wie ein trotziges Kleinkind; und wenn ich es fertig bringe, ihm trotzdem etwas zwischen die Zähne zu schieben, wie Reis oder Griesbrei, dann nimmt der Magen das nicht an, sondern es kommt entweder sofort im hohen Bogen oben oder kurze Zeit später unten wieder raus. Schwester Toni ist völlig aufgelöst. Sie bringt Milch an, frischen Apfelsaft, Schokoladeriegel (aus amerikanischen “Emergency rations” vom schwarzen Markt) - entweder macht er den Mund nicht auf, oder er behält nichts drin. Dabei kann er sich wirklich keine Abmagerungskur mehr leisten; der ganze Kerl wiegt, schätze ich, höchstens noch einen Zentner und besteht nur noch aus Haut und Knochen . . .

Dann hat die Schwester den rettenden Einfall. Künstlich ernähren – “Glukose, Natrium chloricum, intravenös”, macht sie Doktor Nagy klar; aber der winkt resignierend ab. “Haben wir doch gar nicht . . .” – “Budit, budit - werden wir haben!”, sagt sie und saust los und vergisst sogar, ihre Uniformmütze aufzusetzen.

Es vergeht nur etwa eine Dreiviertelstunde, dann ist sie mit drei großen versiegelten 1-Liter-Flaschen wieder da. “Hier, Doktor - Natriumchlorid, Glukose - dawai, machen Injektion, schnell, spritzen!”. Dr. Nagy schnappt sich Spritze und Flaschen und verschwindet im Isolator. Rudi hinterher - einer muss doch assistieren, und das kann er in diesem Falle besser als ich.

Ich will wissen, wie Schwester Toni das geschafft hat. In der Lazarettapotheke sind diese Mittel nicht gewesen, das weiß ich. Sie muss sie in der Stadt besorgt haben. Aber woher in diesen Trümmern? Und vor allem - wie hat sie das so schnell fertiggekriegt?

Als der Arzt und Rudi zurückkommen, erzählt sie dann. Sie ist zur Leitung des Sowchos gegangen und hat dort nach einem Auto gefragt. Als die gehört haben, dass einer von uns im Sterben liegt, haben sie ihr einen Anderthalb-Tonner SIS gegeben, aber keinen Fahrer dazu; war keiner da . . . Also hat sie sich selbst hinter das Steuerrad gesetzt und ist quer durch die ganze Stadt gefahren, nach Nowo-Beliza. Dort ist die Zentralapotheke für die ganze Stadt, und nur dort hatte sie Aussicht, zu kriegen, was sie sucht. Die hatten auch wirklich etwas da, und der Rest war dann nur Autofahren, sagt sie . . . Von wegen; immerhin rund 10 Kilometer hin und 10 Kilometer zurück, mitten durch die Stadt, und das in der kurzen Zeit? Das war schon mehr ein Autorennen . . .

Auf alle Fälle war ihr Einfall der Richtige. Nach den Injektionen, die Dr. Nagy ihm gemacht hat, ist Weber ganz ruhig geworden und schläft jetzt. Wird Zeit, dass wir auch mal zur Ruhe kommen; es wird schon Abendessen ausgegeben, und unser Mittagessen steht immer noch im Ambulator auf dem Tisch. Das war ein Tag . . .

Die Nacht über soll bei Weber gewacht werden. Die erste Wache - bis 1 Uhr - will Schwester Toni selbst übernehmen, dann kommt Rudi dran, und ich kriege die Wache von vier Uhr bis zum Aufstehen um 7 Uhr. Etwa so gegen 6 Uhr wacht Weber auf und sagt - etwas matt noch, aber er spricht klar und deutlich – “Du, Sani - ich habe Hunger!” - Mensch, das kann doch nicht wahr sein - der will essen . . . Ich sause wie ein geölter Blitz in die Küche. Wolfgang macht ganz auf die Schnelle eine kleine Extraportion Reis zurecht. Als ich damit zurückkomme, ist Weber schon ganz ungeduldig. “Sani - Sani - Sani - wo bleibst Du denn? Ich will was zu essen haben!”. Dann macht er aber bereitwillig den Mund auf und lässt sich füttern. Der Puls geht ruhig, etwa 80 Schläge in der Minute; Fieber hat er auch nicht - es sieht aus, als wenn er besser über seine Dummheit wegkäme, als wir das gestern noch gedacht haben.

Er ist tatsächlich über den Berg, das kriege ich sehr bald zu spüren. So einen ungeduldigen und launenhaften Kranken habe ich bisher noch nicht erlebt, obwohl ich doch im Lazarett einiges in dieser Hinsicht kennen gelernt habe (allerdings betrafen die mich dort auch nicht so unmittelbar). - Schon zu Mittag kriege ich die erste Probe. Der Reis ist alle; so macht Wolfgang mir etwas Grießbrei für Weber zurecht. Als ich ihm den ersten Löffel davon in den Mund schieben will, fängt er an zu spucken und schlägt mir die Schüssel aus der Hand, so daß der ganze Brei auf dem Fußboden liegt. Er will Reis . . . Als dann aber die Schwester dazu kommt und nach ihm sehen will, beschwert er sich bitterlich über “den bösen Sani, der ihm nichts zu essen gibt und sein Essen auf die Erde geschüttet hat . . .”. Nur gut, daß ich mich soweit mit ihr verständigen kann, dass sie den wirklichen Sachverhalt versteht. “Er ist doch ein kranker Mensch”, sagt sie, “da muss man warten, bis es besser wird . . .” - Immerhin kann er - wenn auch nur mit fremder Hilfe - schon den Eimer, den wir ihm hingestellt haben, benutzen; und wenn das auch heißt, dass einer von uns rennen muss, sowie er sich meldet, so bedeutet es doch andererseits, dass die Sauerei mit den vollgemachten Hosen und Bettlaken vorbei ist.

Dafür gibt es aber andere Quälerei genug. Wirklich, Quälerei - denn mit Arbeit und Krankenpflege hat das nicht viel zu tun. Wenn Weber Essen kriegt, das ihm gefällt, kann er wunderschön allein essen; gibt es aber etwas, was er nicht mag, dann lässt er sich füttern und stellt sich dabei ungeschickter als ein Flaschenkind an. Nachts muss bei ihm gewacht werden, damit jemand da ist, wenn er auf den Eimer muss (und Durchfall hat er nun mal immer noch); ssdas ist notwendig, das sehe ich ein. Es wird aber unnötig erschwert dadurch, da bei der Nachtwache auf keinen Fall Licht brennen darf - sonst kann er nämlich nicht schlafen - und daß man sich nicht bewegen darf - sonst fängt er sofort an zu schreien, man ließe ihn nicht mal in der Nacht in Ruhe. Am schlimmsten aber ist seine panische Angst vor Fliegen. Es gibt zugegebenermaßen unheimlich viele von diesen Viechern, und so habe ich, um ihm etwas Ruhe zu verschaffen, aus meinen Reservelaken um sein Bett so etwas Ähnliches gebaut wie ein Moskitonetz. Darunter ist es wesentlich ruhiger, aber so ganz dicht habe ich den Käfig doch nicht gekriegt; und wenn sich jetzt eine Fliege durch eine Ritze mogelt, dann alarmiert Weber alles, was in der Nähe ist - da ist eine Fliege, und die muss raus! Das Theater, das er dann macht, ist schon fast krankhaft; aber – “Er ist doch auch krank . . .”, sagt Schwester Toni . . . Sowie die sich sehen lässt, wird er nämlich sehr brav und vernünftig: “Schwester, wann fahre ich nach Hause?” - und sie sagt jedes Mal beruhigend: “Skoro, skoro . . .” (Bald, bald . . .).

Nach zwei Wochen haben wir es geschafft. Weber kann aufstehen, er kann (wenn auch vorerst nur am Stock) selbst zur Latrine gehen, er kann in eine der normalen Krankenstuben verlegt werden. Das wurde auch so langsam Zeit dazu; denn wenn ich mir auch immer wieder fest vorgenommen hatte, mich nicht aufzuregen und geduldig zu bleiben - in den letzten Tagen habe ich mich doch immer wieder dabei ertappt, dass ich ihm am liebsten den ganzen Krempel vor die Beine geschmissen hätte und weggelaufen wäre.

Nun habe ich endlich Zeit, all das aufzuarbeiten, was in den letzten 14 Tagen liegen geblieben ist - große Wäsche ist dringend fällig, denn Weber hat meinen gesamten Bestand an Bettwäsche in Benutzung gehabt (immerhin je drei Garnituren für vier Betten), dann muss dringend mal der ganze Fußboden gesäubert werden, weil sich der Herr ja durch die sonst übliche Morgenreinigung gestört fühlte (und Schwester Toni hat sich darauf eingelassen . . .), Fenster muss ich putzen, und eigentlich wollte ich den ganzen Isolator mal neu weißen . . .

Zu letzterem komme ich aber gar nicht mehr, denn Wolfgang (der Küchenchef) wartet schon auf mich. Ich verstünde doch was vom Umgang mit Blech - und die Küche hätte als Gefäße nur ausgewaschene Konservendosen -  und ob man nicht wenigstens an die Dosen Henkel oder Griffe - oder vielleicht noch besser aus dem Blech der Dosen Schüsseln und Näpfe - und es gäbe im Lager keinen sonst, der davon etwas verstünde . . . und ehe ich mich überhaupt richtig dazu äußern kann, bin ich vom “sanitar” zum “grashnik”, vom Krankenpfleger zum Klempner, umfunktioniert. Als Werkzeug kriege ich eine alte ausgediente Rosenschere, einen Hammer und ein drei Viertel Meter langes Stück Vollprofil-Eisenbahnschiene, das auf einer Seite sehr schräg abgeschnitten ist, in die Hand gedrückt, und dann soll ich am besten sofort anfangen . . . Schön und gut, aber erst muss die Schere geschärft werden, und einen Holzhammer muss ich mir auch noch machen. Die Eisenbahnschiene mag ja als Amboss und als Richtplatte angehen, aber um in die kleinen Dosen reinzukommen, brauche ich dann mindestens noch ein Stück Eisenrohr von so etwa 5 cm Durchmesser, und dann muss irgendwas zum Abmessen - meinetwegen ein Zollstock - und eine Reißnadel auch noch sein. Ich stelle fest: Kurt hat mir beim Zusehen voriges Jahr doch so einiges beigebracht; wenn das nun in der Praxis auch so gut geht . . .

Zunächst fange ich damit an, an die 2 1/2-Lbs-Dosen, die in der Küche reichlich vorhanden sind, Henkel anzunieten, damit sie ähnlich wie Kochtöpfe gebraucht werden können. Das geht ganz gut, wenn ich mir die Niete auch aus altem Leitungsdraht aus Aluminium selbst machen muss. Dann versuche ich, einige der Dosen, deren oberer Rand beim Öffnen sehr beschädigt worden ist, abzuschneiden und einen Draht einzubördeln. Das geht auch, die Töpfe werden dabei flacher und stabiler. Schließlich kriegen etliche der kleinen Blutwurstdosen einen Henkel wie ein Kaffeebecher und sind dann auch als solche zu gebrauchen; aber letztendlich bleibt mir nichts weiter übrig, als doch mal ein paar der großen Dosen zu Blechtafeln aufzuschneiden, diverse Versuche zum Anreißen - zuerst auf Zementsack und dann auf dem Blech - vorzunehmen und schließlich die erhaltenen Teile zu so etwas ähnlichem wie einer kleinen Schüssel von etwa einem halben Liter Inhalt zusammen zu falzen und zu -bördeln. Mir kommt das Ergebnis ja schief und krumm vor, und das ist es auch (der Boden ist wellig, und die eine Seite ist viel schräger als die andere), aber Wolfgang ist begeistert: “Genau das ist es, was wir in der Küche brauchen . . .”.  Na, und die zweite gefällt mir dann schon besser, und ich fertige mir Schablonen für das Anreißen an, und schaffe dann am Tag zwei bis drei Stück davon und stelle so meine Existenzberechtigung als “Lagerklempner” unter Beweis.

Nebenbei kommt immer wieder mal einer von den anderen Kumpels - Henkel am Kochgeschirr abgegangen, Essnapf hat ein Loch, oder aber: “Kannst Du mir an meine Konservendose einen Handgriff machen?” (weil er irgendwann mal sein Kochgeschirr verscheuert hat und nun aus dieser Konservendose isst . . .) - na ja, und jedem wird geholfen. Man ist eben der Lagerklempner, und der war bisher in jedem Lager, das ich kennen gelernt habe (im Ganzen drei) ein unbedingt wichtiger Mann.

Und plötzlich geht dann eines Tages aus völlig heiterem Himmel der Transport . . . Fünfzig Mann von uns, und Willi Weber fährt tatsächlich mit. Eigentlich müsste ich ihm ja ewig böse sein, wegen der vielen Schinderei, die er mir gemacht hat; aber nun - soll er fahren, ich gönne es ihm . . .

Es fährt aber noch jemand mit, den ich viel lieber hier behalten hätte: Rudi ist auch bei den 50 Mann dabei. Das kann der doch nicht machen, der kann mich doch nicht einfach hier alleine lassen . . . Aber der lässt mich hier allein, im wahrsten Sinne des Wortes; er hat sich nämlich selbst entlassen.

Das kam so: Es fing damit an, dass Schwester Toni plötzlich und völlig ungewohnt eine Kommissionierung angesetzt hat. Ungewohnt deswegen, weil alle Insassen des Erholungslagers automatisch als “OK” geführt werden und somit Arbeitsgruppen, wie in den Arbeitslagern, und also auch Kommissionierungen bei uns gar keine Rolle spielen. Also - nach dem Frühstück alles antreten, und Mann für Mann ausziehen, vor die Schwester und den Arzt, bestaunen lassen und wieder raus. Rudi, als der langgeübte Karteiführer, musste mit der Lagerkartei daneben sitzen und nach Anweisung der Schwester und im Ergebnis der Untersuchung die Karten sortieren - zwei Haufen, und davon einer merklich kleiner als der andere, und in den kleineren Haufen kamen immer Karten von Leuten, die deutlich schlechter aussahen als die übrigen. Das kam ihm bedeutsam vor, und so hat er's riskiert und seine eigene Karte in den kleineren Haufen gesteckt - und keiner hat das gemerkt (oder merken wollen) - und nun ist er weg. Erzählt hat er mir die ganze Geschichte noch – “Aber unbedingt Maul halten . . .!” und sich entschuldigt, daß er das nicht auch mit meiner Karte gemacht hat – “ . . . Das wäre doch sicher aufgefallen!” - und hat seine Sachen gepackt und ist aus dem Tor mit raus marschiert. “Aber ich schreibe zu Dir nach Hause, unbedingt!”.

Am nächsten Tag werden die freigewordenen Plätze gleich wieder belegt. Ein ganzer Schub Neue ist aus dem Lazarett gekommen, und dabei ist - endlich! - ein Friseur. Bisher musste immer mittwochs der Lazarettfriseur zu uns kommen, und wenn ich auch bis jetzt mit dem Rasieren noch keine Probleme habe, so laufen doch die meisten von uns nach sieben Tagen Warten wie die Räuber herum. - Der Friseur heißt Hugo, stammt aus Köln, wird wegen seiner langen dünnen Figur “Schmal” genannt, ist schon seit Anfang 44 in Gefangenschaft und zieht in die Sanitäterstube, in der ich zur Zeit als einziger liege, mit ein.

Heute ist endlich auch für mich mal eine der begehrten Postkarten abgefallen, die seit dem Frühjahr so etwa in Abständen von vier Wochen verteilt werden. Leider gibt es immer viel zu wenig davon, aber jedes Mal wird gesagt “ . . . beim nächsten Mal mehr!” - Da fällt mir ein - das ist ja gar nicht die erste; in meiner Küchenzeit drüben im Lazarett, als ich vor Arbeit nicht wusste, wo mir der Kopf stand, da hatte ich doch schon mal eine . . . Dass man das vergessen kann? Aber sicher liegt das daran, dass ich ja damals kaum zum Schlafen gekommen bin . . .

Was schreibt man denn nun auf so eine Karte? Es gäbe ja so viel, was man denen zu Hause zu berichten hätte, aber - es sollen nur 25 Worte sein. In Druckschrift, keine Abkürzungen, keine unverständlichen Stellen, keine Angaben darüber, wo man sich aufhält oder besser, wo man aufgehalten wird; na, und dass man zweckmäßigerweise nicht schreibt, was einem nicht gefällt, das versteht sich ja wohl von selbst. Da bleibt schließlich nur: “Ich lebe, es geht mir gut, ich hoffe, Euch auch, schreibt mir mal . . .” - und das habe ich schon auf der ersten Karte geschrieben. Also bin ich frech und riskiere es, und schreibe die Karte von oben bis unten voll. Mehr als sie festhalten oder zurückschicken können die sie ja schließlich nicht.

Unsere Stube, in der wir bisher zu zweit untergebracht waren, wird nun auch neu belegt. Sie bleibt zwar Hugos “Frisiersalon”, aber einige Leute mehr müssen wir schon aufnehmen; im Lager sind jetzt wieder 300 Mann . . . Bei dem neuen Schub sind zwei der Holzhacker von drüben, die für Küche und Lazarettbäckerei gearbeitet haben, und mein Nachfolger in der Lazarettküche; was liegt näher, als dass sie als mehr oder weniger Bekannte zu uns mit einziehen? So kommen der Heinz, Kohlenhändler aus Charlottenburg, der Heiner, Glasbläser aus Weißwasser, und der Otto, aktiver Luftwaffenfeldwebel und in Oschersleben zu Hause, mit in unsere Stube; und da der Lagertischler, der bisher in seiner Werkstatt auf dem Boden geschlafen hat, auch Wintervorbereitungen trifft und ein wärmeres Quartier sucht, sind wir schließlich sechs Mann.

Dafür reichen aber die vorhandenen Schlafgelegenheiten nicht mehr aus, und so wird umgebaut. Wenn aber - dann gleich richtig zum Wohlfühlen, zumal ja der Tischler dabei ist. Drei im Karree gestellte Doppelstockbetten, davor drei Bänke und ein Tisch, und ein Friseursessel mit Nackenstütze für Hugo. Da kann ich als Lagerklempner natürlich nicht zurückstehen, opfere einen Viertelquadratmeter Duralblech, den ich in den Plantagen gefunden und immer für etwas Besonderes aufgehoben habe, und bastele uns eine Öllampe mit drei Flammen und einem richtigen Reflektorschirm, die an einer Kette aus kupfernem Leitungsdraht direkt über dem Tisch aufgehängt wird. Nun sieht die Bude fast aus wie ein Seemannslogis. Otto besorgt ein Stück Stahlplatte und repariert den kleinen Kochherd, der zum Zimmer gehört - nun kann von uns aus Winter werden . . .

Daran ist aber vorläufig noch lange nicht zu denken - wir haben doch erst August . . . Rings um das Lager werden die Äpfel reif; ein Kommando geht schon zum Pflücken, und die Kumpels bringen ab und zu auch mal einen Apfel mit. Das soll eigentlich ja nicht sein, nur bei der Arbeit darf man essen, so viel man vertragen kann; aber mittlerweile sind die Plenis in solchen Dingen geschickt geworden, und so findet denn immer wieder mal ein Apfel für geleistete Dienste (wozu ist man “Handwerker”?) in unsere Stube, trotz Kontrolle auf der Plantage und am Lagertor.

Immer mehr Äpfel werden reif, und das Pflücken wird zur Hauptbeschäftigung unserer Arbeitskommandos. Auch vom Lagerdienst geht nun alles, was irgendwie entbehrlich ist, mit raus; nur das Küchenpersonal und der Klempner bleiben noch im Lager. Für den Klempner - also für mich - gibt es einen Sonderauftrag. In der Wachbude soll nämlich ein neuer Ofen gesetzt werden, und den wünscht sich der Wachoffizier mit einer richtigen Ofenröhre mit einer Tür davor, wie zum Bratäpfelmachen. Na, und da ich ja als Klempner geführt werde, soll ich so etwas anfertigen. Material? Überall in den Plantagen liegt doch die halbe deutsche Wehrmacht rum, und das ist doch alles aus Eisenblech . . . und raus lassen will er mich, damit ich mir etwas davon aussuchen kann, und hat mir das sogar schriftlich gegeben, als Ausgangsschein . . .

So gehe ich denn also Material suchen. Viel Erfolg habe ich aber nicht dabei; das meiste sind Autoreste, und die sind schon von Natur aus immer irgendwie gewölbt, abgesehen davon, dass sie meist Löcher von vorausgegangenen Schießereien haben. Das Günstigste, was mir in die Finger fällt, sind ein altes 200-Liter-Dieselfass und ein paar verknautschte Stücken Dachblech. - Ich stelle mir so vor, was Kurt wohl dazu sagen würde, wenn er mich sehen könnte. Damals meinte er immer, wenn das Klempnern auch einfach aussähe, so müsse es doch gelernt sein . . . Nun wird sich herausstellen, ob ich bei ihm etwas gelernt habe . . .

Die Schwierigkeiten fangen schon damit an, dass meine alte Rosenschere das Blech der Tonne gar nicht schneidet. Viel zu klein . . . Ja, die große Ständerblechschere von NKWD vom letzten Winter müsste ich jetzt haben; aber so muss ich die ganze Tonne aufmeißeln, und das macht zwar einen Riesenradau, dauert aber eine kleine Ewigkeit; na, und als ich dann endlich Boden und Deckel raus und die Seite aufgetrennt habe, ist das Richten auch nicht viel leiser. Alle paar Stunden kommt der Wachoffizier und guckt, wie weit seine Bratröhre ist, und große Erfolge kann ich ihm beim besten Willen nicht vorweisen . . .

Beim Abendbrot sagt der Heinz zu mir: “Ich bin zwar kein Klempner, sondern nur Kohlenhändler; aber wie Du das mit der Tonne schaffen willst, ist mir absolut unklar. Was würdest Du denn von dem Gemüsekessel aus einer deutschen Feldküche halten?” - Das wäre natürlich die fertige Lösung meines Problems - hat er so etwas? “Wo wir jetzt pflücken, neben der gesprengten Ziegelei, liegen die Reste von so einer Gulaschkanone in einer abgesoffenen Lehmgrube. Du müsstest Dir das mal ansehen und eventuell den Kessel ausbauen . . .”.

So marschiere ich denn am nächsten Tag mit dem Kommando, bei dem Heinz und Heiner arbeiten, mit. Der Posten lässt mich gehen, als er etwas von “Material suchen” hört, und ich laufe mit durch die ganze Plantagenanlage, denn die Ziegelei ist ja kurz vor dem Lazarett, die kenne ich ja noch vom Brennnesselsammeln. Damals ist mir die Feldküche gar nicht aufgefallen; aber damals war ich auch noch kein “Klempner” . . .

Sie ist aber da, und wenn sie auch zur Hälfte im Wasser liegt, so ist doch der Gemüsekessel noch relativ gut erhalten; die Emaille ist an einigen Stellen abgeplatzt, aber sonst hat er keine Beulen, und der Deckel hängt noch fest in den Scharnieren und kann auch noch richtig zugeschraubt werden. - Ich habe Hammer, Meißel und ein paar alte Schraubenschlüssel, die sich beim Blechsuchen unter den Schrotthaufen gefunden haben, mitgebracht und versuche, den Kessel auszubauen. Schrauben zu lösen, erweist sich als unmöglich - alles total festgerostet. Bleibt nur, die Schraubenköpfe abzumeißeln, und das geht denn besser, als ich gedacht habe, weil die Feldküche mit ihrem Chassis offenbar fest in den Lehm eingespült ist und sich nicht von der Stelle rührt. Na, und daß ich dabei bis zum Bauch im Wasser arbeiten muss, stört nicht weiter, denn es ist herrliches Badewetter. So bin ich denn doch noch zum Baden gekommen, wie ich mir das auf dem Marsch hierher vorgestellt habe . . .

Als ich die letzte Schraube geköpft habe, lässt sich der Kessel ganz leicht herausnehmen, und er ist auch nicht so schwer, wie ich befürchtet habe. So kann ich ihn allein ins Lager zurücktransportieren; und als der Wachoffizier ihn sieht, weiß er sofort, was das sein soll, und ist hell begeistert und schenkt mir eine ganze Schachtel Zigaretten. Die lasse ich für meinen Geburtstag, dann kann ich damit “Gäste” bewirten; ich selbst rauche doch gar nicht . . .

Das ist denn aber auch meine letzte Arbeit als Lagerklempner gewesen, und am nächsten Tag darf ich auch Äpfel pflücken gehen. Ich stelle mich zu der Brigade, mit der auch Hugo rausgeht, damit ich nicht so allein bin, und so geht es in die Plantagen.

Es ist wirklich eine Freude, sich die Apfelbäume in den einzelnen Parzellen anzusehen. Ein Apfel am anderen, goldgelb und zuckersüß und butterweich. Wir dürfen tatsächlich essen, soviel wir wollen - und man sollte nicht glauben, wie viel man will, wenn man (abgesehen von den paar, die sich zu uns in die Stube verlaufen hatten) seit zwei Jahren keinen Apfel mehr gesehen hat . . .

Hugo und ich überlegen: Äpfel mitnehmen ist verboten. Trotzdem - es wäre doch schön, wenn man abends im Lager auch noch was zu knabbern hätte . . . Also stecken wir uns kurzerhand die Hosentaschen voll - und werden alles wieder los. Der schnauzbärtige Kriegsveteran, der uns bewacht und mit dem ich mich vergeblich bemüht habe, ins Gespräch zu kommen, kontrolliert jeden und lässt alle Äpfel, die er findet, wieder ausräumen.

Am Abend suche ich mein Messer und finde es schließlich zwischen dem Tuch und dem Futter meines Fahrermantels. Die eine Tasche hat ein Loch, und da ist es durchgerutscht. Wo das Messer sich verkrochen hat, müsste eigentlich auch Platz für ein paar Äpfel sein, denke ich mir - und gehe am nächsten Tag trotz wunderbaren Sommerwetters mit dem Mantel zur Arbeit. Ich schwitze ja denn auch nicht schlecht, aber - es klappt; der Alte kontrolliert die Hosentaschen; an die Schöße meines Mantels denkt er nicht, und so gehen ein paar Äpfel mit.

Die Arbeit, die wir da draußen verrichten, macht richtig Spaß. Mit dem “Veteranen” (er hat tatsächlich auch schon am Krieg 14/18 teilgenommen, und allein aus dem letzten Krieg hat er 5 Verwundetenlitzen, zwei rot (leicht verwundet) und drei goldene (für schwere Verwundungen) - mit ihm also komme ich jetzt recht gut klar. Immerhin hat er mich zum Dolmetscher der Brigade befördert – “On budjit perewotschik, on choroscho ponemajut po-russki . . .”, wenn ich auch die Späße, die er immer wieder mal loslässt, kaum verstehe. Dafür kreischen die Mädels, die die Äpfel in Körbe sortieren, jedes Mal los, wenn er was sagt. Behandelt werden die Äpfel, als wenn sie aus Glas wären – “promalo, promalo . . .”, auf Deutsch “langsam und vorsichtig” - keiner darf eine Druckstelle haben, und in den Körben wird zwischen die einzelnen Lagen Heu gelegt, das extra zu diesem Zweck in die Plantagen gebracht wird.

Vom Verpflegungsempfang im Stab hat Wolfgang, der Küchenchef, mir ein Stück Zementsack von einem der Lazarettinsassen mitgebracht. Ein Brief - von Kurt! Er liegt mit einem gebrochenen Unterschenkel im Lazarett und fragt an, ob ich ihn wohl mal besuchen könne. Mal sehen, wie sich das - vielleicht beim nächsten Besuch in der Banja - organisieren lässt; fürs erste schicke ich ihm mit Wolfgang einen ganzen Brotbeutel voll Äpfel rüber . . .

Von der Plantage werden die Apfelkörbe mit Pferdewagen in den Lagerschuppen gefahren und dort von älteren Frauen nach Größe umsortiert, mit einem Tuch poliert und neu verpackt. Die gehen nach Minsk und nach Kiew, hat man uns erzählt, und nur, was angeschlagen ist, bleibt hier und wird bei “Spartak” zu Marmelade (“Konfitjur”) verarbeitet. Wenn der Pferdewagen dorthin fährt, nimmt die Kutscherin immer ein paar von uns zum Abladen mit, und so komme denn auch ich eines Tages in dieses Heiligtum.

Als ich den ersten vollen Korb im Schuppen absetze, sieht mich eine der älteren Packerinnen an, bleibt wie erstarrt stehen und fängt an zu weinen. Dann fasst sie mich beim Arm, und zieht mich aus dem Halbdunkel des Schuppens hinaus ans Licht. Was will die denn von mir? Sie hält mich immer noch fest und weint immer stärker, und dann kommen die anderen Frauen, reden auf sie ein und machen mich los. Mir ist das ganze ziemlich unverständlich; aber als wir zurückfahren in die Plantage, macht mir die Kutscherin klar: Der Sohn dieser Frau ist im Krieg gefallen, und er hat mir wohl ähnlich gesehen; jedenfalls hat es bei ihr Erinnerungen gegeben . . . Hier hat wohl jeder in irgendeiner Weise unter dem Krieg gelitten, und wir - als die Urheber alles diesen Leids - werden sicher nicht sehr gern gesehen sein; und trotzdem passiert es nur sehr selten, daß wir das merken . . .

Wie dem auch sei - daß wir hier festgehalten werden und das Land wieder mit aufbauen sollen, hat sicher seine Berechtigung, und wenn es auch nicht sehr schön ist, so sehe ich doch keinen Grund, “die Russen” nun dafür zu hassen, wie das neulich einer im Gespräch gesagt hat: Ganz egal, bei wem - wenn es wieder Krieg gegen die Russen gäbe, würde er sich freiwillig melden . . .

Äpfel, Heu, Lupinen, Hafer, Roggen, Weizen, Gurken, Tomaten, und noch einmal Äpfel und immer wieder Äpfel - überall wird geerntet! Ich bin mal hier und mal da, mähe Lupinen, die als Zwischenfrucht zwischen den Apfelbäumen ausgesät sind, stelle Hafer und Roggen mit auf und lerne dabei Garben binden, sortiere Gurken und Tomaten und finde immer wieder etwas, was ich noch nie gemacht habe und was ich lernen muss. Als ich das erste Mal mähen sollte, hatte ich mehr Maulwurfshaufen und Äpfel auf der Sense als Lupinen, und jetzt geht das doch schon recht gut; meine ersten Garben sind mir schon auf dem Wege zum Aufstellen in den Mandeln auseinandergefallen, aber jetzt halten sie sogar, wenn man sie schüttelt - ich werde noch richtig zum Landarbeiter . . .

Zwischendurch ist dann auch der fällige Badetag endlich dran, und ich packe für Kurt wieder einen Brotbeutel voll - Äpfel, Gurken, Tomaten . . . Dann gehe ich mit dem ersten Schub mit rüber und komme erst mit den letzten zurück; so habe ich einen halben Tag Zeit, um Kurt zu besuchen. Er liegt in Stube 2 im Lazarett, das linke Bein dick im Gips - doppelte Unterschenkelfraktur, Schienbein und Wadenbein glatt durch; beim Abladen von Langholz vom LKW (“Du hattest recht damals, Transportkommando ist wirklich das einzig Wahre!”) zwischen die Stämme gekommen. Nur gut, dass es nur den Unterschenkel erwischt hat; weiter oben wäre wesentlich gefährlicher geworden, Becken oder Brustkorb . . . Die Heilung geht gut voran, sagt der Stubensani. - Kurt erzählt, was aus dem Lager 11 geworden ist: im März aufgelöst und zur “Selmasch”, zum Landmaschinenwerk, umgezogen; dann von dort aus auf dem Bau im Stadtbad weitergearbeitet, im Sommer zum großen Teil auf Transport gegangen – “wahrscheinlich nach Hause, aber genau wissen tut das keiner . . .” -  Na ja, und er dann also Transportkommando, Unfall und jetzt hier. Von meinen Bemühungen als “Klempner” nimmt er grinsend Kenntnis – “Das möcht' ich gesehen haben, wie Du Dich mit dem Dieselfass herumgebalgt hast . . .” - und auf die Lösung der Eimeraufgabe ist er mittlerweile auch gekommen – “Hab' doch genug Zeit gehabt hier . . .” - Über den Brotbeutel voll “Gemüse” freut er sich riesig. So gut das Essen im Lazarett auch ist - etwas Frisches als Zubrot kommt immer an.

Das Getreide wird gleich auf den Feldern zu großen Schobern zusammengefahren, und dabei lerne ich, wie man einen Erntewagen packt . . . Und dann wird gedroschen. Die Dreschmaschine (“der Dreschkasten”) wird an den Schober herangefahren, ein transportabler Dieselmotor daneben gestellt - und los geht's.

Anfangs habe ich mich gewundert, wie bereitwillig mir die anderen Kumpels den Platz beim Einlegen oben auf der Dreschmaschine überlassen haben (ich wollte mich vor dem Garbenstaken von unten nach oben drücken . . . ); aber nach zwei Tagen dort oben ist mir restlos klar, warum, und ich trete die Arbeit gern an einen anderen, der neu ist und sich danach drängelt, ab. Das Einlegen an sich ist leicht, man braucht nur aufzupassen, dass die offene Garbe schön gleichmäßig ausgebreitet wird, und die Bunde zu öffnen, ist auch einfach und geht schnell; aber die Maschine schüttelt einen, als ob man Schüttelfrost hätte, und sie entwickelt einen Staub, daß man kaum Luft holen kann . . . Da hilft auch kein nach Beduinenart um den Kopf geschlungenes Handtuch; man schluckt so viel Dreck, dass man den ganzen Abend zu kauen und zu würgen hat, und als ich nach dem zweiten Tag auch noch nachts vom Dreschen träume und im Traum in Fluten von Hafer zu ertrinken drohe - wie gesagt, da räume ich den Platz freiwillig und suche mir eine andere Brigade.

Wir ziehen wieder mal mit der Sense los und sehen uns fragend an - denn dort, wo wir hingehen, liegen doch keine Getreidefelder, und die Lupinen sind doch schon alle gemäht? Die werden uns doch nicht etwa Heu machen lassen? Vor dem Grasmähen habe ich nämlich einen Heidenrespekt. Gras ist so weich und liegt so unregelmäßig, da macht das Mähen keinen Spaß . . .

Es wird aber zum Glück kein Gras, sondern Kartoffelkraut gemäht; das Kraut soll runter, damit es beim Auspflügen der Kartoffeln nicht im Wege ist. Kartoffeln . . . Die fehlen uns noch auf unserem Speisezettel, die hatten wir bisher noch nicht . . . Und das schönste ist - hier kommt auch gar keiner auf die Idee, daß wir die mitnehmen könnten, und so kriege ich beide Hosenbeine voll mit ins Lager, und in der Stube herrscht helle Begeisterung.

Beim Essen am Abend kommt Hugo ein Gedanke. Wir müssten uns so auf die Brigaden verteilen, daß jeder etwas anderes mitbringen kann, und dann am Abend alles zusammenlegen . . . Bisher haben wir dem Zufall überlassen, was wir uns zusätzlich zum Abendbrot leisten konnten; das lässt sich doch aber auch planen . . .

Und dann kommt ein Tag, der ist so schön - und so merkwürdig - daß ich mich sicher noch daran erinnern werde, wenn ich hundert Jahre alt werden sollte . . . Mittags kam “Frietzchen” ins Lager. “Frietzchen” - das ist der Spitzname des Starschinas von der Politverwaltung (also wohl so etwas wie ein NSFO, ein NS-Führungsoffizier, bei der Wehrmacht), der für uns zuständig ist und der sich viel mit uns unterhält. Er spricht zwar nicht ohne Akzent, aber doch recht gut Deutsch, und das hat ihm auch zu seinem Spitznamen verholfen: als jemand von ihm behauptet hat, er spräche fast so gut Deutsch wie wir, hat er geantwortet: “Bin ich nicht riechtiger Frietz - bin ich bloß klainer Frietzchen!” - Mittags also kam “Frietzchen” ins Lager; und wenn er kommt, hat das fast immer mit Post nach Hause oder mit Post von Zuhause zu tun, denn die Post fällt unter seine Aufgaben. Diesmal hat er Post gebracht, und der Lagerführer lässt antreten; die, für die eine Postkarte da ist, werden aufgerufen, gehen nach vorn und holen sich ihre Karte bei “Frietzchen” ab (das sind so etwa 15 Mann) - und dann gibt es Essen.

Ich setze mich zum Essen auf die Bank, die der Jupp, der Tischler, neben den Eingang zu unserem Flur gestellt hat, und will gerade anfangen, da kommt “Frietzchen” und fragt: “Darf ich bei Dir sitzen?” - Warum sollte er das nicht dürfen? Ist doch Platz genug . . . “Aber bitte!”, sage ich. Offenbar ist ihm wieder mal danach, seine Deutschkenntnisse vorzuführen; er sagt: “Warum siehst Du so traurig?” - Mir ist gar nicht bewusst, traurig auszusehen, aber wenn er schon so fragt – “Weil ich keine Post habe!”, sage ich auf's Geradewohl. Worüber soll ich mich sonst mit ihm unterhalten? – “Hast Du keine Post? Wie ist Deine Name?” – “Petersen, Siegfrid Ernestowitsch!” – “Und hast Du keine Post? Hab' ich aber gesehen Post für Petersen Siegfrid Ernestowitsch, hab' ich doch . . .” - Ich denke schon, er will mich veralbern, und widme mich ganz meinem Kochgeschirr - da holt er seine Brieftasche aus dem Uniformrock, klappt sie auf, nimmt eine Postkarte raus und überreicht sie mir: “Hier ist Deine Post . . . gute Post, schöne Post!”.

Es ist tatsächlich gute Post. Alles in Ordnung, Kriegsende gut überstanden, nichts kaputt, keiner verloren gegangen - ich bin vermutlich nicht nur einer der wenigen, die das von sich sagen können, sondern bestimmt der einzige im ganzen Lager, der zu Hause mehr vorfindet als vorher: Meine Mutter hat wieder geheiratet . . .

Heute habe ich eine wilde Diskussion mit Otto gehabt. Trotzdem er aktiver Feldwebel bei der Luftwaffe gewesen ist, behauptet Otto, immer schon Sozialdemokrat gewesen zu sein, und fühlt sich berufen, mich über die Zeit vor 1933, also über das, was bei uns in der Schule “Republik von Weimar” genannt wurde, aufzuklären. Wenn ich ihn so höre, muss ja damals Milch und Honig nur so geflossen sein; das passt nur nicht dazu, dass eine der wenigen richtigen Erinnerungen, die ich an diese Zeit habe, die Schlangen vor der Stempelstelle sind, in der sich mein arbeitsloser Vater jeden Donnerstag einzufinden hatte und wozu er mich Vierjährigen gelegentlich mitnahm . . . Sieben Millionen Arbeitslose soll es gegeben haben, erinnere ich mich; aber “die hat es immer gegeben, und die muss es geben, sonst floriert die Wirtschaft nicht” und “was die hier machen, kannst Du nicht ernst nehmen, das ist doch alles nur Theater” - frag' ich mich nur, wofür die hier das Theater machen, und warum es schlecht ist, wenn es bei diesem Theater keine Arbeitslosen gibt - und schließlich lässt er mich stehen, weil “ich für solche Diskussionen noch nicht reif bin . . .”.

Als ich hinterher in einem ruhigen Moment versuche, mit Heinz, der die ganze Zeit nur zugehört hat, zu sprechen, lacht der. “Mensch”, sagt er, “nimm' bloß nicht ernst, was der da gesülzt hat! Ich hab' mich nie viel um Politik gekümmert; aber Weimar - das war's nun wirklich auch nicht. Die Alten, die den Staat damals in Weimar gegründet haben, mögen sich ja schließlich noch was dabei gedacht haben; aber - was dann draus geworden ist . . . Da waren ja nicht nur die Arbeitslosen; sogar Hitler war in der Weimarer Republik möglich! - Na, und die SPD - sieh Dir doch bloß den Otto selbst an: “uralter” SPD-ler, und 1935 sofort aktiv in die Wehrmacht, und heute rechnet er immer wieder, ob der Krieg seine aktive Zeit so berechnen lässt, daß es zu einem Versorgungsschein reicht . . . Wie gesagt, nimm' den bloß nicht ernst!”.

Bei solchen Diskussionen stelle ich immer wieder fest, dass ich eigentlich von der deutschen Geschichte viel zu wenig - um nicht zu sagen: gar nichts - weiß. Die “Judenrepublik von Weimar” - das war 1919, das habe ich gelernt, und zur Weimarer Verfassung gab es zwei Sondermarken von der Reichspost, die hatte ich; aber warum “Judenrepublik”, und was davor war, das ist ziemlich unklar. Man müsste was darüber zu lesen haben, und wenn schon nicht darüber, dann wenigstens etwas anderes, was einem die vielen Fragen beantworten könnte . . .

Der Lagerführer, der Wolfgang , hat ein einziges Buch insgesamt, und das will er mir gerne borgen, wenn es mich interessiert - ein einzelner Band aus einer größeren Sammelausgabe, Karl Marx und Friedrich Engels, Gesammelte Werke, Briefwechsel Band III. Mal sehen - immerhin garantieren die Namen der beiden Verfasser, dass ich bisher nichts von ihnen in den Händen gehabt habe.

Das letzte Mal, dass ich in einem Buch gelesen habe, war vor mehr als einem Jahr, kurz nach der Ankunft in Gomel; damals habe ich aus der großen Filzerei das Lexikon gerettet. Lange habe ich mich nicht dran freuen können; schon im Herbst war es eines Tages verschwunden, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Wahrscheinlich geklaut . . . Na ja, so ganz ehrlich hatte ich es ja auch nicht “gefunden” . . . Jetzt will ich also wieder lesen. Anfangs macht mich das Durcheinander der Buchstaben auf den Seiten ganz nervös, und ich habe immer die komische Vorstellung, sie müssten jeden Augenblick anfangen, durcheinander zu krabbeln, wie Ameisen oder Läuse . . . Aber mit der Zeit gewöhnen sich meine Augen wieder daran, die einzelnen Zeilen entlang zu wandern und Wort für Wort aufzunehmen, und ich fange an zu begreifen, was da eigentlich auf der Seite vor mir steht. Das heißt - ich verstehe zwar die einzelnen Wörter, aber den Text verstehe ich nur in seltenen Fällen, dann, wenn es sich um ganz einfache Dinge handelt, wie darum, dass der eine Geld braucht und der andere es ihm schicken will, und daß es angekommen ist . . . Alles übrige liegt irgendwie außerhalb meines Horizontes; und dabei habe ich mich für halbwegs gebildet gehalten . . .

Das fängt schon damit an, dass der Marx seine Briefe in mindestens fünf Sprachen gleichzeitig schreibt; davon ist Deutsch klar, Englisch mag angehen, Latein klappt eben noch so - aber bei Französisch und Italienisch muss ich passen, da hab' ich keine Ahnung. Dann gibt es eine Unmenge Fremdwörter, von denen ich mir die wenigsten erklären kann - die große Mehrzahl habe ich bisher noch nicht einmal gehört, geschweige denn gelesen . . . Und schließlich schreiben sich die beiden immer wieder ihre Gedanken über die Ansichten irgendwelcher Dritter, und da ich diese Dritten nicht mal dem Namen nach und ihre Ansichten schon gar nicht kenne, kann ich auch mit der Meinung von Marx oder Engels dazu nichts anfangen . . . Also gebe ich den Versuch auf, mich auf diesem Gebiet zu bilden, und gebe Wolfgang das Buch zurück.

Nebenbei - oder besser: in der Hauptsache - geht die Arbeit in den Plantagen immer weiter. Die letzten Äpfel sind gepflückt, die Kartoffeln sind raus, mein Geburtstag ist auch schon wieder eine Weile vorbei - mit großem Festessen, das sich aber bei dem zur Zeit herrschenden Überfluss kaum von dem Essen anderer Tage unterschied, und mit großer Begeisterung, als ich meine Gäste mit den Zigaretten bewirtet habe - und nun haben wir schon Mitte Oktober. Nachts ist es schon empfindlich kalt, und auch die Tage werden nicht mehr so richtig warm. Wir ernten das letzte Gemüse - Rote Bete und Weißkohl.

Was sie mit uns wohl machen werden, wenn die Ernte vorbei ist? Die umgehenden Parolen sind unterschiedlich. Dass wir dann nach Hause kommen, ist möglich, erscheint mir aber nicht sehr angebracht. Es muss jetzt schon ziemlich kalt sein in einem Güterwagen, und die Fahrt dauert doch mindestens 14 Tage - wer weiß, wie wir da zu Hause ankommen würden . . . Eher kann ich mir schon vorstellen, dass man uns in irgendein anderes Lager verlegt. Wenn ich mir eins aussuchen dürfte, ginge ich mit Hugo in sein altes Lager, ins Fleischkombinat nach Nowo Beliza. Soweit ich das aus seinen Erzählungen kenne, müsste dort die richtige Gelegenheit zum Überwintern sein . . .

In unserer Bude ist es jetzt abends urgemütlich. Dank alter Beziehungen habe ich aus dem Lazarett so an die 40 leere Schachteln von Vitaminpillen organisieren können, die dort ausgegeben worden sind. Mit Hilfe von Rudis Schreibzeug, das ja im Revier geblieben ist (lila Tinte und ein Federhalter mit Stahlfeder), unserem alten Bleistiftstummel und einem kleinen Rest Rotstift, der sich bei Heiner angefunden hat, haben wir daraus ein Skatblatt fabriziert, 32 Karten, ganz wie sich das gehört; nur die Bilder haben wir nicht so recht hingekriegt, da haben wir daneben geschrieben, was sie darstellen sollen.

Wenn nun der Ofen unter der privaten Ernte des Tages bullert und meine Lampe mit sämtlichen drei Flammen strahlt, kann man mit allem Drum und Dran Skat kloppen oder Schach spielen (denn ein Schachspiel, wie es damals Kurt gebastelt hatte, gibt es natürlich auch), oder einfach auf der Pritsche (fast schon wie ein Bett . . .) liegen und zuhören, was die anderen so zu erzählen haben . . .

Aber das war schon immer so: Wenn es irgendwo richtig gemütlich wurde beziehungsweise, wenn man sich so richtig eingelebt hatte, dann musste man weiter. So ist es hier auch. Man hat zwar schon eine Weile davon geredet; aber nun ist es so weit: Unser Lager wird aufgelöst. Für den Winter geht es in die Stadt. Na ja, so richtig winterfest ist unser Blockhaus ja wohl auch nicht, und richtige Arbeit gibt es für uns eigentlich in den Plantagen auch nicht mehr. Also heißt es umziehen . . .

Umgezogen wird wieder zu Fuß; dann kann es wohl nicht sehr weit gehen. Alles rätselt herum, welches der Lager in der Stadt da wohl in Frage kommt; bisher können wir aus der Richtung unseres Marsches noch nicht auf etwas Bestimmtes schließen. - Die Stadt selbst hat sich in dem Dreivierteljahr, das ich sie nicht zu sehen gekriegt habe, doch ziemlich verändert. Eine ganze Reihe von Häusern, für die ich damals die Fenster mit abliefern durfte, sind fertig und bezogen, an anderen, die ich immer nur als Ruinen gekannt habe, wird fleißig gearbeitet, oder man hat die Reste ganz weggeräumt. Unser altes Lager 11 im Stadtbad ist nicht mehr wiederzuerkennen; ich glaube, dort wird bald wieder gebadet werden . . .

Wir ziehen wirklich durch die ganze Stadt, die lange Sowjetskaja Wuliza entlang, vom Flugplatz bis zur Soschbrücke, und dann über die Brücke hinweg - also nach Nowo Beliza! Da gibt es doch nur noch zwei Möglichkeiten: das Lager im Sägewerk (nach den Berichten von Kumpels, die da mal hergekommen sind, nicht so besonders) - oder tatsächlich das Fleischkombinat, von dem Hugo immer so geschwärmt hat . . .

Am Ende ist es dann das Fleischkombinat. An sich nicht schlecht; aber nach unserem Sommer auf dem Lande kommt mir alles so eng und verbaut und dunkel vor, und fremd, und wieder dreifacher Stacheldraht drum herum, und Sanitäter oder Klempner werden die sicher schon haben . . . Aber dafür müsste doch die Arbeit auf einem Schlachthof eigentlich recht nahrhaft sein?

Von wegen - nahrhaft! Streichholzfabrik “Roter Stern”, Ladekommando - Erlenstämme von Güterwagen abladen. Die Arbeit in der Streichholzfabrik an sich ist zwar recht interessant - bisher habe ich nicht gewusst, wie Streichhölzer hergestellt werden -, aber sie bringt nichts weiter ein, wenn man nicht den Ausschuss an Streichhölzern, der in einem Schuppen liegt, rechnen will.

Die zünden nämlich meistens noch; zwar meist mit einem kleinen Feuerwerk, aber den Rauchern im Lager ist auch damit gedient, und so zahlen sie mit dem, was ihr Arbeitsplatz im Schlachthof (denn nur wir Neuen müssen in die Streichholzfabrik) so hergibt: ein Stück Leber oder andere Innereien, ein Kochgeschirr voll Blut (“Die Blutwurst kannste Dir selber kochen . . .!”) oder ein paar Markknochen.

Anlässlich des Feiertages zur Oktoberrevolution wird das Lager “schön” gemacht, das heißt, zunächst mal findet das obligatorische Großreinemachen statt. Gleichlaufend aber bringen die Lagermaler auf der hohen Giebelwand des Schlachthofgebäudes, die unseren Hof auf der einen Seite abschließt, ein großes Wandgemälde an: zwei verschlungene Hände vor einer roten Fahne, und darunter die Losung "Mit der SED für Frieden und Völkerverständigung!" - Da muss ich wieder mal drüber nachdenken, und die Feiertage um den 7. November lassen mir reichlich Zeit dazu. Im Lager 13 draußen wollten wir den Tag zwar feiern (einfach so, aus Freude am Feiern; denn eigentlich geht er uns ja recht wenig an . . .), aber hier bleibt mir nichts übrig, als ihn zu verschlafen oder eben zum Nachdenken zu benutzen.

Daß sich zuhause die Kommunisten und die Sozialdemokraten zu einer Partei vereinigt haben, das habe ich mittlerweile aus den spärlich zu uns dringenden Exemplaren der “Nachrichten für die deutschen Kriegsgefangenen”, der Zeitung mit dem schwarz-weiß-roten Streifen im Kopf, mitgekriegt; aber - wie das gehen soll und was dabei rauskommt, das verstehe ich einfach nicht. Ich weiß zwar nicht, was die Parteien, die SPD und die KPD, eigentlich gewollt haben; aber ich kenne nun schon einige Leute, die sich als Vertreter dieser Parteien fühlen, und wenn ich mir vorstelle, daß die jetzt gemeinsam . . . Zum Beispiel Otto Jensen, Sozialdemokrat und aktiver Feldwebel, und der alte Mariner von Fürstenberg, Kommunist und ehemaliger KZ-ler - was haben die gemeinsam? - Und keiner da, den man fragen könnte . . .