Draußen ist es saumäßig kalt geworden. Da kommen uns die drei freien Tage zum 7. November (“Jahrestag der Oktoberrevolution” - aber warum dann im November?) - die kommen uns also grade recht. Den ganzen Tag auf der Pritsche liegen, klönen, schlafen, gelegentlich - leider nur gelegentlich - auch mal ein bisschen essen - das ist für unsere augenblicklichen Begriffe schon ein herrliches Leben . . .
Überhaupt - Essen . . . Wenn er keins hat (was nun mal den größten Teil des Tages der Fall ist), dann redet der “Pleni” (eingedeutscht für “Wojennogo plen”, Kriegsgefangener) - dann also redet er darüber. Dieses fortwährende geistige Kochen ist bei vielen gewissermaßen eine Krankheit geworden. Wenn man sich die, die da dauernd Feinschmeckerrezepte austauschen, aber mal näher ansieht . . . Wir konnten uns so etwas jedenfalls zuhause nicht leisten, ganz abgesehen davon, dass es ja wohl für alle in Zivil andere und wichtigere Beschäftigungen gegeben haben muss als ständiges Kochen und Essen . . .
Wir, Kurt und ich, haben jedenfalls ein besseres Thema für die Abend- und Freizeitstunden gefunden. Kurt hat mal angefangen, Flugzeugbau zu studieren, ist also in Mathematik recht gut beschlagen; und in dem Fach war ich auch nie schlechter als “2” - also lösen wir Aufgaben, die wir uns selbst ausdenken. Angefangen haben wir damit, dass wir die Kongruenzsätze für Dreiecke zusammengetragen und bewiesen haben, dann haben wir für jeden Satz Dreiecke konstruiert, und nun sind wir bei einer Aufgabe gelandet, an der wir uns schon über eine Woche die Köpfe zerbrechen und keine Lösung finden.
Angenommen, ein Klempner solle einen Wassereimer anfertigen, von dem der obere und der untere Durchmesser und die Höhe und somit der Inhalt vorgegeben sind. Dazu muss er, da ja der Eimer ein Kegelstumpf ist, aus einem Kreis einen Sektor herausschneiden, der durch einen zweiten, kleineren Kreis mit dem gleichen Mittelpunkt begrenzt wird. Welchen Durchmesser muss der größere, welchen der kleinere Kreis haben, und über welchen Zentrumswinkel erstreckt sich der Kreissektor?
Kurt ist der Ansicht, dieses Problem wäre nur mit Hilfe von Winkelfunktionen lösbar, und damit ginge nichts ohne Tafelwerk. Kann ja sein, dass er recht hat (bevor das bei uns dran war, durfte ich schon zum Arbeitsdienst); aber ich denke, über ähnliche Dreiecke, Proportionen und den Pythagoras müsste sich auch eine Lösung finden lassen. Allerdings muss man dann etliche Quadratwurzeln ziehen, und weil diese Berechnungen doch eine ganze Menge mehr an Papier verbrauchen und unser Zementsackvorrat sehr begrenzt ist, vertagen wir die endgültige Lösung “bis zum richtigen Frieden”, d.h., bis wir wieder zu Hause sind.
Dann sind die Feiertage vorbei. Schade - sogar doppelt schade, denn einmal hatten wir uns fast schon an das Nichtstun gewöhnt, und dann ist es draußen jetzt richtig Winter geworden, richtig gemein kalt. Nur gut, dass sie uns Mäntel und Wintermützen verpasst haben. Darin sehen wir nun richtig abgerissen aus; die Mäntel sind meist alte russische Militärmäntel, dicker im Stoff als die Mäntel der Wehrmacht, aber offensichtlich zum größten Teil schon länger in deutschem Besitz. Jedenfalls sind viele in einem erbärmlichen Zustand: Brandflecken und -löcher, geplatzte Nähte mit aufgedrehtem Hanfseil zusammengezogen und so weiter. Ich habe allerdings Glück gehabt, habe einen erwischt, der direkt aus einer Kleiderkammer der Roten Armee zu kommen scheint (sogar die himbeerroten Kragenspiegel der Infanterie waren noch drauf) und der sieht folglich noch recht vernünftig aus. Dazu trage ich eine Pelzmütze aus schwarzem Hundefell, denn die Budjonnymützen, die die meisten gekriegt haben, “passten mir nicht” (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne). Nun sehe ich in diesem Aufzuge fast aus, als ob ich in dieser Gegend zuhause wäre; als Kriegsgefangener bin ich nur an dem weißen Aufnäher “В/П” (W/P - Wojenogo plen) auf dem rechten Oberarm zu erkennen.
Das Kommando “Krestjanskaja Wuliza” ist, wie erwartet, aufgelöst worden. Kurt und ich landen beim “Suderemont”. Remont - das heißt reparieren; was da wohl repariert wird? Ob das wohl die geeignete Arbeitsstelle zum Überwintern wird?
Nein, das wird nichts für den Winter; diese Arbeit möchte ich nicht mal bei warmem Wetter auf die Dauer machen. Repariert werden Schiffe, das heißt, wir arbeiten auf einer Reparaturwerft; aber mit dem Werftbetrieb haben wir nur höchst indirekt zu tun, indem wir nämlich einen Lastkahn mit Holzkohle, der dort für die Schmiede angekommen ist, entladen. Der Wind bläst eisig über den Fluss, und es ist nur gut, dass wir bei der hier landesüblichen Methode des Transports (und also auch unserer Entladearbeit) den ganzen Tag in Bewegung sind. Vom Kahn zum Land ist eine große Planke gelegt, und wir transportieren die Kohle auf Tragen, wie auf der “Krestjanskaja” den Mörtel, je zwei Mann eine Trage. Allerdings ist die Kohle wesentlich leichter als der Mörtel, und es geht auch nicht in das dritte Stockwerk; aber es ist so furchtbar kalt . . .
Man müsste eben einen vernünftigen Beruf gelernt haben . . . Mit uns zusammen geht noch ein anderes Kommando auf die Werft, Schlosser und Dreher; die arbeiten in einer Werkhalle an Maschinen. Das müsste man können! Aber ich kann eben nichts, habe nichts Vernünftiges gelernt; denn meine kümmerlichen Brocken Latein, die immerhin mal mit “Gut” zensierten Mathe-Kenntnisse und das bisschen Englisch, das nicht mal für die Konservendosen-Beschriftungen ausreicht - das rechnet jetzt offensichtlich nicht zu den vernünftigen Dingen. Also bin ich nur gut dazu, Kohlen aus dem Kahn über die Planke an Land in den Schuppen zu befördern - eine Trage nach der anderen, stundenlang, immer im gleichen Trott, immer wieder - zum Kahn . . . aufladen lassen . . . an Land . . . abkippen . . . zum Kahn . . . aufladen lassen . . .
Und es ist wirklich verdammt kalt. Auf dem Fluss - besser wohl: im Hafen - schwimmen schon große Eisschollen im Wasser. Nur gut, dass sie uns die Mäntel und die Lederschuhe wiedergegeben haben. Außerdem - so sehr dürfen wir uns über die Kälte eigentlich gar nicht beklagen; immerhin können wir von Zeit zu Zeit mal für einen Augenblick in der Werkstatt verschwinden und uns aufwärmen. Wenn das nicht gerade alle fünf Tragen zur selben Zeit machen, sagt der Aufseher nichts dazu. So eine Möglichkeit haben viele andere Kommandos nicht, haben höchstens ein offenes Feuer auf der Baustelle; insofern sind wir noch gut dran.
Ich bin gern in der Werkstatt. Nicht nur, weil es dort warm ist; mehr noch, weil es wirklich interessant ist, denen zuzusehen, die dort an den Maschinen arbeiten. Das sieht gar nicht so schwer aus; wenn man mir Zeit genug lassen würde, könnte ich das sicher auch lernen . . . Da nimmt der Dreher ein Stück rundes Eisen, spannt es in ein Dreibackenfutter, rückt von der anderen Seite eine Spitze dagegen, dann schaltet er die Maschine ein und das Stück Eisen dreht sich, und dann kurbelt er einen Meißel gegen das Eisen, und der schabt einen glänzenden Span davon ab, der kringelt sich wie ein Korkenzieher, wird länger und länger . . . und dann kriegt mich wer an der Schulter und fängt an zu schimpfen . . .
Ja doch, ist ja in Ordnung; ich bin ja nicht zum Zusehen hier, und die anderen wollen sich auch mal wärmen . . . Und dann trotte ich wieder mit Kurt und der Trage zum Strand hinunter, und hinter uns geht der Aufseher und brabbelt in seinen Bart, und von seinem Standpunkt aus hat er sogar recht; denn ich kann ihm doch beim besten Willen nicht klar machen, dass ich ja gar nicht faul bin, dass mich nur die Maschine so sehr interessiert hat, dass ich seine Kohlen ganz vergessen habe . . . Aber selbst wenn ich's könnte - ob er da wohl Verständnis für hätte?
Kurt verbringt die Pausen nutzbringend, hat ständig kleine Holzstückchen in der Hand und schnippelt mit seinem Messer daran herum - und eines Tages ist ein Satz Schachfiguren fertig (oder zumindest etwas, was man als solchen benutzen kann). Nun könnte man Schach spielen, wenn man ein Brett hätte - und wenn es auf unserem Platz auf der Pritsche nicht so finster wäre.
Was das Brett angeht, da fällt mir ein, dass in dem Motorbootwrack, das als Rest der deutschen Besetzung (am Heck steht jetzt noch “Stettin” als Heimathafen) ganz hinten auf dem Kai liegt, die Toilette mit kariertem Linoleum ausgelegt ist; und da findet sich denn auch noch ein relativ gut erhaltenes Stück mit 8 x 8 Feldern. Licht scheint zunächst schwerer zu beschaffen; aber dann entdeckt Kurt das Ventil, von dem aus die Hafenschlepper mit Diesel betankt werden, und kann eine Konservenbüchse voll davon abzapfen. Die ins Lager zu bringen, ist dann allerdings ein toller Balanceakt, denn sie hat ja keinen Deckel, und sehen darf sie auch keiner; aber es klappt, und mit Hilfe einer kleinen Lampe (nach dem Vorbild der römischen Öllampen) aus einer Corned-Beef-Dose, die Kurt bastelt, haben wir schließlich die reinste Festbeleuchtung. Nun kann Schach gespielt werden, und das macht mehr Spaß, als sich ständig über Dinge zu unterhalten, die längst Vergangenheit sind . . .
Überhaupt - Vergangenheit . . . Hat es die wirklich mal gegeben? Wenn ja, dann muss es eine Ewigkeit her sein, dass ich mal ein Zuhause, eine Mutter, Geschwister, Freunde hatte, in einer Wohnung wohnte und in einem Bett schlief, dass ich zur Schule ging . . . Apropos Schule: Wozu ist die überhaupt gut gewesen? “Nicht für die Schule, sondern für das Leben” stand an ihrer Giebelwand; aber wer hat denn gewusst, was das ist - das Leben? Was von dem, was ich lernen sollte, ist denn jetzt “für das Leben”? Im Geschichtsunterricht scheinen mir wohl die Jahreszahlen das einzige gewesen zu sein, was gestimmt hat, Englisch - ich sage ja, das reicht nicht mal, um die Beschriftung der amerikanischen Konserven zu lesen, und Latein - das habe ich fast völlig vergessen. Dabei habe ich ein ganzes Jahr Nachhilfestunden gehabt beim Übergang von der Mittel- an die Oberschule, die Stunde für zwei Reichsmark, und dreißig Mark hat Mutter im Monat nur als Unterhalt für mich gekriegt . . . Aber es ist wohl in den letzten Jahren mehr zum Teufel gegangen in der Welt als nutzlos für Nachhilfestunden ausgegebenes Geld. Immerhin lebe ich noch . . .
Als wir abends dann bei unserer ersten Schachpartie liegen (zum Sitzen ist die Decke im Obergeschoss unserer Pritschen etwa zu niedrig, da wird man lahm bei) - als wir also bei der ersten Partie sind, ruft unten im Gang zwischen den Pritschen jemand: “Müller - zum Lagerführer!” - Kurt sieht nach unten. “Was für'n Müller?” – “Der Klempner!”. Kurt sieht mich an. “Was der wohl von mir will?”. Dann zieht er sich die Schuhe an, hängt sich die Jacke um und klettert hinunter in den Gang.
Er bleibt nicht lange. “Andere Arbeit gibt's!”, sagt er, als er zurückkommt und wieder auf die Pritsche geklettert ist. “Du kommst auch mit.” - Ich? Was soll ich . . .? Und - woher kennt denn der Fischer mich . . .? – “Die haben für das Kommando NKWD einen Klempner mit Gehilfen angefordert, und da habe ich gedacht, du könntest mein Gehilfe sein.” Na gut, bin ich eben Klempnergehilfe; ist doch ein feiner Zug von Kurt, dass er mich aus dem kalten Wind beim Kohlentragen herausholt.
“NKWD” - das erinnert mich zunächst an ein Buch, das ich kurz vor dem Arbeitsdienst noch gelesen habe – “Der verratene Sozialismus” von einem gewissen Karl Albrecht. Jede Menge Gefängnis, soweit ich mich entsinnen kann, und also nicht sehr schön; aber da war auch etwas, was ich damals nicht verstand: 500 Gramm Brot täglich, davon die Hälfte Weißbrot, davon konnte ich mir keine Vorstellung machen . . . (Mittlerweile weiß ich, daß unsere 600 Gramm nur Schwarzbrot sind, und eingesperrt sind wir schließlich auch . . .) Ob dies “NKWD” damit was zu tun hat? Wir werden sehen, was das wird.
Am nächsten Tag gehen wir also mit dem Kommando “NKWD” raus. Der Weg ist nicht weit - nur eben über die Straße, in ein ganz normales Bürohaus. Dort sägen und hacken die Kumpels das Brennholz, mit dem die Büros geheizt werden. Uns beide - Kurt und mich - nimmt gleich vorne am Eingang einer mit einem riesigen Schafspelzmantel in Empfang – “A graschniki - gdje? (Wo sind die Klempner?)” - und führt uns in einen Schuppen, in dem etliche Tafeln verzinktes Eisenblech, etwa 1 m lang und halb so breit, und eine große Ständerblechschere stehen. Dann erzählt er uns eine Menge Sachen, die wir alle beide nicht verstehen, geht mit uns auf den Hof und zeigt auf das Dach des zweistöckigen Gebäudes. Das ist klar: Das Dach ist mit genau solchen Tafeln gedeckt, und die sind an einigen Stellen ganz schön verrostet. Also Dachdecken . . . Wird auch ganz schön kalt werden, denke ich mir.
Das Dach hat eine ganze Menge Löcher; aber die kann man nur vom Boden aus sehen, wenn das Licht hindurch scheint. Also postiere ich mich auf dem Boden und zeige Kurt die Löcher durch Klopfen an. Er kriecht draußen auf dem Dach umher und nagelt die Blechtafeln passgerecht an. Ich beneide ihn wirklich nicht; schließlich kann er noch nicht einmal Handschuhe anziehen - er muss doch die Nägel halten! Nach jeder Tafel kommt er auf den Boden und wärmt sich auf. Der Boden ist schön warm, denn immerhin gehen da ja alle Schornsteine des Hauses durch, und nicht einfach von oben nach unten, sondern so etwa drei bis vier einzelne Kanäle kriechen immer erst von verschiedenen Stellen waagerecht auf den Dielen entlang, bevor sie sich vereinigen und gemeinsam senkrecht nach oben gehen. Dadurch ist es beinahe richtig geheizt unter dem Dach.
Dann ist das Dach fertig, und Kurt wird wieder auf Suderemont beordert. Mich hat man scheinbar vergessen, und so darf ich jetzt mit den anderen vom Kommando Brennholz sägen. Das ist vielleicht eine langweilige Arbeit! Den ganzen Tag steht man hinter seinem Sägebock, bewegt nur die Arme und erwärmt sich nur den Oberkörper; vom Gürtel an abwärts ist alles kalt. Nur gut, dass es jetzt wenigstens geschneit hat; das lindert die Kälte etwas. Aber auch gut, dass es jetzt erst geschneit hat; auf dem Dach jetzt im Schnee - da kann ich mir Schöneres vorstellen. Aber auch hinter dem Sägebock ist es noch kalt genug. Ab und zu darf mal einer zum Aufwärmen in den Flur vor den Büros. So ein richtiger Amtsstubenflur, schön lang, und rechts und links Türen mit Schildern, und mit Leuten, die warten, dass sie aufgerufen werden - und mit den Feuerungen für die Öfen in den Zimmern. Die werden nämlich vom Flur aus geheizt. So ist es dort einigermaßen warm. Dafür fällt es dann doppelt schwer, wieder hinter den Sägebock zurückzugehen.
Heute stehe ich ganz offiziell im Flur und warte und brauche nicht wieder raus hinter den Sägebock. Das kommt so: für irgendeine Baustelle des NKWD wird Holz für einen Dachstuhl gebraucht, und fünf Mann von uns sollen mit einem LKW rausfahren in den Wald und das Holz dort aufladen. Von den anderen Kumpels hat jeder versucht, sich vor dieser Arbeit zu drücken, aber mich freut es, mal etwas anderes zu machen. Kälter als unten am Fluss kann es auf dem Auto auch nicht sein, und sicher gibt es mehr zu sehen als hinter dem Sägebock. Nun sollen wir hier im Flur warten, bis der Wagen kommt.
Der entpuppt sich dann als tolles Gefährt. Das Fahrerhaus stammt von einem Anderthalb-Tonner “SIS”, die Motorhaube von einem Ford V8, Chassis und Ladefläche von einem 6-Tonner Studebaker. Den Motor kann man verständlicherweise nicht sehen; aber es würde mich nicht wundern, wenn es ein deutscher Opel oder ein französischer Renault wäre. Hinten hängt an der Kutsche noch ein Paar stabile Rungen auf einer eigenen Achse dran, der “Prizep”, der Langholzanhänger. Rollen tut das ganze Gefährt aber tadellos. Wir sitzen im Windschatten des Fahrerhauses und wickeln uns fest in unsere Mäntel. Hier geht's uns umgekehrt wie beim Holzsägen: der Oberkörper, der ja dem Fahrtwind ausgesetzt ist, wird eiskalt, und vom Gürtel ab sitzt man im Windschatten und wird obendrein von der Ladefläche warm geschüttelt.
Es geht in Richtung Kiew, das heißt, wir verlassen die Stadt auf der breiten Ausfallstraße, die von den alten Kommissköppen unter uns immer noch “die Kiewer Rollbahn” genannt wird. Es geht am Kraftwerk vorbei, auf einer langen hölzernen Bohlenbrücke über den Sosch (unmittelbar danebenliegt eine große Steinbrücke gesprengt im Wasser), durch den Vorort Novo-Beliza, den wir bisher nur vom Hörensagen kennen, vorbei an einigen großen Fabriken - und dann raus in den Wald. Das heißt: in den Wald so richtig auch nicht, denn die Straße wird auf beiden Seiten von einem mindestens 50 Meter breiten kahlen Streifen eingefasst, hinter dem dann der Wald beginnt. Wiederum - so richtig kahl ist dieser Streifen auch nicht; man hat alle Bäume, die dort mal gestanden haben, in etwa anderthalb Meter Höhe abgesägt. Schutz vor Partisanen und gleichzeitig so was wie eine Fahrzeugsperre - Überreste aus der Zeit, als die Wehrmacht hier das Sagen hatte.
Dieser “kahle” Streifen sieht aus wie ein großes Schrottlager. Panzerruinen, Autowracks, gesprengte Geschütze, Munitionskästen, Stahlhelme, Gasmaskenbüchsen - alles, was einem beim Rückzug im Wege sein kann, liegt dort herum. Nun bin ich in ja in Rückzügen nicht so ganz unerfahren, und unsere Straßen im Mai sahen ja auch nicht gerade sehr ordentlich aus - aber so etwas wie das hier? Und vor allem: der Rückzug ist doch schon zwei Jahre her, und es sieht immer noch so aus! Mensch, das muss damals hier vielleicht ein Durcheinander gewesen sein! Und das hieß dann im Wehrmachtsbericht “im Verlaufe planmäßiger Frontbegradigung” und “geordnete strategische Absetzbewegungen” - na, schönen Dank!
Wir mögen etwas über eine Stunde so gefahren sein, da biegen wir links ab und fahren in den Wald hinein. Hinter dem Schutzstreifen steht ein schöner alter Kiefernbestand, dem der Krieg nicht allzu viel geschadet hat. Nur der Boden ist zerwühlt: Schützengräben, Geschützstellungen, Kfz-Stände - ab und zu auch mal ein Granat- oder Bombentrichter. Aber Gräben kommen immer mehr, meist Laufgräben, und sie scheinen alle auf einen bestimmten Punkt hin zu laufen. In Richtung dieser Gräben läuft auch unsere Fahrtrichtung.
Schließlich gelangen wir an eine größere Lichtung und halten. Auf der freien Fläche erheben sich dicht an dicht größere und kleinere Hügel. Als wir vom Wagen klettern, um uns die Beine zu vertreten, stellen wir fest, dass es sich um Erdbunker handelt - eine richtige in die Erde gewühlte Stadt. Viele der Bunker sind noch recht gut erhalten, andere - meist die am Rande der Siedlung liegenden - sind schon wieder aufgegraben und das Deckenholz ist abgeräumt. Na ja, warum soll es hier verfaulen; zum Heizen ist es bestimmt noch gut, und vor allem wird es billig sein . . . Unser Kraftfahrer ruft uns wieder zusammen und hält uns einen längeren Vortrag, aus dem wir - weniger aus seinen Worten als aus seinen Gebärden - zu entnehmen glauben, dass er jetzt das Holz suchen geht, das hier herum irgendwo liegen muss, dass wir solange auf ihn warten sollen, und dass vor allen Dingen keiner auf den Einfall kommen soll, etwa einfach auszureißen.
Wir verkneifen uns ein Grinsen. Ausreißen - jetzt, mitten im Winter, ohne jede Verpflegung und dann vielleicht noch mit dieser auffälligen Kutsche, die obendrein noch dem NKWD, also gewissermaßen der Polizei, gehört . . . Wenn wir auch äußerlich alle fast wie echte Russen aussehen (neulich hat mich im Flur sogar mal ein Besucher um eine Auskunft gebeten, so echt wirke ich) - also, wenn wir auch nicht weiter auffallen würden, so wäre uns das denn doch etwas zu verrückt, da hat sich bei uns schon noch so ein Rest Vernunft gehalten.
Anstatt also auszureißen, sehen wir uns die vor uns liegende Riesenmaulwurfsiedlung etwas näher an. Einer der Bunker fällt uns besonders auf. Eine Lage Stämme von mindestens 30 cm Durchmesser als Decke, und darüber vier Lagen Eisenbahnschienen - so etwas konnten sich einfache Landser nicht leisten, da hat sicher etwas Besseres drin gewohnt. Oberst, oder vielleicht auch General? Am Eingang hängt wie ein Symbol vergangener Herrlichkeit ein EK II und schaukelt im Wind. - Die anderen Bunker sind längst nicht so stabil, überall nur Holzdecken, nur einige mit Steinpackungen darüber. Na ja, so ein Oberst oder General hatte ja wesentlich mehr zu verlieren als ein einfacher Landser, da musste er auch besser für seine Gesundheit sorgen . . .
Der Fahrer kommt zurück und schickt uns wieder “na maschina”. Etwa 500 Meter fährt er noch mit uns in den Wald hinein - keine Spur mehr von einem Weg - dann hält er vor einem Haufen frisch geschlagener Stämme. Runter vom Wagen und aufladen! Die Stämme sind noch grün und dementsprechend schwer, und der erste macht uns ganz schön zu schaffen. Aber dann haben wir den Dreh raus und es geht besser. Der Stamm wird neben dem Fahrzeug abgelegt, dann heben wir mit alle zusammen das Stammende auf die Ladefläche, dort hält es einer mit der Brechstange fest, und die anderen befördern das Kopfende auf den Anhänger. Das erzählt sich freilich schneller als es getan ist, und als der Wagen mit sieben Stämmen beladen ist, muss Mittag längst vorbei sein. Na, das macht nichts weiter; das Essen wird im Lager in solchen Fällen aufgehoben und ist dann erfahrungsgemäß immer etwas mehr als normal.
Bevor wir abfahren, werfen wir noch schnell ein paar Stämme aus der Abdeckung eines kleinen Bunkers, an dem schon jemand gebuddelt hat, auf den Wagen. Der Torf, den sie uns im Lager zum Heizen geben, brennt nicht so besonders, und deswegen kann etwas Holz zum Unterfeuern nicht schaden. Dann klettern wir oben auf die Ladung, wickeln uns in unsere Mäntel, und los geht die Fahrt. Durch den Wald sieht das manchmal etwas gefährlich aus, so mit den doch immerhin 12 Meter langen Stämmen zwischen den Bäumen hindurch; aber draußen auf der Straße dreht der Fahrer dann auf, was der Motor hergibt. Es zieht zwar ganz ordentlich um die Ohren, aber es geht nach Hause, das heißt, ins Lager und zum Essen, und das macht uns warm.
Bevor wir gehen dürfen, laden wir noch schnell die Fuhre ab - das geht schnell, nur einfach runter werfen - und fahren dann mit “unserem Wagen” vor dem Lagertor vor. Die vier anderen geben an, als wären sie gerade irgendeiner Hölle entronnen; aber ich weiß gar nicht recht, warum eigentlich. Von mir aus könnten wir morgen wieder fahren . . . Aber leider stehe ich am nächsten Tag dann wieder hinter meinem Sägebock.
In der Brigade “Theater”, die den Riesentrümmerhaufen abräumt, der mal das städtische Theater war, dreht einer durch. Eigentlich ein ganz ruhiger und freundlicher Kumpel, aber irgendwie hat er einen Knacks gekriegt. Er nimmt all das, was sie uns über die “Wiedergutmachung” erzählt haben und was darüber in den spärlich zu uns durchdringenden Zeitungen (“Freies Deutschland”, herausgegeben vom NKFD) steht, scheinbar richtig ernst; jedenfalls will er zu Feierabend nicht zurück ins Lager, sondern auf der Baustelle bleiben und weiterarbeiten. Er hätte viel wieder gut zu machen, und da müsste er mehr arbeiten als die anderen, und darum müsste er noch da bleiben . . . Den müssen die Kumpels jetzt jeden Abend mit Gewalt zurückbringen. Ob der nicht eigentlich in eine Klapsmühle gehört? Aber - gibt es denn so was für solche wie uns? Oder will der nach Hause und markiert auf doof? Ich weiß es nicht . . .
Dann ist eines Mittags wieder mal die “Kommissionierung” fällig, und am Abend stehen wir alle in der großen Halle der Lagertischlerei und warten auf das Ergebnis; denn nach jeder dieser Untersuchungen ändert sich ja, abhängig vom körperlichen Zustand der Leute, die Zusammensetzung der Brigaden. Bis die Lagerleitung das entsprechend vorbereitet hat, sehe ich mich in der Tischlerei um. Die hat sich mächtig herausgemacht seit meiner Spielzeugbauerzeit, in der ich an der einzigen Kreissäge, die es gab, unser Holz zugeschnitten habe. Jetzt steht die halbe Halle voll Maschinen: zwei Kreissägen, eine Bandsäge, ein Dicktenhobel und eine Abrichte, und mitten in der Halle steht ein Riesending, von dem man auf den ersten Blick gar nicht sagen kann, wozu es eigentlich dienen soll. Helmut, ein ehemaliger Spielzeugbauer, der jetzt bei den Tischlern gelandet ist, erklärt mir das Ungetüm. Auf der einen Seite steckt man die Bretter so rein, wie sie vom Gatter kommen - roh und waldkantig - und dann werden da drin Bretter zum Dachdecken daraus gemacht, gehobelt, mit glatten rechtwinkligen Kanten und mit zwei eingefrästen Rinnen an den Seiten. Hinter uns sagt einer: “Die ist doch bestimmt aus Deutschland geholt . . .”. Wir suchen das Typenschild, und dann staunt aber einer: Die Maschine stammt aus Leningrad . . .
Dann ist die Lagerleitung soweit, und der Arbeitseinsatzleiter fängt an, zu verteilen und neu zusammenzustellen. Jedes Kommando wird aufgerufen und, je nachdem, was dort für Arbeiten anfallen, nach Arbeitsgruppen oder auch namentlich zusammengestellt. “10 Mann Gruppe I, 6 Mann Gruppe II, 14 Mann Gruppe III zum Kino Kalinin” - und so geht es weiter, alle Kommandos durch. Was soll man sich davon nun aussuchen? Die meisten Kommandos arbeiten auf irgendeiner Baustelle in der Stadt, da ist es eigentlich ganz gleich, ob man sich hier oder da meldet; und - so schlecht war es ja auf NKWD nun auch wieder nicht . . . Ja, wenn man bei “Spartak”, der Süßwarenfabrik, unterkommen könnte - aber da arbeiten nur Schlosser und ähnliche Spezialisten, die stehen namentlich fest, und für die paar Hilfsarbeiter, die in dem Kommando sind, sucht sich der Brigadier seine Freunde aus . . . Gut wäre auch das Kommando bei der Firma mit dem unaussprechlichen Namen, das ist so eine Art Lebensmittelgroßhandel, die transportieren dort Säcke mit Mehl und Hirse und Graupen; aber dort schickt der Lagerführer seine Freunde hin, und zu denen gehöre ich nun auch nicht grade . . . Das ist nun mal so: ohne Beziehungen nach oben bist Du hier genauso beschissen dran wie früher beim Kommiss. Da, wo es was nebenbei zu erwischen gibt, kommt man als kleiner Pleni nicht hin . . .
“Vier Transportkommandos zu je 5 Mann, keine festgelegte Arbeitsgruppe!”, ruft der Arbeitseinsatzer auf. Transportkommando . . .? Mir fällt die Fahrt in den Wald ein. “Du, da melden wir uns!”, sage ich zu Kurt. “Ohne mich, ist mir zu kalt!” - Na gut, dann eben allein . . . Der Walter Lux, der Dolmetscher vom Lagerleiter, sieht mich erstaunt an. “Was denn - Du willst zum Transportkommando?”, fragt er ungläubig. “Na klar; oder bin ich vielleicht zu klein?”, antworte ich etwas patzig. “Na gut; wie du willst - aber hol' Dir bei Thomas was Wärmeres anzuziehen!” - und schreibt mich auf.
“Thomas” ist der Magaziner, das heißt, der Mann, der die Klamotten verwaltet. Er heißt ja eigentlich wohl Ernst, aber so nennt ihn kein Mensch. Sein Nachname - er heißt Mann - soll an dem Spitznamen schuld sein. Thomas Mann - habe ich mir sagen lassen - soll ein unter Hitler verbotener Schriftsteller sein, ist mir aber kein Begriff weiter. – “Thomas” verpasst mir jedenfalls auf den Zettel, den mir der Lagerleiter gegeben hat, eine “Kufeika”, das ist eine dicke wattierte Überjacke, ein zweites Paar Handschuhe und - es gibt noch Wunder - ein Paar Strümpfe. Eigentlich ja nur noch die Beinlängen von ein Paar weißen Kniestrümpfen (die Füßlinge sind völlig durchlöchert); aber selbst in dem Zustand habe ich Strümpfe seit dem März nicht mehr gesehen, habe immer nur Fußlappen getragen.
Damit bin ich nun wohl warm genug angezogen. Hemd und Unterhose, Tuchhose und Fliegerbluse, Knochensack (Fallschirmjägerkombi) und Pullover, dazu den Russenmantel, Stepphose und Wattejacke, zwei Paar Handschuhe, Pelzmütze, Fußlappen und die “Strümpfe” - so kalt kann es gar nicht werden, dass ich in all dem Zeug frieren könnte . . .
Am nächsten Morgen trete ich dann also bei den Transportkommandos mit an. Zwanzig Mann, eingeteilt in vier “Besatzungen” zu je fünf Mann. Die Brigaden für die Baustellen und die anderen Arbeitsplätze rücken aus, wir gehen in die Quartiere zurück und warten auf unsere “Maschinen” (ein LKW ist russisch eine “maschina”). Unsere kommt als letzte so etwa gegen 10 Uhr. Ein schöner, fast funkelnagelneuer “Studebaker” mit Allradantrieb, aber nur die kleine Ausführung. – “Wat heeßt hier kleen?”, sagt der Jupp. “Sei froh - der trägt nur zwei Tonnen! Alles, was darauf soll, musst Du aufladen!” - Stimmt ja; wir sollen ja nicht nur fahren, sondern in erster Linie auf- und abladen . . . Die Klapp-Bänke an den Bordwänden sind aber was Feines; man sitzt beinahe wie in einem Omnibus, viel bequemer als auf der Ladefläche . . .
Zunächst fahren wir in Richtung Bobruisk, also nach Norden aus der Stadt raus, biegen dann aber gleich hinter dem Flugplatz nach links ab und kutschen durch die Randgebiete. Irgendwo hier draußen haben sie uns vor fast einem halben Jahr ausgeladen; damals war alles grün, und die Häuschen mit den Blumen im Vorgarten sahen so nett aus - aber jetzt wirkt das alles öde und trostlos. Das Holz, aus dem die Häuser sind, wirkt so schmutzig-grau, der Schnee macht die Häuser noch finsterer, und die paar Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, haben sich fest in irgendwelche Tücher gehüllt und huschen schnell vorbei - es ist eben Winter, und eine Hundekälte dazu. In der Stadt haben wir das gar nicht so gemerkt, weil da ja überall gearbeitet wird; hier draußen aber kommt man sich richtig verlassen vor.
Dann taucht ein etwas sonderbares Gebäude vor uns auf. Ein langgestreckter Ziegelsockel mit vielen Eingängen, die aber scheinbar alle vermauert sind. Auf der ebenen Oberseite bewegen sich Menschen, und in der Umgebung stehen lange offene Schuppen, in denen Ziegelsteine gestapelt sind. Auch links und rechts des Weges stehen Stapel von Ziegelsteinen. Das muss dann wohl eine Ziegelei sein.
Als der Wagen anhält, springen wir ab, um uns die Füße warmzulaufen. Auf den großen Sockel (das scheint der Ringofen zu sein; aber warum steht der unter freiem Himmel?) führt eine schiefe Ebene hinauf, auf der Torf in Loren hochgezogen wird. Die, die oben auf dem Ofen arbeiten, sehen fast so aus, als ob sie zur gleichen Sorte wie wir gehören. Wir gehen einfach mal hinauf und stellen fest - es sind tatsächlich auch Deutsche, aus dem Lager Nr. 7, das hier in der Nähe, in der Ziegelei Nr. 17, ist. Das hier ist die Ziegelei Nr. 5; die ist im Kriege zerstört gewesen und arbeitet nur provisorisch. Der Schornstein ist gesprengt, und die Kumpels zeigen uns ein riesiges Gebläse, das jetzt den Zug für den Ofen macht und dabei den Rauch aus dem Ofen gleichmäßig in der Landschaft verteilt.
Unser Fahrer holt uns wieder von dem Ofen runter. Aufladen - na ja, dazu sind wir ja schließlich hier. Er fährt den Wagen mit dem Heck an die Stapel ran, und dann geht es los. Drei Mann legen die Steine auf die Ladefläche, zwei stapeln sie dort ordentlich auf. Dabei wird fleißig gezählt, denn “Tschest sto schtuk a nitschewo nje bolsche!” (600 und nicht mehr!), hat der Fahrer gesagt. Warum nur 600, da ist der Wagen ja erst zu zwei Dritteln voll? Statt einer Antwort zeigt Jupp auf die Federn. Völlig flach, also voll belastet; klar, ein Stein wiegt etwa 7 Pfund oder 3500 Gramm - das sind bei 600 Stück sogar schon mehr als 2 Tonnen. Mir werden die Vorteile eines Zweitonners restlos klar.
Dafür lernen wir dann, als es losgehen soll, die Nachteile amerikanischer Wagen im russischen Winter kennen. Der Bock springt einfach nicht wieder an. Zu stark abgekühlt . . . Da hilft nur Anschieben; aber den vollen Wagen schieben wir in dem Gelände nicht, das ist nicht zu schaffen. Abladen? Na, und dann wieder aufladen - dann ist der Tag um. Also warten, meint der Fahrer, ob eine andere Maschine kommt, die uns anschleppen kann. Auch gut; wir gehen solange auf den Ofen und wärmen uns die Beine.
Nach einer halben Stunde tun wir das immer noch, und der Fahrer, der das Zwecklose seiner bisherigen Bemühungen wohl eingesehen hat, leistet uns dabei Gesellschaft. So gut es geht, unterhalten wir uns mit ihm, das heißt, wir versuchen, ihm mit Händen und Füßen und allen möglichen Grimassen unsere Lebensläufe zu verdeutlichen. Dass er Pjotr heißt und Chauffeur ist, haben wir recht schnell verstanden, und er hat unsere Vornamen auch schon mitgekriegt und redet uns damit an.
Plötzlich blickt er interessiert auf die große Elektrowinde, die die Loren mit dem Torf über eine schiefe Ebene auf den Ofen zieht. Dann redet er auf den Maschinisten ein, der sie bedient, und dann begreifen wir auch - er will den Wagen von der Winde anschleppen lassen. Das könnte wohl gehen; der Wagen steht einigermaßen in der richtigen Richtung, und das Drahtseil scheint auch lang genug zu sein. ”Nu dawai - na maschina!”.
Jupp hakt das Drahtseil von der Lore ab und zieht es auf die richtige Länge aus, dann machen wir es am Schlepphaken des LKW fest, Pjotr klettert in die Kabine, dann zieht das Seil an, steht straff in der Luft, zittert leise - aber der Wagen rührt sich nicht. “Los, schieben, sonst reißt das Seil!”, schreit Jupp. Wir stürzen zum hinteren Ende des Wagens, schieben, drücken. Ein Ruck - er bewegt sich, rollt langsam neben den Lorengleisen hin, wird schneller - dann heult der Motor auf - geschafft. Na also; das hätte uns ruhig schon eher einfallen können. Aber die große Pause war auch nicht zu verachten; geht alles vom Krieg ab . . .
Heimwärts geht es den gleichen Weg, wieder durch die Außenbezirke, die so öde aussehen, am Flugplatz vorbei, quer durch die ganze Stadt zum “Kino Kalinin”. Dort laden wir unsere Steine ab, wärmen uns ein wenig in einem Keller auf, und dann - es wird schon dämmrig - sagt Pjotr: “Dawai - domoi!” – “Nje domoi - na lager!” (Nicht nach Hause - ins Lager), verbessern wir ihn. “Nitschewo - für heute ist Schluss.” Was denn - schon Feierabend? Na ja - wir sind ja erst recht spät losgefahren, und dann haben wir ja den halben Tag bloß rumgestanden; da lohnt sich nun keine zweite Fahrt mehr.
Abends um halb fünf kriegen wir im Lager unser Mittagessen - zwar kalt, aber dafür bedeutend mehr als üblich - und dann anschließend gleich das Abendbrot. Komisch: Auf der Baustelle hat man den ganzen Tag Kohldampf, aber beim Fahren merkt man das gar nicht so. Das ist auf alle Fälle eine gute Seite dieses Kommandos; und das reichliche Essen dann, wenn man zu spät kommt, ist eine zweite.
So vergeht die nächste Zeit wie im Fluge. Morgens gegen 9 Uhr kommt Pjotr mit der Maschine, holt uns ab, und dann sind wir den ganzen Tag unterwegs. Ziegelsteine, Lehm, Schlacke, und wieder Ziegelsteine und Ziegelsteine, und so immer weiter, mittags fast nie zu Hause, dafür den ganzen Tag in Wind und Wetter - und mir macht das richtig Spaß. Daß es das Mittagessen meist erst abends gibt, daran haben wir uns sehr schnell gewöhnt, und dann gibt es immer wieder mal eine Möglichkeit zu einem kleinen Nebenverdienst. Schließlich fahren wir ja die halbe Zeit leer durch die Stadt, und für diese Leerfahrten findet Pjotr öfter mal eine “schwarze” Ladung. Die laden wir natürlich auch auf und ab, und dafür beteiligt er uns am Verdienst, indem er am Markt vorbeifährt und für uns was Essbares kauft; Brot, saure Gurken, mal ein Stückchen Speck . . .
Im Lager hat sich außerdem auch noch eine zusätzliche Einnahmequelle ergeben. Durch die strenge Kälte sind fast alle Wasserleitungen, die im Herbst beim Lageraufbau nur recht provisorisch verlegt worden sind, eingefroren. Nur ein einziger Wasserhahn - ganz unten im ehemaligen Kesselhaus unter dem großen Wanderrostkessel - gibt noch Wasser. Damit sitzen die Küche und die Bäckerei ohne ihren wichtigsten Rohstoff da, beziehungsweise sie sind gezwungen, ein paar hundert Liter Wasser täglich von dieser einzigen Quelle zu holen. So etwas macht ein Koch oder ein Bäcker natürlich nicht selbst; so etwas lässt er machen. Nur - in der Zeit, in der das Wasser geholt werden muss, ist außer uns vom Transportkommando kein Arbeiter im Lager; und so kommen denn Küchenchef und Oberbäcker und sind ganz freundlich; “ob wir nicht vielleicht” und “soll auch Euer Schade nicht sein . . .”. Na ja, warum nicht; und so haben wir denn regelmäßig unsere Brotportion und unseren Schlag Suppe mehr als die anderen, und die Küche und die Bäckerei haben ihr Wasser. Brot habe ich schließlich so viel, dass ich für ein Weihnachtsgeschenk für Kurt sparen kann.
Hässlich ist dabei nur der Konkurrenzkampf, der sich zwischen den einzelnen Leuten von den Transportkommandos entwickelt. Weil kein Mensch daran denkt, das ganze so zu organisieren, dass jeder mal drankommt, kriegt die Eimer der, der zuerst da ist, und der trägt dann also Wasser, bis genug in den großen Vorratsfässern ist, oder bis sein Fahrzeug kommt. Folglich entspinnt sich jeden Morgen ein erbitterter Streit um die Eimer, und dabei kommt es den Älteren gar nicht darauf an, uns Jüngeren die Eimer notfalls mit Gewalt wieder abzunehmen. Das wollte heute so ein alter Zausel, so ein oberöstreichischer Holzhauer, mit mir versuchen. Zu seinem Pech war ich aber schon auf dem Rückweg vom Wasserhahn, und beide Eimer waren schon voll; als er sie mir aus der Hand reißen wollte, hat er die ganze Ladung über den Pelz gekriegt, “aus Versehen” natürlich. Nun gab es einen Riesenaufstand, und der Lagerführer sollte die Angelegenheit klären. Der hat mir aber wohl das “Versehen” geglaubt (oder er hat geahnt, was da wirklich hinter steckte) - jedenfalls soll ich in Zukunft besser aufpassen, wenn ich mit einem Eimer Wasser über den Hof gehe, und den Alten hat er ins Krankenrevier gesteckt, bis die Klamotten wieder trocken sind, denn - auf den LKW konnte der ja nun wirklich nicht mehr.
Heute Nacht hat sich der Kumpel vom “Theater”, der nicht genug von der “Wiedergutmachung” kriegen konnte, aufgehängt. Auf der Latrine haben sie ihn gefunden, Gürtel am Dachbalken, und die Füße hingen in der Scheiße. Zum Glück überkam mich der allnächtliche Drang nach dem Donnerbalken erst, als ihn schon andere gefunden hatten. Muss ein anständiger Schreck gewesen sein . . . Der hat also wirklich einen Schaden gehabt, oder ein ganz mächtig schlechtes Gewissen. Könnte ja schließlich auch sein, daß er irgendwo bei einem “Partisanenjagdkommando” dabei war und nun Angst hatte, dass das jemand rauskriegt . . . So einfach aus heiterem Himmel stellt man doch so etwas nicht an, und so wichtig kann doch die “Wiedergutmachung” selbst für den nicht gewesen sein? Er soll zuhause Frau und Kinder gehabt haben - die warten nun auf ihn, und er kommt nicht mehr, trotzdem er den ganzen Krieg überlebt hatte . . .
Heute fahren wir mal was ganz anderes, nicht die sonst üblichen “Klamotten” wie Lehm, Schlacke und Ziegelsteine. Wir sind nach Nowo Beliza gefahren und holen von der “lessasawod”, vom Sägewerk, Fenster en gros. Die haben dort eine Maschine stehen, in die gehen, ähnlich wie bei uns in der Tischlerei, rohe Vierkantleisten hinein. Drinnen werden sie von etlichen (ich glaube, es waren sieben) Fräsköpfen bearbeitet, und dann kommen auf der anderen Seite fertige Profilleisten für Fensterflügel oder -rahmen heraus. Daraus werden dann genormte Fenster gebaut, und die fahren wir jetzt auf die Baustellen (ohne Glas, versteht sich). Das scheint mir bedeutend vernünftiger zu sein, als wenn auf jeder Baustelle ein Tischler mit Hobel und Stemmeisen die Fenster bauen würde.
Im Sägewerk habe ich mich natürlich auch noch weiter umgesehen. Offensichtlich waren die großen Hallen auch zerstört, man sieht den Dachkonstruktionen noch an, daß sie neu und sicher nur provisorisch sind. In jeder Halle eine große Tafel mit Namen und Zahlen dahinter, die Zahlen mit Kreide geschrieben - das sieht genauso aus wie die Prozentetafel bei uns auf dem Lagerhof. Aber mehr Brot werden die hier sicher nicht kriegen, wenn sie 100 % haben, überlege ich . . . Vielleicht werden sie dann besser bezahlt?
Die Fensterrahmen werden so ziemlich auf alle Baustellen der Stadt verteilt. Einige kenne ich ja nun schon aus eigenem Erleben oder weil wir sie schon mal mit irgendwelchen Baustoffen beliefert haben, aber nun komme ich auch auf solche, die von anderen Lagern betreut werden und zu denen wir sonst gar keine Beziehungen haben. Schade nur, dass beim Abladen die Zeit so kurz ist; man würde sich doch gerne mal mit den Kumpels aus den anderen Lagern einen Schlag unterhalten . . . Aber sowie wir die geforderte Zahl Fenster runter gereicht haben, fährt Pjotr weiter. Immerhin stellen wir fest, daß eine ganze Menge geschafft worden ist in dem knappen halben Jahr, das wir hier sind.
Oder sind wir schon ein halbes Jahr hier? Ich weiß noch genau, wie mir zumute war, als wir am 1. Juni hier angekommen sind - und heute kann ich mir beinahe nichts anderes mehr vorstellen, als Tag für Tag auf der “maschina” zu sitzen und Baumaterial auf- oder abzuladen. Nach Haus fahren . . . na freilich, das möchte ich auch noch, wer möchte das wohl nicht; aber so, wie es mir augenblicklich geht, lässt sich das Leben jedenfalls auch aushalten . . .
Dann kommt mal ein Tag, der verläuft ganz anders als die übrigen. Pjotr kommt morgens und erzählt etwas von irgendeinem “pissok”, den wir fahren sollen. Nun kennen wir ja das Repertoire eigentlich schon auswendig: kirpitschi, glino, schlak, na lessasawod (Ziegelsteine, Lehm, Schlacke, zum Sägewerk) - aber “pissok”? Das hatten wir noch nicht, das ist neu. Auf der Ladefläche liegen ein paar Schaufeln und Spitzhacken; also wird “pissok” wohl ähnlich geladen wie Lehm oder Schlacke. Lassen wir uns überraschen!
Wir kutschen über den Sosch nach Nowo-Beliza und landen in einem trockenen Nebenarm des Flusses. Dort setzt uns Pjotr ab: “Dawai - pissok na maschina!” - und greift dann, als keiner von uns weiß, um was es dabei geht, zur Schaufel. Unter dem Schnee, den er bei Seite schiebt, kommt grober weißer Kies zum Vorschein. Also Kies ist gemeint! An sich kein Problem; nur ist das Zeug leider steinhart gefroren . . . Es dauert fast anderthalb Stunden, bis wir mit viel Hackerei die erste Fuhre voll haben. Dann donnert Pjotr los, und wir sollen, bis er wiederkommt, die nächste Ladung vorbereiten. Die einzige Hoffnung, die wir dabei haben, ist die, dass wir ja irgendwann mal durch den Frost durch sein müssen und daß es dann leichter wird.
Das schaffen wir tatsächlich, bevor der Wagen zur zweiten Fuhre zurück ist, und haben von da ab leichte Arbeit. Eine Tour dauert für Pjotr etwa eine Dreiviertelstunde; wir brauchen, um eine Ladung zurecht zu schippen, etwa 10 Minuten. Da bleibt viel Zeit, sich mal in der Gegend umzusehen; so ungeheuren Spaß macht es nämlich auch nicht, neben dem Kieshaufen zu stehen und zu warten.
Am ehemaligen Ufer des Flussarmes stehen ein paar Häuschen, und als wir uns nähern, geht die Tür auf und ein kleiner Junge winkt uns heran. “Idi ßuda, Frietz!”. Was will der? Vielleicht hat er was zu tun für uns? Aber wir haben uns wohl geirrt. Im Haus empfängt uns eine ältere Frau - wohl seine Großmutter - setzt uns eine Bank vor den großen Ofen und gibt jedem einen Blechbecher voll heißen Tee. Dabei redet sie viel und leider sehr schnell, so dass man kaum etwas verstehen kann; ich kriege eigentlich nur mit, daß es draußen kalt ist und dass wir uns hier wärmen sollen. Na, das lassen wir uns natürlich nicht zweimal sagen . . .
Der Kleine, der uns reingeholt hat, sitzt derweilen am Tisch und schreibt etwas. Er macht scheinbar Schularbeiten. Ich blicke ihm über die Schulter: Gleichungen ersten Grades mit einer Unbekannten . . . Aber so, wie er damit herumwirtschaftet, kriegt der nie eine Lösung. Das scheint ihm auch klar zu sein; er kaut immer wieder an seinem Federhalter und hat ihn schon ganz zerkaut, genau wie wir früher.
Der Wagen ist da! Schnell stürzen wir raus. Die Mäntel, die wir schon ausgezogen hatten, lassen wir hängen. Pjotr staunt nicht schlecht, als er den vorbereiteten Sandberg sieht. Wir schmeißen ihm schnell die Fuhre voll, dann holen wir die nächste Ladung aus unserem Loch, und dann verziehen wir uns wieder zu unseren Mänteln.
Der Junge grübelt noch immer. Ob ich ihm mal helfe? Ich krame meinen Bleistiftstummel (nicht ganz 20 Millimeter lang, damit man ihn überhaupt halten kann, steckt er in einer Patronenhülse) und ein Stück Zementsack heraus, schreibe darauf, was als nächstes zu tun wäre und lege den Zettel vor ihn hin. Er starrt verwundert zuerst auf den Zettel und dann auf mich. “Was denn - Du kannst das?”, fragt er verwundert (natürlich russisch). “Ein wenig . . .”, sage ich vorsichtig und versuche dann, ihm mit vielen Gesten, ein paar russischen Brocken sowie mit Zeichnungen und Hieroglyphen auf dem Zementsack klar zu machen, was der “Divide”, mein Ex-Mathepauker, uns beigebracht hat: “Eine Gleichung ist wie eine Waage; was ich auf der einen Seite tue, muss ich auch auf der anderen tun . . .”.
Der Wagen! Raus, aufladen, neue Ladung zurechtmachen - wieder rein. Wir haben schon beinah vergessen, wozu wir eigentlich hier sind. Muss der uns dauernd stören . . .?
Nach dem Aufladen werde ich drinnen mit großer Freude empfangen. Er hat verstanden . . . Nun darf ich zur Kontrolle alles, was er rechnet, nachrechnen; und es scheint alles richtig zu sein. Unterdessen ist noch ein junger Mann gekommen, etwa in meinem Alter; scheint der Bruder des Jungen zu sein. Als der mitkriegt, was vor sich geht, muss ich unbedingt eine ganze Mappe mit irgendwelchen Tabellen und Diagrammen begutachten, und schließlich legt er mir mit sichtlichem Stolz einen Rechenschieber auf den Tisch. Aber da bin ich nun völlig überfordert, das haben wir in der Schule nicht (vermutlich noch nicht) gehabt. Als ich ihm das klar mache, soll ich nun unbedingt lernen, wie man mit dem Rechenschieber umgeht. Wie er 2 und 3 miteinander multipliziert, kapiere ich ja auch; aber warum ich das so kompliziert machen soll, wo ich es doch viel schneller im Kopf kann, begreife ich nicht, und alles, was er mir hinterher klar machen will, bleibt mir genauso unverständlich, so gut er es allem Anschein nach auch mit mir meint.
Mitten in seine Bemühungen hinein platzt mal wieder das Auto und – “Feierabend!”. Der Tag, der so mies anzufangen schien, ist doch letzten Endes noch ganz ordentlich geworden. Wir holen Mäntel und Mützen, verabschieden und bedanken uns, und dann geht es ins Lager zurück.
Im Lager gibt es dann, wie wir es kaum noch anders gewohnt sind, Mittagessen und Abendbrot auf einmal, und dann geht es auf den Strohsack. Kurt hat Neuigkeiten: Die Weihnachtsfeiertage sollen wir frei kriegen, wie das zuhause üblich ist, und die Küche soll schon einiges für eine den Umständen entsprechend feierliche Weihnachtsmahlzeit beiseitegelegt haben. Das hätte ich den Russen nicht zugetraut, dass sie daran denken; denn soviel ich mitgekriegt habe, ist Weihnachten bei denen gar kein Feiertag, die feiern dafür Neujahr.
Mit dem Sandfahren verbringen wir so ungefähr eine Woche. Morgens dauert es seine Zeit, bis wir unser Loch wieder auf haben; dann geht es hoch zu unseren “Wirtsleuten”, und wir machen uns dort nützlich, hacken Holz, schippen Schnee, und ich sehe die Schularbeiten nach. Die Großmutter freut sich, dass es uns gefällt und kocht einen Topf Tee nach dem anderen.
Der letzte Tag dieser Arbeit und bei den freundlichen Leuten ist der 24. Dezember. Wir arbeiten nur bis 13 Uhr, dann geht es ins Lager, Mittag essen, frische Wäsche fassen, und dann wieder raus zum Baden.
Es ist nun schon eine ganze Weile her, dass wir das letzte Mal baden waren. Unsere alte “Banja”, die uns aus irgendwelchen Zuständigkeitsgründen alle 14 Tage betreut hat, ist nämlich schon im Oktober zusammengerutscht - Altersschwäche, nur noch ein Haufen Brennholz. Seitdem ziehen wir gewissermaßen als geduldete Gäste mal hierhin, mal dorthin zum Baden; von Regelmäßigkeit keine Spur mehr. Es ist uns sogar schon passiert, dass wir vor der Badeanstalt umkehren mussten, weil man uns nicht rein ließ.
Für diesmal hat die Kommandantur jedenfalls wieder mal etwas aufgetrieben. Die “Banja” liegt unten am Sosch-Ufer, ganz in der Nähe von Suderemont. Auf dem Wege zu ihr kommen wir an einer kleinen Kirche oder Kapelle vorbei - so etwas habe ich hier noch nie gesehen. Das ganze Kirchlein in Blau und Rot und Gold, und die Zwiebelkuppeln oben drauf völlig vergoldet. Das müsste man sich mal von innen ansehen können!
Dazu ist jetzt aber weder Zeit noch Gelegenheit. Jetzt gehen wir erst mal baden, und das ist viel wichtiger. Durch die unregelmäßige Baderei der letzten Monate und durch den frostbedingten chronischen Wassermangel im Lager sind nämlich die Läuse wieder heimisch unter uns geworden, und wenn ich bis jetzt auch noch verschont worden bin, so ist doch auch hier Vorbeugen besser als Heilen; die Tierchen pflegen zu wandern, und auf unseren engen Schlafplätzen ist da keiner sicher . . .
In der Banja kriegt jeder zuerst einen großen Ring aus Stahldraht, auf den werden sämtliche vorhandenen Kleidungsstücke aufgefädelt, damit sie in die Desinfektionskammer gehängt werden können. Dann gibt es ein Stück Seife und ein neues Handtuch (das alte gibt man ab), und die Baderei kann losgehen. Jedem ein Holzeimer oder eine Blechschüssel und viel, sehr viel, heißes Wasser; nach Bedarf auch kaltes, zum Abschrecken nach der Reinigung, und dann begibt sich, wer fertig ist, auf die andere Seite des Ofens, in dem unterdessen die Klamotten so weit erhitzt worden sind, dass alle Läuse vertrocknen. Das sind so etwa 120 Grad. Man nimmt die heißen Kleidungsstücke in Empfang, zieht sie über die frische Wäsche und geht raus. Strahlende Sonne und so etwa 15 Grad unter Null - und übereinstimmend wird behauptet, daß das der schönste Augenblick an der ganzen Baderei ist: frisch gewaschen, frische Wäsche und dieses herrliche Winterwetter . . .
Auf dem Rückweg erleben wir dann noch eine besondere Überraschung. Aus den Lautsprechern der Stadtfunkanlage, die uns mit ihrer Dudelei den ganzen Tag über schon manchmal zur Verzweiflung gebracht haben, tönt es plötzlich in etwas hartem und holprigem Deutsch: “ . . .und nun für daitsche Gefangene in unsere Stadt - Frohe Wainachten . . .” und dann hören wir “Stille Nacht” als Orchesterstück . . . Das hätte nun wirklich keiner von uns erwartet.
Kurt geht mit dem Schub nach mir baden (die Banja fasst jeweils nur 50 Mann), und so habe ich Zeit, ihm seine Weihnachtsbescherung aufzubauen. Er wird ja wohl kaum etwas für mich haben; er geht auf “Kino Kalinin”, und da gibt's beim besten Willen nichts zu erben, das ist eine ausgesprochene Klamottenbaustelle. Na, ich habe für ihn 5 Portionen Brot zu je 200 Gramm, und als zusätzliche Überraschung endlich vernünftige Springer für unser Schachspiel. Die hat er nämlich nicht fertig gekriegt und da haben wir bisher einfach zylindrische Holzpflöckchen genommen.
Kurt ist dann tatsächlich einigermaßen überrascht, als er sein Weihnachten findet. Zum Dank erzählt er mir dann etwas von einer ganz großen Überraschung, die uns heute noch bevorsteht.
Unten im Gang zwischen den Pritschen ist es unterdessen auch etwas weihnachtlich geworden. Eines von unsern LKW-Kommandos, das heute noch im Wald war, hat ein paar kleine Kiefern mitgebracht; die Spartak-Schlosser haben für Baumschmuck in Form von Aluminium-Drehspänen gesorgt, und so steht nun in jedem Quartier ein Weihnachtsbaum. Kerzen sind allerdings nicht dran, aber ohne die geht es schon mal.
Der abendliche Zählappell fällt heute aus, dafür gibt es gleich Abendessen, anschließend soll “neutraler” Weihnachtsgottesdienst in der Tischlerei (unserer einzigen großen Halle) sein, und hinterher eine Kabarettveranstaltung im gleichen Raum. Das wird ein langer Abend; aber es ist ja schließlich auch Weihnachten, da durften wir zuhause auch immer länger aufbleiben . . .
Es pfeift zum Abendessen. Jetzt also soll die große Überraschung kommen - ich bin ziemlich gespannt. Die ersten Kommandos verschwinden auf dem Hof. Oben wartet unterdessen alles - was gibt es, und, viel wichtiger – wie viel gibt es? Jetzt kommen die ersten zurück. Von allen Seiten wird gefragt: “Wie viel gibt er aus?” – “Soviel Du willst, kriegst Du!”. Das ist natürlich Blödsinn, sind wir anderen uns einig, das kann gar nicht sein; aber der nächste und der übernächste sagen dasselbe, und so entsteht eine lebhafte Diskussion über das Problem, ob überhaupt theoretisch die Möglichkeit bestünde, jedem von uns rund 500 Mann, die wir ja sind, so viel zu essen zu geben, wie er sich wünscht.
Dann sind wir selber an der Reihe - und tatsächlich, der dicke Willy, unser Oberküchenbulle, fragt jeden einzelnen: “Na, wie viel willste heute?”. Mein Kochgeschirr fasst drei Liter (nicht mehr das, das ich mir damals in der Schorfheide voll Schmalz gemacht habe; das hier habe ich seinerzeit auf dem Marsch in die Gefangenschaft gefunden, irgendein großdeutsches Kriegsbeutestück) - und ich riskiere es einfach und sage: “Voll!” - Und wirklich, ohne ein Zeichen der Verwunderung fasst der Willy dreimal mit der Literkelle in den Kübel und füllt mir das Kochgeschirr mit richtiger dicker Erbsensuppe. Dann macht er mir den Deckel (der fasst drei Viertel Liter) mit Erbsenkascha voll (Erbsenpüree würde das zu Hause heißen), und zur Krönung des ganzen gibt es ein Viertel Brot - 500 Gramm. So viel Essen gibt es normalerweise den ganzen Tag, wie ich jetzt zu einer Mahlzeit gekriegt habe!
Den neutralen Gottesdienst macht der dicke Sani, der ja in Zivil Theologiestudent gewesen sein soll. Nach “Es ist ein Ros' entsprungen”, das recht brüchig gemeinsam gesungen wird, liest er die Weihnachtsgeschichte vor – und hat dabei sogar eine Bibel in der Hand: “Und es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot ausging vom Kaiser Augustus, dass alle Welt geschätzet werde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger war in Syrien. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. Und es ging Joseph von Galiläa aus der Stadt Nazareth, ein Zimmermann, und sein Weib Maria, die war gesegneten Leibes - . . .” - und mir fällt ein, daß zu diesem Text Pastor Oeltze uns zuhaus erläutert hat, welche Schwierigkeiten so eine Volkszählung bei Nomadenvölkern macht, und als der Sani dann darüber predigt, dass wir, die wir “noch leben nach dem Willen des Herrn”, ihm dankbar sein müssen für seine Güte, komme ich ins Grübeln darüber, ob die Toten dieses Frühjahrs, die ich liegen gesehen habe, auch alle tot sind “nach dem Willen des Herrn”, und wenn ja, ob das etwa auch an seiner Güte liegt - und dann kommt mir das ganze irgendwie so unwirklich vor, so künstlich, so aufgesetzt oder gewollt, und ich überlege, ob wohl Pastor Oeltze auch so zu Weihnachten gepredigt hätte; und wenn ich daran denke, daß das “Kabarett” hinterher wieder jede Menge zweideutige (oder richtiger: eindeutige) Witze von der Bühne loslassen wird, dann säße ich beinahe lieber auf unserer “maschina” und täte was Vernünftiges . . .
Also warte ich gar nicht bis zum abschließenden Gesang von “Stille Nacht”, sondern verdrücke mich leise, rolle mich auf dem Strohsack in meinen Mantel und versuche, mir vorzustellen, wie die zu Hause jetzt wohl Weihnachten feiern . . . Aber das scheitert schon daran, dass ich ja nur weiß, wie es dort voriges Jahr um diese Zeit aussah und keine Ahnung habe, was jetzt los ist; und so schlafe ich denn ein und merke nicht mal, wie Kurt vom Kabarett zurückkommt.
Den ganzen ersten Feiertag verbringen wir dann auf dem Strohsack. Schlafen, essen, Schach spielen, ein bisschen erzählen, wieder schlafen, wieder essen - herrlich, mal so richtig faulenzen zu können!
Den zweiten Feiertag veranstalten wir dann eine Generalüberholung unserer Klamotten, und als es am Tage danach wieder ans Arbeiten geht, fällt uns das recht schwer. Wie üblich stehen wir erst mal wieder eine Weile, bis unser Wagen kommt; und als er dann kommt, ist es nicht unser Wagen. Zwar sitzt, wie gewohnt, Pjotr in der Kabine, aber statt des gewohnten Studebaker fährt er einen uralten SIS, so etwas ähnliches, wie Ford in Amerika so zu Beginn der 20er Jahre gebaut haben mag. Der Studebaker ist - das kann Pjotr uns nicht verständlich machen, wo er ist; jedenfalls ist er nicht da, und so müssen wir wohl oder übel auf die Klapperkiste steigen.
Pjotr ist mit dem Tausch auch sichtlich unzufrieden; bevor wir aufsteigen, ruft er uns ans Fahrerhaus und klappt ärgerlich die Sitzbank hoch. Darunter steht auf einer alten Matratze und mit etwas Heu gepolstert die Wagenbatterie; auch ein uraltes Modell mit einem gläsernen Gehäuse. ”Steklo (Glas) - Scheiße!”, sagt er und wirft die Sitzbank wieder zu.
Wir holen in der Garage einen “prizep” und fahren “na less”, in den Wald nach Langholz. Langholz - das heißt so etwa 50 bis 60 Kilometer in den Wald hinein brausen, fünf große Stämme aufladen und dann wieder zurück, abladen und Feierabend; auf der Hinfahrt oft mit fremden Fahrgästen, mit denen man sich unterhalten kann - für mich ist das die schönste Tour, die wir fahren können.
Als wir von der Chaussee abgebogen sind und im Wald so etwa zehn bis zwölf Kilometer zurückgelegt haben, geschieht das, was Pjotr scheinbar schon bei der Abfahrt vorausgesehen hat. Ein paar Baumstämme unter dem Schnee, die Vorderräder kriechen schräg drüber, rutschen seitlich ab, der Wagen wird aufgestaucht, der Motor setzt aus und wir stehen. Als wir nach unten geklettert sind, klappt Pjotr seinen Sitz hoch und zeigt uns die Scherben der Batterie. Damit ist die Fahrt vorläufig beendet.
Großer Kriegsrat . . . Neue Batterie, sonst hilft nichts; oder abschleppen? Aber wer - und selbst, wenn wir jemanden von der Straße hier rein holen könnten - ob das in dem Schnee geht? Das müsste schon eine Raupe sein, und wo soll die herkommen? Selber rausschieben? Wer soll das schaffen . . . Wir sind gute zehn Kilometer im Wald drin . . . Also hier bleiben, bis uns wer vermisst? Na, dann gute Nacht, ohne Essen, und in der Kälte im Freien, und wer weiß, ob die uns überhaupt so schnell vermissen . . .?
Schließlich macht Pjotr den einzigen brauchbaren Vorschlag. Irgendwo hier herum muss ein Dorf liegen - suchen, hingehen, wenn Telefon da ist, in der Stadt anrufen, sonst jemand mit dem Schlitten hinschicken; dann Quartier suchen, Essen besorgen, abwarten. Einer bleibt beim Wagen, wenn wir Unterkunft haben, löst ihn ein anderer ab. Anders geht es nicht.
Pjotr lässt das Kühlwasser ab, und Jupp bleibt beim Wagen; schließlich ist er unser Brigadier. Wir anderen ziehen los, Pjotr vorneweg. Und wir haben Glück im Unglück: Schon nach etwa 500 Metern stoßen wir auf eine Schlittenspur, gehen mit ihr mit, einen Kilometer weiter hört der Wald auf, und 500 Meter vom Waldrand entfernt steht etwa ein Dutzend Blockhäuser. Das Dorf! - Und wir haben noch mehr Glück - von der anderen Seite geht eine Reihe zwar schiefe und krumme, aber offensichtlich intakte Telefonmasten in das Dorf hinein.
Am ersten Haus toben ein paar Kinder herum. Als wir herankommen, laufen sie zusammen und bestaunen uns – “Frietz - Frietz!” und so weiter. Pjotr fragt sie etwas, der Schwarm setzt sich in Bewegung, wir hinterdrein. Vor einem Haus machen sie halt, zeigen mit den Händen, erzählen irgendetwas, dann stürmt einer der Jungen hinein und kommt mit einem einarmigen Mann zurück, der etwa 35 Jahre alt sein mag. Mit dem spricht Pjotr eine Weile - soweit ich mitkriege, erklärt er ihm unsere Lage - dann macht der Mann die Tür frei, dreht sich zu uns um und sagt einladend: “Dawai - domoi! (Los schon - ins Haus!)” - was er natürlich nicht zu wiederholen braucht. Wir klopfen uns die Schuhe ab, schütteln den Schnee von den Mänteln und gehen rein.
Drinnen ist es wunderbar warm. Wir schälen uns aus den Mänteln und Steppjacken, kriegen neben der Tür ein paar große Nägel gezeigt, an denen wir unsere Garderobe aufhängen, und sagen dann, wie es sich gehört, das übliche “Seid gegrüßt”", das in der einheimischen Mundart von “Sdrastwujetje” zu einem kurzen “Sdrast” wird. - Der Mann, der mit uns hereingekommen ist, sagt ein paar Worte - er erklärt wohl den beiden Frauen, was los ist - und zeigt dann auf die Bank am Ofen. “Saditje!”.
Irgendwo in der alten Literatur (ich glaube, in der Edda) wird zwar dem Gast empfohlen, seine Augen still zu halten; aber ich muss die Gelegenheit nutzen und mich umsehen. Wer weiß, ob ich je noch einmal so weit in eine Bauernfamilie hier hineinsehen kann? - Das erste, was mir auffällt, ist ein fast weiß gescheuerter Holzfußboden. Darauf ein fast noch weißerer Tisch aus Kiefernholz, drum herum Hocker und Bänke; ein Metallbett mit den Nickelkugeln auf den Häuptern, die wir schon vom Trümmeraufräumen aus der Stadt kennen; in der Ecke über dem Bett ein Heiligenbild - scheint Georg der Drachentöter zu sein - mit einem kleinen Öllämpchen davor, über dem Georg ein Bild von Lenin. Von der Decke eine eiserne Kette, daran ein Kasten, der als Kinderbett dient. Ein Mädchen von ungefähr 12 Jahren schaukelt diese etwas seltsame Wiege hin und her - jedenfalls braucht es keine Angst zu haben, dass sie umfallen könnte. Ein kleiner Junge von vielleicht vier Jahren kriecht zwischen dem Tisch und den Hockern umher. Am Tisch sitzt die jüngere der beiden Frauen und schreibt, die ältere fuhrwerkt neben uns mit einer langen Stange im Ofen umher.
Die Ablösung ist raus, Jupp ist gekommen und Pjotr ist vom Telefon zurück. Viel hat er nicht erreicht; sobald es möglich ist, sollen wir eine neue Batterie kriegen, aber wann das sein wird, konnte ihm keiner sagen. Bis dahin sollen wir hier bleiben und gut auf den Wagen aufpassen. Auch gut oder “Nitschewo” - das ist dann eben mal ganz was anderes. Von der Seite haben wir das Leben hier noch gar nicht kennen gelernt.
Unser Wirt ist der Natschalnik vom Dorf, wie Pjotr das ausdrückt, also wohl so was wie ein Bürgermeister. Außer ihm sind noch seine Frau, ihre Mutter und die drei Kinder im Hause. Da hätten wir also schon die ganze Familie kennen gelernt. Die Einrichtung ist etwas dürftig, aber das Haus ist ja auch noch ganz neu und völlig neu eingerichtet; das Dorf haben die Deutschen beim Rückzug restlos abgebrannt.
Die junge Frau räumt jetzt ihren Schreibkram zusammen, die Alte wischt den Tisch ab und schüttet dann einen großen Topf mit Kartoffeln direkt auf die Tischplatte. Daneben stellt sie eine Schüssel mit Sauerkraut und ruft zum Essen. Wir wissen nicht so recht - es sind zwar für fünf oder mit Pjotr für sechs Personen eine ganze Menge Kartoffeln, aber ob wir wirklich auch . . . Aber da lädt sie uns ausdrücklich ein: “Nu dawai, Fritzi!”. Na, wenn das so gemeint ist, dann bleibt nicht viel von unserer Schüchternheit, dann sagen wir natürlich nicht nein . . . Wir setzen uns mit um den Tisch herum, ziehen unsere Löffel heraus, und dann ist recht schnell nichts mehr von den Kartoffeln übrig.
Nach dem Essen spielt Pjotr mit dem Hausherrn Schach, und wir stehen drum rum und kiebitzen. Die beiden spielen nicht schlecht, und schließlich endet das Spiel dann auch remis. Dann geht die Ablösung raus zum Wagen. Der Hausherr gibt Karl, der an der Reihe ist, einen dicken Pelz und ein großes Bund Stroh mit, denn er soll über Nacht draußen bleiben. Als er mit Jupp, der ihn rausbringt, fort ist, müssen wir noch einige Strohbunde reinholen; die werden zwischen dem Ofen und dem Tisch ausgebreitet, und dort sollen wir schlafen.
Anbrennen kann übrigens nichts dabei, denn der Ofen ist schon lange aus. Trotzdem gibt er noch eine Menge Wärme her; bis so ein Steinklotz - er ist fast so hoch wie die Stube, anderthalb Meter breit und fast zwei Meter tief - bis der auskühlt, das dauert schon eine Weile. Die beiden Kinder klettern zur Nacht hinauf und machen sich da oben ihr Bett zurecht.
Auf diese Weise vergehen drei Tage - wir machen uns nützlich, wo wir können, sägen und hacken Holz, schippen Schnee, holen Wasser vom Brunnen, dürfen uns dafür drei Mal am Tag an Salzkartoffeln mit Sauerkraut satt essen und fühlen uns ganz wohl dabei. Gegen Mittag des vierten Tages - ich bin grade dran mit der Wache am Wagen, habe mich in den Pelz gewickelt und die Füße im Stroh vergraben - kommt ein LKW durch den Wald geschaukelt. Unsere Batterie . . . Schade eigentlich. Von mir aus hätte das noch ein paar Tage so weitergehen können. Na, nun ist die schöne Zeit also vorbei. Der LKW kommt ran, ich klettere aus dem Fahrerhaus, klopfe mir das Stroh ab und gehe ihm entgegen. Den Fahrer, der herausgeklettert kommt, kenne ich nicht, und von dem, was er sagt, kann ich auch kaum etwas verstehen; also zeige ich so ungefähr in Richtung Dorf und sage auf Deutsch: “Die sind alle im Dorf!”. Das versteht er offensichtlich, denn er steigt wieder ein und brummt in der Richtung, die ich gezeigt habe, weiter.
Kaum eine Viertelstunde später ist er wieder da, Pjotr im Fahrerhaus, unsere Leute hinten auf der Ladefläche. Er hält, Pjotr baut seine Batterie ein und füllt neues Kühlwasser aus dem Kanister, den sein Kollege mitgebracht hat, ein, dann spannt sich der andere davor, wir schieben, der Motor verschluckt sich ein paar Mal, dann läuft er rund, die Räder mahlen im Schnee, greifen - geschafft! Also ab, “nach Hause”!
Vorher beladen wir allerdings beide Fahrzeuge, das fremde und unser eigenes, mit ein paar riesigen Kiefernstämmen. Irgendwie muss man sich ja für die drei Tage Nichtstun erkenntlich zeigen.
Im Lager werden wir empfangen wie Weltreisende. Das Essen von drei Tagen steht uns zu - und ist da. Meins kriegt allerdings zum größten Teil Kurt; mit neun Litern Suppe werde ich nicht allein fertig, und schließlich habe ich ja in den drei Tagen auch nicht gerade gehungert. Na, und dann müssen wir natürlich erzählen. Schließlich sind wir ja die ersten, die eine Russenfamilie im Frieden bei sich zu Haus kennen gelernt haben. Wie nicht anders zu erwarten, finden unsere Berichte sehr geteilte Meinungen - von “Hätte ich nicht gedacht” bis “eben typisch russisch”. Mir wird allerdings, je mehr ich erzählen soll, ein Gedanke immer wichtiger: Wenn das vor zwei oder drei Jahren mit umgekehrtem Vorzeichen in Deutschland passiert wäre, und ein Trupp russischer Kriegsgefangener wäre so zu einem deutschen Bauern in die Wohnung gekommen - wie wäre das wohl ausgegangen?
Am nächsten Morgen kommt kein Pjotr und kein LKW. Statt dessen erscheinen gegen halb neun zwei etwa zwanzigjährige Mädel mit Pferdeschlitten und fragen nach uns, und der Wachhabende schickt uns mit raus. Was wir wohl bei denen sollen?
Mit den beiden werden wir schnell bekannt. Die blonde heißt Olja, die schwarze Nina - allerdings ist von blond und schwarz vor lauter Kopftüchern nicht allzu viel zu sehen. Pjotrs Wagen fährt nicht - warum, ist nicht zu verstehen - und darum sollen wir jetzt mit den beiden Holz fahren. Das kann nicht schlimm werden, denn solches Holz, wie wir es bisher gewöhnt sind, hat auf den kleinen Panjeschlitten kaum Platz. Vorläufig kutschieren wir mit den beiden erst mal durch die ganze Stadt, vorbei am Baubüro und dem Kindergarten, vor dem wir im Sommer Steine geputzt haben, runter an das Ufer des Sosch.
Dort liegen große Stapel Floßholz am Wasser oder besser am Eis, denn der Sosch ist völlig zugefroren. Das Holz muss hinauf auf die Höhe des Steilufers, damit es dort auf LKW verladen werden kann. Dazu werden die Stämme einzeln mit dem dicken Ende auf die Schlitten gelegt und festgebunden, und dann geht es mit Anlauf und viel Geschrei durch einen Einschnitt nach oben. Dort wird abgeladen, dann geht's wieder runter, und der nächste Stamm ist an der Reihe. Das Beladen des LKW, der die Stämme von Zeit zu Zeit abholt, ist nicht unsere Sache; der bringt sein Ladekommando selbst mit. So haben wir es ziemlich ruhig, d.h., wenn das Pferd den Hang mit dem richtigen Schwung erwischt. Wenn nicht, bleibt die ganze Fuhre mitten auf der Steigung stecken, und dann heißt es zufassen und schieben, sonst rutscht uns die ganze Angelegenheit rückwärts auf das Eis, und wenn das auch ziemlich dick ist, möchten wir doch lieber nicht ausprobieren, was dann passiert.
Als es zum Mittagessen ins Lager geht, packen wir uns aus alter Gewohnheit jeder eins von den Unterlagehölzern auf die Schulter. Holz wird man im Lager immer los, und ganz besonders, wenn es so schön durchgetrocknet ist wie dieses hier; das nimmt die Bäckerei und zahlt dafür mit Brot.
Die beiden Mädels sehen uns zu. Warum wir das machen, fragen sie; und als wir es ihnen erklärt haben, fangen sie an, sich zu wundern. Bäckerei und kein Holz? Dabei wäre doch so viel Holz hier! Wir sollten doch ruhig einen größeren Stamm nehmen! - Sicher gut gemeint, aber wer soll denn zwölf laufende Meter Kiefer mit einem Durchmesser von etwa 40 cm am Stammende tragen?
Am Nachmittag geht diese Beschäftigung weiter, und als es anfängt zu dämmern, fahren wir die letzten zwei Stämme hoch. Die dürfen wir aber nicht abladen, sondern die bleiben auf den Schlitten liegen und werden durch die ganze Stadt geschleift. Als wir dann am Lager angekommen sind, lassen sich die Mädels das große Tor öffnen, statt uns fünf Mann, wie das sonst üblich ist, durch die Wachbude zu schicken. Der Wachhabende knurrt zwar, macht aber schließlich auf, und als wir drin sind, kommen die beiden Schlitten hinter uns her, und Olja fragt: “A gdje wasche pekarnije? Wo ist denn nun Eure Bäckerei?”.
Artur, der Bäcker, staunt nicht schlecht, als er die beiden Enden Holz sieht, die ihm da frei Haus geliefert werden. Wir laden ab, er verschwindet und kommt mit einem ganzen Vierpfundbrot zurück. Das will er der Nina in die Hand drücken, aber die wehrt ganz entschieden ab. Da versucht er sein Glück bei Olja; die nimmt das Brot, dreht sich um, drückt es Jupp in die Hand und sagt: “Für Euch alle, ja?”.
So geht das jetzt jeden Abend, fast eine ganze Woche lang. Wir liefern der Bäckerei mehr Holz, als sie überhaupt verfeuern kann; der Stapel vor dem Eingang wächst zusehends. Dann allerdings ändert sich unsere Arbeitsweise, und der einträgliche Nebenverdienst fällt weg. Dafür aber bietet sich die Gelegenheit, mehr von der Stadt kennen zu lernen.
Die Änderung besteht darin, daß wir die Stämme nicht mehr auf dem Steilufer stapeln, sondern gleich durch die halbe Stadt zum “Kino Kalinin” transportieren. Dort ist in den letzten Wochen schwer was los; der Bau soll bis zum 10. Februar (da sind irgendwelche Wahlen oder so etwas) fertig sein, und das soll wieder mal wie bei den Pharaonen mit einem Massenaufgebot an Arbeitern geschafft werden. Mir fällt bei solchen Gelegenheiten immer mein Mathepauker und die Dreisatzrechnung ein: wenn acht Maurer ein Haus in zehn Monaten fertig haben – wie viel Maurer braucht man dann, um das Haus in zwei Tagen fertig zu kriegen?
Unsere Stämme dienen dabei als Brennholz. Immerhin ist jetzt nicht gerade die zum Mauern geeignetste Jahreszeit; und so werden die Ziegelsteine am Feuer warm gemacht, und der Mörtel wird mit warmem Wasser eingerührt. Dabei geht natürlich einiges an Holz drauf, und dafür haben wir zu sorgen.
Brigadier auf “Kino Kalinin” ist der Mindt - derselbe, der damals auf Jupp Mordhorst und seine hundert Rubel so neidisch war, als die “Krestjanskaja” termingerecht zum 7. November fertig wurde. Na, jetzt kann er sich selber so eine Prämie verdienen; und wenn man sieht, wie er auf dem Bau hin- und herjagt und seine Leute in Bewegung hält, dann merkt man, daß er sich das auch vorgenommen hat. Nur gut, dass wir mit diesem Zirkus nur indirekt zu tun haben.
Dafür, daß das nicht so bleibt, ist aber schnell gesorgt. Heute ist Kommissionierung gewesen, und dabei bin ich in die Arbeitsgruppe II eingestuft worden. Das war ich ja vorher auch schon; aber irgendjemand, der es gut mit den Kriegsgefangenen meint, hat entschieden, daß die schwere Arbeit in den Transportkommandos nur von der Arbeitsgruppe I gemacht werden darf. Also hat man mich einem anderen Kommando zugeteilt, wo ich es leichter haben soll; und das ist ausgerechnet das “Kino Kalinin” . . .
Dabei kommt mir die neue Arbeit wesentlich schwerer vor als die alte. Ich klopfe aus alten Beton- und Granitstufen von ehemaligen Steintreppen Splitt, der in die neuen Betonfundamente kommt, oder ich stemme Löcher in die beim Brand stehen gebliebenen Mauern als Auflage für irgendwelche Eisenträger. Das zieht ganz schön in den Armen, so den ganzen Tag mit einem Fünf-Pfund-Hammer zu hantieren . . . Das einzige, was mich einigermaßen mit der ganzen Angelegenheit aussöhnen kann, ist, daß es auch hier eine zusätzliche Mittagsmahlzeit vom Baubüro gibt.
Also - Sachen gibt es auf dieser Welt, die müssten eigentlich verboten sein. Man sollte einfach nicht für möglich halten, was für Idioten in Gottes weiter Welt herumlaufen . . . Aber ich will von vorne anfangen. Wir haben von irgendwoher einen Schub Offiziere ins Lager gekriegt - lauter solche Leutnants und Oberleutnants, die bisher nicht zu arbeiten brauchten, Das wäre an und für sich nicht weiter aufregend, wenn auch keiner so recht verstehen will, daß die Verpflegung für diese Herrschaften extra gekocht wird und besser ist als unsere. Viel mehr ärgert uns da schon, daß die nun, da sie arbeiten sollen, alle als Brigadiere eingesetzt werden, obwohl sie vom Bauwesen absolut keine Ahnung haben. Uns, die Steineklopfer vom Kino Kalinin, hat nun auch so ein Leutnantchen - nicht viel älter als ich - übernommen und den Georg, einen alten Tiefbaupolier, abgelöst. Zur Begrüßung hat uns doch dieser Herr antreten lassen, wie das vor einem Jahr bei Preußens so üblich war, so richtig mit “Stillstan'n” und “Richt' Euch” und “Meldung an den Brigadeleiter” - und dann hat er uns eine Rede gehalten und uns erklärt, er hätte absolut kein Namensgedächtnis, und er käme von der Artillerie, und da wären die Kanoniere immer schon nummeriert gewesen, und das würde er nun bei uns auch einführen. “Lasse jetzt durchzählen, und dann merkt sich jefälligst jeder seine Nummer - verstan'n?”.
Irgendwie hat das sogar die letzten ewigen Marschierer bei uns getroffen. Wir gehen zwar auseinander, als er “An die Arbeit - weggetreten!” kommandiert, aber ans Arbeiten denkt keiner. Alles knurrt. Plötzlich geht Georg auf den “Herrn Leutnant” zu. “Herr Leutnant - Nummer Eins bittet eine Meldung machen zu dürfen!” - mit einer Lautstärke und einer Haltung, mit der er sich auf einem preußischen Kasernenhof unseligen Angedenkens einen Tag Sonderurlaub verdient hätte. – “Wat ha'm Se denn, Nummer Eins?” - Nummer Eins bedauert, Herrn Leutnant mitteilen zu müssen, daß sich kein Mann in der Brigade mehr an Herrn Leutnants Namen erinnern kann. Nummerierung der Leute ist daher auch durchaus im Sinne der Brigade. Da aber nur für zwölf Mann Norm erfüllt wird und die Nummern Eins bis Zwölf schon durch Herrn Leutnant vergeben sind, bleibt für Herrn Leutnant nur Nummer Null. “Bitte wegtreten zu dürfen, Herr Null!”. Spricht´s, baut eine phantastische Kehrtwendung und sagt in unser losplatzendes schallendes Gelächter hinein: “Kommt, Leute, unsere Norm erfüllt sich nicht von selbst. Wir lassen uns doch von dem Heini nicht von der Arbeit abhalten!”.
Am nächsten Morgen ist Georg wieder Brigadier, und der “Herr Null” ist Schreiber beim Arbeitseinsatzleiter. Nun ist zwar der Arbeitseinsatzer nur Feldwebel gewesen, und insofern dürfte es dem “Herrn Null” nicht ganz leicht sein, sich da einzuordnen - aber trotzdem: Warum landen solche Kerle immer auf solchen Druckposten? Ungewohnter als für mich kann für den die Arbeit mit Hammer und Meißel auch nicht sein, und es würde ihm sicher nichts schaden, mal diese Seite des Lebens praktisch kennen zu lernen . . .
Im Zusammenhang mit den Offizieren, die man da bei uns einquartiert hat, ist von der russischen Lagerkommandantur angeordnet worden, daß “Offiziersdienstgrade durch Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung oder durch Vorbeigehen in strammer Haltung” zu grüßen sind. Das erinnert mich fatal an das “Schwarze Brett” im Mai in Deutsch-Eylau, und hier ist sich nun fast das ganze Lager einig: So etwas kommt überhaupt nicht in Frage. Bisher haben wir nicht mal die russischen Offiziere gegrüßt (weil das ja ihre eigenen Soldaten auch kaum machen) - und nun diese Figuren? - Georg fasst das ganz einfach zusammen: “Die, die es wert wären - die legen keinen Wert darauf; und die, die jetzt noch Wert darauf legen - die sind es nicht wert”.
Über all der Aufregung und dem Ärger mit den Offizieren und der täglichen Klopferei, in der ich nun schon einige Übung habe, geht es nun schon gegen Ende Januar. Das Neujahrsfest mit viel Trubel und ein paar Betrunkenen (natürlich außerhalb des Stacheldrahts) ist vorbei; vorbei ist auch der 6. Januar, der Dreikönigstag, an dem es aussah, als ob die Kirche gegenüber dem Lagertor (keine so bunte wie die unten am Soschufer) bersten sollte, soviel Menschen strömten hinein. Es ist immer kälter geworden, die Wasserleitung im Lager ist völlig eingefroren und das Wasser für Küche und Bäckerei wird in Kübeln auf Pferdeschlitten irgendwo von außerhalb geholt. In dieser Beziehung bin ich froh, daß ich auf dem “Kino” arbeite. Hier muss ja zum Mauern immer heißes Wasser da sein, und so kann man sich wenigstens einmal am Tag kurz vor Feierabend Gesicht und Hände notdürftig reinigen.
Dann kommt ein Tag, da bin ich der “Oberste” auf der ganzen Baustelle. Ich stehe nämlich auf einer langen Leiter und stemme in die Reste der Brandmauer des Nebenhauses, etwa 10 Meter über der Erde, Löcher für einen Isolatorenträger für den Kraftstromanschluss für das “Kino”. Das ist, wie gesagt, die höchste Arbeitsstelle auf dem Bau - aber sie reicht eben deswegen aus, mir den Rest zu geben. Jeder andere, mag er arbeiten, wo er will, kann sich im Laufe des Tages mal für kürzere oder längere Zeit an einem warmen Plätzchen verkriechen, bis der Mindt ihn wieder an seine Arbeit jagt; ich aber auf meiner einsamen Höhe kann mir das nicht leisten. Wenn ich fehle, fällt das von jeder Stelle des Baus aus auf. Einmal habe ich es probiert, mich kurz neben dem Warmwasserkessel im Keller aufzuwärmen; aber ich war kaum runter von der Leiter, da war der Mindt schon da und jagte mich fast mit Gewalt wieder die Leiter hoch. So bin ich den ganzen Tag nur zur Mittagspause auf die Erde gekommen.
Am nächsten Tag macht sich das natürlich bemerkbar. Ich bin völlig fertig; kaum, daß ich beim Gehen ein Bein vor das andere kriege. Arbeiten wird wohl überhaupt nicht gehen. Trotzdem schleppe ich mich auf den Bau; denn krank melden hätte ich mich am Abend vorher müssen, und da hoffte ich noch, ich wäre am Morgen wieder beieinander. Na, wenn wir heute zurückkommen, gehe ich dann aber gleich zum Arzt.
Auf der Baustelle verziehe ich mich sofort neben den Wasserkessel. Kaum sitze ich, ist auch der Mindt schon da. “Was machst´? Werd' ich dir lernen arbeiten!”, faucht er mich in seinem ostpreußischen Platt an und jagt mich, ohne mich überhaupt anzuhören, raus und hoch auf die Leiter. Ich habe eine Heidenangst davor, neben die Sprossen zu treten und wieder unten zu landen - aber bis obenhin geht alles gut, wenn ich auch mit der Linken noch Hammer und Meißel festhalten muss. Als ich aber den Meißel ansetze und den Hammer zum ersten Schlag heben will, scheint sich plötzlich die ganze Baustelle zu drehen. Mir gehen blitzschnell verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf - runterfallen (geht auf keinen Fall gut, unten liegt alles voll Trümmer) - den Hammer loslassen und mich festhalten (dann liegt der Hammer unten, und ich muss wieder runter und ihn holen und dann wieder hoch) - den Meißel fallen lassen, damit die linke Hand frei wird (das bringt genau so viel) - und dann fällt der Hammer ganz von selbst, und ich halte mich fest und warte, daß das Karussell um mich rum wieder zur Ruhe kommt. Dann klettere ich nach unten - langsam, ganz langsam, nur nicht daneben treten, nur nicht wieder schwindlig werden, ganz langsam . . . Mindt ist fort, hat sicher schon wieder einen anderen “Drickeberjer” entdeckt, den er jagen muss. Da liegt der Hammer, den muss ich aufheben - geht aber nicht, ist viel zu schwer - und der Meißel? Ach ja, liegt nun noch oben. Runterholen? Geht auch nicht, komme ja die Leiter nicht wieder rauf . . . Wie soll ich aber ohne Meißel arbeiten? - Ach was, arbeiten - dazu müsste ich ja auch wieder die Leiter hoch . . . Langsam tappe ich Schritt für Schritt zurück in den Keller und falle dort auf einen Zementsack neben dem Wasserkessel. Nichts mehr sehen, nichts mehr hören . . .
ch weiß nicht, wie lange ich dort gelegen habe, als mich jemand an der Schulter rüttelt. Das ist doch nicht der Mindt? Ach wo, das ist der russische Bauleiter, der Ingenieur . . . “Was ist Sie? Ist Sie krank?”, radebrecht er. Ich nicke mit dem Kopf. Ich würde ihm ja gerne erklären, was mit mir los ist, aber das Sprechen ist so schwer, und mir fällt auch kein einziges russisches Wort ein . . . “Wie Ihre Name?”. Ich muss ein paar Mal ansetzen, bevor ich ihm sagen kann, wie ich heiße. Er nickt mit dem Kopf und geht, und ich rutsche wieder weg in irgendetwas Graues, was schließlich den ganzen Keller ausfüllt . . . Dann rüttelt mich wieder jemand. Ach ja, der Ingenieur . . . der war doch schon mal hier? “Wot dag, Ihre Essen!”, sagt er und hält mir mein Kochgeschirr hin.
Ist doch ein feiner Kerl . . . Keiner hat an mich gedacht, und er geht, ohne ein Wort zu sagen, und holt mir mein Essen . . . Dabei kann ich's, so gut er's gemeint hat, gar nicht brauchen . . . Ich versuche zwar, mir klar zu machen, daß ein Mensch in meiner Lage essen muss, um bei Kräften zu bleiben - und daß so eine heiße Suppe mich sicher doch von innen wärmen würde - aber ich kriege einfach keinen Löffel voll runter . . . So schenke ich das Essen dem Heizer am Wasserkessel. Der sagt natürlich nicht “Nein”, und als er fertig ist, deckt er mich dafür mit seinem Mantel zu, der bis jetzt an der Wand hing.