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Episoden

Drei Musiker

1.

Wir waren aus der eingezäunten Siedlung in Deutsch-Eylau in das kleinere Zeltlager umgezogen, freuten uns über die - endlich - einigermaßen vernünftige Unterbringung und darüber, dass es eine Küche gab, die uns einmal täglich ein halbes Kochgeschirr voll dünne Suppe und ein Stück Brot zuteilte, und vergingen vor Langeweile.

In einem Zelt waren immer acht Mann untergebracht. Ich lag mit Kurt Müller zusammen, mit dem ich in der Schorfheide in Gefangenschaft gegangen war und den ich hier wiedergetroffen hatte; den Rest des Zeltes belegten sechs Mann von einer Arbeitsdienst-Flakbatterie aus der Gegend von Coburg, und ihr Bayrisch-Fränkisch verstanden wir beide nicht gerade gut. Besser war die Verständigung mit den Kumpels aus dem nächsten Zelt, die aus Berlin und Brandenburg stammten.

Unter denen war einer - wesentlich älter als wir - der hatte sich an der Küche ein paar ausgediente hölzerne Verpflegungskisten organisiert, hatte auch irgendwie ein Messer bis hierhin durchgebracht und schnitzte jetzt den ganzen Tag an irgendwelchen kleinen Brettchen herum; schnitzte, schlug mit dem Messergriff gegen das Holz, hielt das Brettchen ans Ohr, schnitzte wieder, horchte wieder, legte das Brettchen sorgfältig in seinen Brotbeutel und begann das nächste und ein drittes und  . . .

Eines Tages verkündete der Lagerführer bei der allmorgendlichen Zählung, dass nach dem Mittagessen auf dem Platz vor der Küche der „Kamerad Engel“ ein Konzert geben würde. Ein Konzert  . . .  Zwar hatte keiner eine Vorstellung von dem „Kameraden Engel“, aber - endlich mal etwas anderes als dauernd nur auf dem Sand zu liegen und Parolen zu spinnen! So war die Fläche vor den Essenschaltern denn voll „bis auf den letzten Platz“, und alles wartete gespannt auf das Konzert.

Der angekündigte „Kamerad Engel“ entpuppte sich als unser Zeltnachbar, der mehrere Tische aus der Küche zusammenstellte, darauf seine Brettchen sortierte und dann mittels zweier Holzschlegel mit atemberaubender Geschwindigkeit darauf herum trommelte. Plötzlich kam da eine Erinnerung - diese Melodie  . . . Die kannte ich doch? „Hölzernes Gelächter, auf dem Xylophon gespielt von Kurt Engel“ sagte der Ansager im Radio, wenn die zu hören war  . . .

Da war der Kumpel von nebenan mit seiner Schnitzerei also der Kurt Engel aus dem Radio, und seine Brettchen waren ein Xylophon, und darauf spielte er jetzt den ganzen Nachmittag - lauter Melodien, die wir alle von früher kannten, und das war beinahe wie ein Stückchen Zuhause in der großen Langeweile und Ungewissheit, in der wir alle lebten  . . .

2.

Als wir nach unserem Einzug in die Stadtbadruine in Gomel mit dem Einrichten so einigermaßen fertig waren, begann die sowjetische Lagerkommandantur, sich auch um die kulturelle Arbeit im Lager zu kümmern. Musiker wurden gesucht, Sänger, Schauspieler und Rezitatoren; aber es fand sich nur ein einziger unter uns, der in diesem Metier zu Hause war, ein Obergefreiter von den Helaer Kapitulanten, ein ganz stiller und unauffälliger Kumpel. Bruno Kaiser hieß er, und jetzt stellte sich heraus, dass er in Zivil Konzertmeister im Großen Orchester des Reichssenders Breslau gewesen war. Na ja, wenn er eine Geige hätte  . . .

Der Kommandant besorgte für Bruno eine Geige, und er verschaffte ihm eine Arbeit im Lager, bei der er seine Hände schonen konnte und nicht mit uns Steine abputzen musste. Bruno wurde Schreiber beim Lagerführer und kriegte Zeit zum Üben auf seiner Geige, und dann wurde ein „Programm“ vorbereitet. Die Geige allein konnte so ein Programm natürlich nicht bestreiten, und so kriegte Bruno einen zweiten Mann an die Seite gestellt - oder besser übergeordnet.

Der zweite Mann war ein Oberfeldwebel, auch von den Helaern, ein Großmaul erster Klasse und - so erzählte man sich - bekannt dafür, dass er früher, in den „herrlichen Zeiten“ des deutschen Kommiss, für die Offiziere die „Kameradschaftsabende“ organisierte.

So ging er auch an das geplante „Kulturprogramm“ heran. Im Ergebnis erlebten wir dann an einem Sonntagnachmittag etwas, das wir früher, im Sommerlager der Hitlerjugend, als „Lagerzirkus“ bezeichnet hätten - all die uralten Witze mit dem Biss in das Stück Seife (an Stelle der versprochenen Schokolade), mit der Schüssel Wasser, die plötzlich statt des Stuhles dort stand, wo sich ein Ahnungsloser hinsetzen sollte, und mit dem „Kettensprenger“, der die Kette mit Wasser aus einem Eimer besprengte - von Bruno untermalt und begleitet mit der „Wilhelm-Tell-Ouvertüre“, der großen Arie aus “Martha“ von Flotow und ähnlichem. Bruno gab sich redliche Mühe, und soweit ich das einschätzen konnte, spielte er auch wirklich gut; aber gegen diesen Klamauk kam er einfach nicht an.

Wir haben dann in diesem Lager auch kein zweites “Programm“ unter Brunos Mitwirkung erlebt.

3.

Als wir im Lager in Rjetschiza den Winter 1946/47 so ziemlich hinter uns hatten, tauchte in der Lagerleitung ein neues Gesicht auf. Der Neue nannte sich „Antifa_Propagandist“ und organisierte alles Mögliche, von einem „Zirkel zum Studium des historischen und dialektischen Materialismus“ bis zu einer „scenischen Lesung“ von Schillers „Räubern“ am 1. Mai. So fing er denn auch an, sich um ein „Lagerorchester“ zu kümmern, und auf seine diesbezügliche Anfrage meldeten sich drei Mann - ein Schifferklavierspieler, einer, der behauptete, Trompete spielen zu können, und ein Schlagzeuger.

Ein Akkordeon und eine Trompete wurden irgendwie beschafft, und der Schlagzeuger baute sich aus einem großen und einem kleinen Sperrholzfass etwas, das man mit viel Phantasie für große und kleine Trommel halten konnte - und dann wurde geprobt. Die Proben konnte man im ganzen Haus hören, und sehr schnell merkten wir, dass der einzige, der sein Instrument wirklich - und sogar virtuos - beherrschte, der Akkordeonspieler war. Der Trompeter hatte immer wieder Mühe, den Ton zu erwischen, der gerade gebraucht wurde, und das Schlagzeug hörte sich an, wie sich eben Sperrholzfässer anhören, wenn man darauf schlägt; aber das muss nicht unbedingt an dem Schlagzeuger gelegen haben.

Ich weiß nicht, ob es dem Propagandisten nicht gelungen war, Noten zu beschaffen, oder ob vielleicht auch unsere Musiker gar keine Noten kannten - jedenfalls spielten sie alles, was sie spielten, „aus dem Hut“, und im Endeffekt konzentrierte sich das Repertoire auf drei Stücke, die der Schifferklavierspieler besonders gut beherrschte - „Alexanders ragtime-band“ und „Begin the beguine“ und ein drittes Stück der gleichen Stilrichtung, von dem keiner der Musiker den Titel kannte, das mir aber sehr vertraut vorkam. Es weckte irgendwelche Erinnerungen an die Zeit bei mir, in der mein Vater noch bei uns wohnte und in der auf unserem „Electrola“ -Grammophon noch an anderen Tagen als zu Weihnachten Musik gemacht wurde  . . .

Irgendwann kam mir dann plötzlich ein Lichtblick, und ich wusste: das war „In A Persian Market - played by Marek Weber and his orchestra“. So jedenfalls stand es auf dem rotbraunen, goldbeschrifteten Etikett der Electrola-Platte, die wir noch zu Hause haben mussten - und nun hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als dem Akkordeonspieler diese meine Erkenntnis mitzuteilen. „Na ja - Wichtigkeit - hat sich auch ohne Namen ganz gut angehört, denke ich!“ sagte er und ließ mich stehen. Immerhin hatte ich aber die Genugtuung, dass beim nächsten öffentlichen Auftritt unserer Musikanten auch diese Melodie mit ihrem Titel angekündigt wurde.

Als der „Antifa-Propagandist“ dann am Ersten Mai mit uns eine „Demonstration“ um das Lagergebäude veranstaltete, marschierten die drei Musiker an der Spitze des Zuges. Wenn ich mich recht erinnere, hatten sie für diese Gelegenheit „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ eingeübt, und wir sollten mitsingen; aber den Text, der dort gebraucht wurde, kannten die meisten von uns nicht, wir waren alle an das „Brüder aus Zechen und Gruben“ aus den letzten zwölf Jahren gewohnt, und das passte wohl nicht mehr so recht in die Zeit - mit dem „Hitler ist unser Führer, ihn lohnt nicht goldener Sold“ in der zweiten Strophe  . . .

Emil und Heinz

Im Lazarett in Gomel tauchten eines Tages zwei sonderbare Figuren unter uns auf. Der eine war so etwa 40 Jahre alt und trug das blau-weiß gestreifte Zeug, das in Deutschland die KZ-Häftlinge getragen hatten, mit einem großen roten Dreieck und einer sechsstelligen Nummer auf der linken Brustseite; der andere war eigentlich noch ein kleiner Junge, vielleicht so an die 10 bis 12 Jahre, und der trug eine richtige Uniform von der sowjetischen Armee, mit Russenkittel, Stiefelhosen, Koppel mit Sternenschnalle und sogar passenden Stiefeln. Sie bezogen eine kleine Stube in der Baracke, in der die Bekleidungskammer der Wachmannschaften untergebracht war, und wurden in der Verpflegungsliste des Lazaretts geführt. Durchs Tor durften sie gehen, wie es ihnen passte, sprachen beide perfekt Deutsch - der Kleine aber auch recht gut Russisch - und überhaupt schienen sie wohl etwas Besonderes zu sein.

Als wir wie üblich am Abend auf den Bänken vor der Lazaretttüre saßen und klönten, kamen beide dazu. Es gab natürlich eine Menge Fragen, und dabei stellte sich dann heraus - der Alte hieß Emil Dombrowski und war in Auschwitz im KZ gewesen. Auschwitz kannte ich bis dahin nur aus Artikeln im „Freien Deutschland“, der Zeitung des Nationalkommitees, die uns zwar unregelmäßig, aber doch des Öfteren erreichte; Auschwitz war so ein Lager wie Ravensbrück, das ich in den ersten Tagen meiner Gefangenschaft kennengelernt hatte, aber wohl noch schlimmer. Nun reiste er von Lager zu Lager und hielt Vorträge über die KZ's und kannte sich da anscheinend wirklich gut aus; denn als ich ihm erzählte, dass ich im Südharz zu Hause sei, sagte er sofort: „Da war doch bei Nordhausen die V-Waffen-Fabrik, das Lager „Dora“? Die wurde doch auch mit Leuten von uns betrieben - da sind viele gestorben!“

Der Kleine hieß Heinz, stammte aus Ostpreußen und war dort 1944 von einer russischen Artillerieeinheit aufgelesen worden. Vater Soldat, Mutter in dem Durcheinander auf der Flucht plötzlich weg, er ganz alleine - und mit einem Mal die Russen da. Die hatten ihn dann wohl als so eine Art Maskottchen mitgeschleppt, und es war ihm gut gegangen - bis die Einheit kurz nach Kriegsende aufgelöst wurde. Seitdem musste sich der Emil um ihn kümmern. Ehrlich - der Emil tat mir leid. Der Bengel war derartig vorlaut und verzogen  . . . Ich hatte ja zuhause auch Brüder in dem Alter; wenn mir einer von denen so dumm gekommen wäre, wie der Heinz hier zu dem Alten war - da hätte es längst geklatscht gehabt  . . .

Das ging ein paar Tage so, bis die beiden wieder weiterreisten; tagsüber war der Emil in den Lagern draußen und hielt seine Vorträge, und der Bengel trieb sich im Lager rum und fiel allen und jedem auf die Nerven. Das Betreten der Küche war nur dem Küchenpersonal gestattet, und außerdem war ich gerade dabei, den Fußboden zu scheuern; also ließ ich ihn nicht rein. „Ich will aber mal sehen, was Ihr da macht!“ - und weil er das so schön bockig nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Russisch sagen konnte, führte ihn die Njura, die zuständige Ärztin, trotz aller sonst so wichtigen Hygiene persönlich, erklärte ihm alles und ließ ihn von allem kosten. So gut hätte man das auch haben müssen. Aber andererseits - so klein noch und ohne Eltern und ohne Zuhause  . . .

Ich war 1948 schon einige Monate wieder zu Hause, da hatte mein Stiefvater wieder mal Besuch von einem seiner früheren Mithäftlinge aus der Zeit im KZ auf der Lichtenburg. Wie üblich, wurde ich vorgestellt und durfte ein wenig am Gespräch der „Alten“ teilhaben, das sich natürlich um die gemeinsam und einzeln im Konzentrationslager verlebte Zeit drehte. Irgendwie spielte dabei auch Auschwitz eine Rolle, und ich, froh, endlich einmal mitreden zu können, erzählte von meiner Begegnung mit dem Auschwitzhäftling Emil. Der Besucher wurde lebhaft: „Du hast Emil Dombrowski getroffen, den „Kapo von Auschwitz“? Also hat er doch überlebt, der Hund! Und - mit einem roten Winkel? Der war BV-er mit einem grünen Winkel, Berufsverbrecher, wie die Nazis das nannten, und mit einem dicken Knüppel, und der war brutaler als mancher SS-Mann! Hat der SS die Arbeit gemacht und sich dann also bei den Russen verkrochen! Wirklich raffiniert; dort kennt ihn ganz bestimmt keiner! Wo steckt der denn jetzt?“

Das konnte ich ihm aber auch nicht sagen, denn meine Kenntnisse beschränkten sich ja nur auf die paar Tage, die Dombrowski bei uns im Lazarett übernachtet hatte.

Viel später, schon in den 50-er Jahren, fand ich dann eine Zeitungsnotiz, wonach Emil Dombrowski, der „Kapo von Auschwitz“, in der BRD (ich glaube, in Essen) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war.

Unser täglich Brot  . . .

Unsere tägliche Brotration als Kriegsgefangene - das waren im Normalfall  600 Gramm russisches Roggenbrot, genau so viel, wie auch unsere Wachposten bekamen; denn unsere Verpflegungssätze waren die gleichen, wie sie auch den Soldaten der Sowjetarmee im Hinterland zustanden. Bis auf die Alkoholzuteilung, versteht sich - die den sowjetischen Soldaten im Einsatz etatmäßig zustehenden „sto gramm“ Wodka kriegten wir natürlich nicht.

In der Regel wurde das an uns verteilte Brot von unseren eigenen Bäckern in der Lagerbäckerei gebacken, aber die Rezeptur wurde von der Kommandantur vorgegeben. Der Teig wurde mit mehr Wasser als zuhause üblich angesetzt, und deswegen musste das Brot in blechernen Formen, ähnlich Mutters Königskuchenform zuhause, gebacken werden. Die Formen wurden vorher mit Sonnenblumenöl ausgepinselt, und deshalb schmeckte die Brotkruste immer ein wenig nach Nüssen; aber es kam auch schon mal vor, dass sie widerlich nach Maschinenöl schmeckte, und dann hatte wohl irgendwer - der sowjetische Magaziner oder gar unser eigener Bäcker - das Sonnenblumenöl auf dem Markt verscheuert  . . .

Offiziell sollte jedes Brot zwei Kilogramm, 2000 Gramm, wiegen. Nachgewogen hat das anfangs wohl kaum jemals jemand, es wurde allgemein so hingenommen. Die tägliche Ration von 600 Gramm, auf die drei Mahlzeiten verteilt, ergab pro Kopf jeweils 200 Gramm, das hieß, zehn Mann mussten sich zu jeder Mahlzeit ein Brot teilen. Na, und dieses Teilen  -  das konnte schon zum Problem werden  . . .

Am einfachsten war das ganz im Anfang, als der Landser noch gewohnt war, ohne lange Diskussion den Befehlen, die irgendwoher kamen, zu gehorchen. Da schnitt der „Fourier', wie der für die „Kaltverpflegung“ zuständige Lagerfunktionär aus alter Wehrmachtsgewohnheit hieß, so einen Brotlaib mit dem großen Messer einmal lang und viermal quer auf, und erhielt so zehn Portionen, von denen angenommen wurde, dass jede den geforderten 200 Gramm entsprach. Jeder, der sich am Küchenschalter seinen Schlag Suppe hatte einfüllen lassen, marschierte anschließend an einem kleinen Schalterfensterchen vorbei - so klein, dass der dahinter unmöglich sehen konnte, wer davor stand, und der davor den „Fourier' auch nicht zu sehen kriegte - und nahm das dort für ihn bereitgehaltene Stück Brot in Empfang.  Alles in Ordnung - bis  . . .

„Du musst mal drauf achten, immer, wenn der Lange mit der Tarnmütze am Brotschalter ist, kratzt er an dem Fensterrahmen, und dann kriegt er ein größeres Stück. Na ja, kein Wunder, der war ja auch in Frankreich dem Fourier sein Gruppenführer!“ -

Oder: „Was macht denn der Fourier eigentlich mit den Krümeln, die beim Schneiden abfallen? Rechne doch mal - wir sind 500 Mann, da muss er zu einer Mahlzeit 50 Brote aufschneiden - was da an Krümeln anfällt! Die gehören doch uns, die fehlen doch an unseren zweihundert Gramm!“ 

Oder, ganz besonders misstrauisch: „Woher weiß denn ich, dass der Kerl da hinter dem Schalter wirklich nur zehn Portionen aus einem Brot macht? Das merken wir doch gar nicht, wenn es zwölf sind, und er bescheißt Dich bei jeder Portion um über 30 Gramm  . . ..“

Schließlich wurde solche im Verborgenen oder offen geäußerten Verdächtigungen dem Fourier anscheinend zu viel. Irgendwoher tauchte eine Waage auf - so ein altes Modell aus Gusseisen, mit dem wohl früher auf dem Markt mal Zwiebeln oder Mohrrüben abgewogen wurden - mein Kumpel, der Lagerklempner, baute aus Konservenbüchsenblech eine neue Wiegeschale und die Schlosser fabrizierten aus Rundeisenabfällen Wägestücke dafür. Nun sah das Ding richtig so aus wie früher zu Hause im Gemüseladen - und nun kriegte jeder seine Zweihundert -Gramm -Portion richtig abgewogen in die Hand gedrückt.

Natürlich konnte die Wiegerei nicht bei der Verteilung erfolgen, denn sonst hätte die Essenausgabe zu lange gedauert. Das Brot musste zur Ausgabe fertig aufgeschnitten und gewogen sein, und das schaffte der Fourier nicht allein, dazu musste ein Gehilfe abkommandiert werden; und weil sich ja jetzt ergab, dass eine Portion zur Erzielung des richtigen Gewichts aus einem großen und mehreren kleinen Stücken bestand und die kleinen Stücke, damit sie nicht verloren gingen, mit einem Holzspan auf dem großen festgesteckt wurden, brauchte man auch noch einen dritten Mann, der die Holzspäne anfertigte  . . .

„Jetzt sind das schon drei Mann, die da drin mit unserem Brot hantieren und sich sattfressen   . . . Bald werden sie noch einen brauchen, der die Waage ölt, und einen, der die Gewichte putzt  . . .“

Ich weiß nicht, wie das weiter ging , ich wurde krank, kam ins Lazarett und von dort in ein anderes Lager, und dort hatte man das Problem auf ganz andere Weise gelöst. Hier erhielten tatsächlich „zehn Mann ein Brot“, und dann mussten sie selbst sehen, wie sie damit auseinanderkamen. Es gab die verschiedensten Möglichkeiten  . . .

Im einfachsten Fall wurde das Brot in altbewährter Weise - einmal längs und vier mal quer - in zehn Portionen geteilt, die Portionen mit einem Handtuch zugedeckt, und dann:

„Heute früh war Karl dran. Wer kommt im Alphabet nach K? Ludwig - Du fängst mit L an - dreh' Dich um! Wer kriegt diese Portion?“ Und Ludwig nannte einen Namen, und der Brotteiler zog eine Portion unter dem Handtuch hervor und drückte sie dem Aufgerufenen in die Hand. Das klappte im Allgemeinen zur Zufriedenheit, und man nahm an, dass sich die vorhandenen Unterschiede in der Größe der Portionen, über die Zeit betrachtet, ausgleichen würden. Na, und weil der Zuteiler nach dem Alphabet gewechselt wurde und der Zerleger im Schneiden der Portionen im Laufe der Zeit eine gewisse Übung entwickelte, schien es hier tatsächlich gerecht zuzugehen.

Es gab aber auch Gruppen, die fingen nach dem Zerlegen des Brotes an, die einzelnen Portionen miteinander zu vergleichen: „Hier muss was ab - die ist zu groß - leg das mal hier drauf, die hier ist viel zu klein - nee, vielleicht doch lieber hier - hier fehlt auch noch ein Stückchen  . . .“ und wenn dann alle meinten, nun könnten alle Portionen so etwa gleich groß sein, dann wurde wie schon beschrieben verteilt - oder jeder durfte sich ein Stück aussuchen, wobei nach alphabetischer Liste täglich gewechselt wurde; morgens fing Albert an, mittags durfte sich Bertold das erste Stück nehmen, abends dann Christian - und so fort.

Ganz Pedantische gingen noch einen Schritt weiter. Die hatten sich aus Holz, Blech und Bindfäden eine eigene Waage gebaut und wägten nun die einzelnen Portionen gegeneinander, bis keiner mehr etwas zu beanstanden hatte, und verteilten erst dann auf die eine oder andere Weise  . . .

Ehrlich gesagt: am verrücktesten sind mir dabei immer die vorgekommen, die ihre auf die eine oder andere Weise mühsam erkämpfte Portion Brot anschließend bei einem Nichtraucher gegen die tägliche Portion Tabak eintauschten. Denen hätte doch nun wirklich egal sein können, wie groß die Portion war  . . . Aber die meisten von ihnen nahmen, bevor sie zu ihrem Tauschpartner gingen, die kleinen Stückchen, die zu ihrer Portion gehörten, weg und aßen sie selbst - da waren ihnen die exakten 200 Gramm plötzlich gar nicht mehr so wichtig  . . .

De mortuis nihil nisi bene ..... 

 Anfang Februar 1946 kam ich in Gomel ins Kriegsgefangenen-Lazarett, weil der promovierte Zahnarzt, der bei uns im Lager die studierte Medizin vertrat, beim Abhorchen meiner Lunge Unregelmäßigkeiten festgestellt hatte und glaubte, daraus auf eine Tuberkulose schließen zu müssen.

Der Chefarzt im Lazarett, ehemaliger Stalingrader und mit einem ganzen Feldlazarett in Gefangenschaft gegangen, sagte auf meine in dieser Richtung gehende Auskunft hin: „Tuberkulose - weißt Du überhaupt, wie man das schreibt? Dir fehlt weiter nichts als anständig zu fressen, das ist alles!“

Nun gab es ja im Lazarett bessere Verpflegung - und es wurde sicher auch in der Küche weniger verschoben als in den Lagern draußen - und so war ich wohl an der richtigen Stelle zur Besserung. Nach etwa 14 Tagen, während derer ich mit einfachen Tätigkeiten beschäftigt wurde - Zementsackpapier auf etwa DIN-A-5-Format schneiden zum Beispiel oder eine 50-Gramm-Packung Streptocid in 50 Päckchen zu (ungefähr) 1 Gramm aufteilen - ließ mich der Doktor ins Ambulatorium kommen. „Wenn Du meinst, dass Du das schaffst, kannst Du ab morgen als Bestatter arbeiten. Aber ich denke, Du schaffst das. Es stirbt ja nicht jeden Tag wer bei uns - manchmal haben wir die ganze Woche keinen Toten - aber jedes Mal, wenn jemand beerdigt werden muss, kriegen die Bestatter an diesem Tag doppelte Rationen - und ich denke, die kannst Du gebrauchen. Na ja, und die Toten sind tot, vor denen brauchst Du Dich nicht zu fürchten.“

So kam ich zum Bestattungskommando - und es dauerte nicht lange, da hatten wir auch schon den ersten Toten. Er lag, in eine alte Decke gewickelt, auf einer Trage, und wir vier Mann fassten die vier Holme der Trage an und gingen los. Wir wussten nicht, wie er hieß und wo er zuhause war - das wurde alles in dem großen Krankenbuch des Lazaretts festgehalten, das der Ambulanz-Sani, ein ehemaliger Wehrmachtssanitäter, führte, und in der russisch vorgedruckten „Gistorija bolesnij“, der Krankengeschichte, die bei Todesfällen von der „Uprawlenija“, der sowjetischen Verwaltung eingezogen wurde.

Irgendwelche Erklärungen gab es für mich nicht, und so hielt ich mich an das, was auch die drei anderen machten, die diese Arbeit schon länger verrichteten. Etwa 500 Meter vom Lazarett entfernt, hinter der Bahnlinie, gab es einen alten Panzergraben von 1944 - eine Seite fast senkrecht, etwa vier Meter tief, die andere unter etwa 30 Grad geneigt - wie eben ein Panzergraben aussehen muss. Dorthin trugen wir den Toten, und dort war schon unmittelbar unter der Steilwand eine Reihe von flachen Schlackehügeln, die teilweise auch schon beschneit waren. Da legten wir ihn ab. Ich dachte, nun würden wir ein Grab ausheben, wurde aber belehrt: „Löcher buddeln können wir hier nicht, der gefrorene Lehm ist hart wie Beton. Wir decken die Toten mit Schlacke ab, die holen wir mit der Trage vom Bahndamm, und dann friert das Ganze ein. Mach’ Dir keine Gedanken, das ist genau so gut wie ein Grab.“ 

So geschah es denn auch, und so geschah es auch mit den fünf oder sechs anderen Verstorbenen, an deren Bestattung ich mitwirkte. Am gleichen Ort wurden übrigens auch die Toten bestattet, die in den Krankenrevieren der Gomeler Lager verstarben. Jedes Mal, wenn wir mit einer neuen Leiche kamen, war die Reihe der Schlackenhügel in der Zwischenzeit länger geworden, und schließlich mögen dort etwa dreißig bis vierzig Hügel gewesen sein.

Auf keinem der Hügel gab es einen Hinweis, wer darunter lag; und in den meisten Fällen mögen die, die die Hügel anlegten, auch gar nicht gewusst haben, wer darunter beigesetzt wurde. Wir wussten das ja von denen, die wir dorthin brachten, auch nicht.

Dann kam der Frühling, und es kam Tauwetter - und eines Tages kam die kleine dicke Njura, die Ärztin, die für die Hygiene im Lazarett verantwortlich war, ganz aufgelöst ins Ambulatorium. Das Tauwetter hatte natürlich auch den Panzergraben erfasst, und die Schlacke und die bestatteten Toten, und irgendwelche Raubtiere - Hunde oder Füchse oder vielleicht sogar Wölfe ..... also ..... es sei schrecklich, und wir hätten dort umgehend Ordnung zu schaffen.

Der Boden im Panzergraben war immer noch steinhart, und die Toten in keinem guten Zustand, und so blieb uns nichts anderes, als von der Oberkante des Steilhanges den Aushub, der dort schon getaut war, wieder nach unten zu befördern - gewissermaßen den Panzergraben dort, wo die Toten lagen, wieder zuzuschippen. Wir haben damit mehrere Tage zugebracht, und am Ende lagen dann mindestens anderthalb Meter Erde über den Gräbern.

Ein gemeinsames Kreuz oder Grabsteine oder etwas in der Art hat es nie gegeben - aber irgendwann ist mir dabei der verrückte Gedanke gekommen, dass das Ganze eigentlich ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit sei: Die namenlosen Toten füllten die Wunden, die die deutsche Wehrmacht in die belorussische Erde gerissen hatte, mit ihren Körpern .....