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Der zweite Winter 

Kaum sind die Feiertage vorbei, da wird schon wieder mal umgezogen. Wohin, weiß keiner . . . Jedenfalls finde ich mich nach dem Verlesen einer Liste und “Raustreten mit Gepäck!” und “Abzählen!”, letzten Endes mit 29 anderen auf dem großen “Tatra” vom Stab wieder und habe Mühe, bei dem Höllentempo, das der Fahrer einschlägt, da auch drauf zu bleiben. Als wir losfuhren, war es noch hell; mittlerweile ist es Nacht geworden, dunkel, kalt und ungemütlich, obendrein auch noch ungewiss, denn aus den Gegenden, die ich vom Transportkommando her kenne, sind wir längst raus - richtige Katzenjammerstimmung . . .

 Ich schätze, es wird so gegen 10 Uhr abends sein, da fährt unsere “Maschina” über eine ewig lange Holzbrücke, die scheinbar kein Ende nehmen will. Was drunter ist, kann man in der Finsternis nicht erkennen, aber wahrscheinlich doch ein Fluss . . . So breit? Das könnte doch nur der Dnjepr sein - wo wollen die noch mit uns hin?

Kurz hinter der Brücke dann Stacheldraht, Tor, Wachhaus, ein zwei- oder dreistöckiges Gebäude, der Wagen hält, absteigen, zählen – “Dreißig Mann, stimmt” - der Wagen fährt weiter, und wir werden von einer Gestalt im Steppanzug, mit Filzstiefeln und Pelzmütze, in Empfang genommen und in ein Zimmer des Gebäudes geführt.

Ein Zimmer - es kommt uns eher wie eine Höhle vor . . . Dunkel, eng, mit Pritschen völlig zugebaut, in der Mitte eine Feuerstelle, und an der Glut eine einsame Figur. Der Kumpel scheint ziemlich schwermütig zu sein; jedenfalls begrüßt er uns mit den mächtig einladenden Worten: “Na also . . . wieder mal'n paar Neue, die den Laden hier aus der Scheiße zieh'n sollen . . . aber ihr werdet's auch nich schaffen . . . sind schon ganz andere vor euch hier kaputt gegang'n . . . wo kommt'r denn her?”.

Einer von uns antwortet: “Aus Gomel, vom Fleischkombinat”. – “Na, da habt'r vielleicht jetze ein'n Tausch gemacht . . .” – “Wieso? Leben wird's sich überall lassen?” – “Überall schon, bloß nich hier in Rjetschitza, im Lager 7 . . . Ihr werd't schon seh'n, was hier los is . . .” – “Mensch, Du hast doch bloß schlechte Laune!” – “Reiß' man deine Klappe nich' so auf . . . Noch kennste keinen hier, nich den Schorsch, was der Küchenbulle is, nich den Ludwig, den Lagerführer, und schon gar den Alexandrin, den russischen Arbeitseinsatzer . . . Wenn de erst mal 'n Jahr hier bist un kennst die alle und bist nich verückt gewor'n, denn kannste mitreden!” - Ich versuche, ihm entgegenzukommen. “Na, Du bist doch auch nicht verrückt,” sage ich freundlich; aber er ist einmal in Fahrt: “Ich? Un wie ich verrückt bin! Das merkst'e bloß nicht . . . Hier sin alle verrückt, un der Ludwig, der Lagerführer, das is der Oberidiot! - Seht zu, wie ihr klarkommt; die Pritschen sind alle belegt, da könnt ihr nicht schlafen; vielleicht legt'r euch auf'n Fußboden . . . und wenn ihr nich frieren wollt, muss einer aufs Feuer passen!”.

Wenn schon dieser Empfang nicht allzu vertrauenerweckend war, so wird der nächste Morgen (kaum einer von uns hat geschlafen) noch ungemütlicher. Weil wir mitten in der Nacht angekommen sind, hat die Küche kein Essen für uns; aber trotzdem sind wir in der Arbeitseinteilung schon voll eingeplant und auf die Kommandos aufgeteilt . . . Das fängt ja wirklich gut an!

Vorne am Lagertor trampelt eine Gestalt herum - Steppanzug, Filzstiefel, Pelzmütze, ein sonderbares Kauderwelsch aus Deutsch und Russisch - der Kerl, der uns heute Nacht in Empfang genommen hat; und der hat offenbar dort etwas zu sagen? “Ludwig hat heute richtig gute Laune!”, sagt mein Nebenmann. Ludwig? das war doch der Lagerführer - der “Oberidiot”? Der ist das? Na ja - sehr normal benimmt sich der dort wirklich nicht . . .

Etwas abseits steht am Tor eine kleine Gruppe von Plenis - besser angezogen als die übrigen und offensichtlich auch viel besser ernährt; aber das fällt mir erst in zweiter Linie auf, zunächst stolpere ich darüber, dass sie auf dem weißen Ärmelschild, das hier alle tragen (bei uns im Lager 13 hat da kein Mensch nach gefragt) - daß sie also auf diesem Ärmelschild nicht das übliche “W/P” (WP - Woennogo plen - Kriegsgefangener), sondern die Buchstaben “W/K” tragen. “Du, was sind das für welche?”, frage ich meinen Nachbarn. Der sieht mich groß an. “Wo kommst Du denn her? Das sind die Bewachungskameraden, die bringen uns statt der russischen Posten auf den Bau und bewachen uns dort! Vor denen sieh dich vor, die sind mächtig scharf . . .” - Das kennen wir bisher noch gar nicht; aber es scheint mir raffiniert ausgedacht, denn - gib einem Deutschen ein Amt, und er kennt Vater und Mutter nicht mehr . . .

Aber auch die übrigen Lagerinsassen bieten einen seltsamen Anblick. Im Allgemeinen ist man es doch so gewohnt, das in einem Lager die Plenis alle so annähernd gleich aussehen - entweder alle mehr oder weniger runtergekommen oder alle mehr oder weniger gut erhalten, je nach dem, wie der Stand im Bekleidungsmagazin des Lagers ist. Hier aber gibt es - deutlich voneinander zu unterscheiden - zwei Gruppen, eine, die offensichtlich die Mehrheit bildet und deren Garderobe in einem erbarmungswürdigen Zustand ist, und eine, die sich offensichtlich sogar Extrawürste aus der Lagerschneiderei bestellen können; und wenn mich mein Ex-Sanitäterblick nicht täuscht, sind die, die die schlechtere Kleidung tragen, auch schlechter ernährt. Irgendwas stimmt da nicht  . . ...

Ich erkundige mich vorsichtig bei meinem Nebenmann nach einigen von den Bessergekleideten. “Der dort - der war mal WK - und der, der war mal Putzer bei Ludwig - und der war mal Brigadier - und der war . . . und der war . . .”. - Alle waren mal irgendwas. Jetzt sind sie ganz normale Plenis - aber eben welche mit Beziehungen . . . Beziehungen zur Küche, Beziehungen zum Magaziner, Beziehungen zum Lagerführer . . . “Ohne Beziehungen biste hier garnischt, da biste verraten und verkauft”, flüstert mir mein Nebenmann zu.

So also ist das hier . . . So ausgeprägt habe ich das bisher noch nicht kennen gelernt. Na, müssen wir sehen, wie man damit klarkommt; für mich sehe ich eigentlich keinen Weg, zu Beziehungen zu kommen. Die Stellen, auf denen ich mich bisher als “Spezialist” betätigen könnte, sind bestimmt alle schon besetzt, und zum “Bewachungskameraden” (wahrscheinlich vom russischen “B/K” abgeleitet?) tauge ich, glaube ich, nicht . . .

Das Lager arbeitet, so viel stelle ich beim Ausmarsch der Kommandos fest, fast ausschließlich auf einer einzigen Baustelle. Ziemlich 400 Mann setzen sich dorthin in Marsch. Großbaustelle . . . das ist nicht sehr günstig, da ist wohl kaum etwas nebenbei zu ergattern . . .

Ein riesiges Gelände am Flussufer - der Fluss ist wirklich der Dnjepr - ringsherum ein drei Meter hoher Bretterzaun, innen drin jede Menge Ruinen - scheinbar früher eine große Fabrik . . . Jetzt wird überall gebuddelt. Das hat mir grade gefehlt - Mitte November in der Erde wühlen . . .

Aber es kommt dann sehr schnell noch viel schlechter, als ich es am ersten Tag befürchtet habe. Es friert, und zwar ganz unheimlich; die Erde, die wir bewegen sollen - Lehmboden - wird innerhalb einer Woche hart wie Beton, und der Frost geht fast zwei Meter tief in den Boden hinein. Genau so tief sollen laut Zeichnung die meisten Gruben, die wir ausheben, werden - eine Schinderei, und natürlich kann von Normerfüllung (2 Kubikmeter pro Mann) keine Rede mehr sein.

Zum gleichen Zeitpunkt wird das System, nach dem die Normerfüllung bisher belohnt wurde, geändert; nicht mehr 200 Gramm Brot zusätzlich bei Erfüllung, sondern gestaffelt bis zu 200 Gramm weniger bei Nichterfüllung - das heißt also, im schlechtesten Fall (und der ist bei dieser Arbeit der Normalfall) mit 400 Gramm statt 600 Gramm täglich auszukommen. Das tut sehr weh, denn für uns Neue bedeutet es praktisch eine Halbierung der Portionen . . .

Gerechnet haben wir ja mit irgendeiner Verschlechterung der Versorgung schon seit einer Weile, denn wenn wir auch im Lager 13 eine Bombenernte an Äpfeln hatten, so soll doch zur gleichen Zeit in der ganzen Ukraine eine große Trockenheit und danach eine Missernte gewesen sein, und die Rationen der Bevölkerung sind schon seit dem Herbst gekürzt worden . . .

Damit ergibt sich für uns ein richtiger Teufelskreis: hart gefrorener Boden - keine Normerfüllung - wenig Essen - schlechter Körperzustand - keine Kraft - hart gefrorener Boden - und so immer weiter . . . Dabei würden wir, wenn wir nur könnten, schon um warm zu werden gern den ganzen Tag arbeiten. Solange wir vom Sommer her noch einigermaßen etwas auf den Rippen hatten, haben wir das ja auch getan und waren bei den alten Insassen des Lagers deshalb als “Malocher” verschrien; aber lange hat das nicht vorgehalten, und jetzt, Mitte Dezember, geht es einfach nicht mehr.

Dabei - so niedrig sind die Verpflegungssätze, die uns noch zustehen, nun ja eigentlich auch wieder nicht . . . Gut, 400 Gramm Brot sind nicht 600 und schon gar nicht die 800, die uns früher bei Normerfüllung zustanden; aber dazu gibt es ja theoretisch auch noch 400 Gramm Kartoffeln, 600 Gramm Gemüse, 30 Gramm Fleisch, 20 Gramm Fett, 50 Gramm "Produkte" (Nährmittel - meist Maismehl) und 25 Gramm Zucker (der in diesem Lager auch "auf den Mann" ausgegeben wird). Nach meinen Küchenerfahrungen könnte man daraus zwar keine Festmahle, aber doch ein brauchbares Essen herrichten. Könnte man . . . Aber mittlerweile habe ich schon mitgekriegt, was mit der Küche hier los ist. Kein Koch kann 500 Portionen so genau kochen, daß es bis zum letzten Mann exakt auszugeben ist, und ehe am Ende etwas fehlt, wird lieber etwas großzügiger gekocht. Folglich gibt es immer einen Rest, der nach den verschiedensten Prinzipien verteilt werden kann: Im Lager 11 kriegten ihn die Jüngsten, im Lazarett ging er reihum in die einzelnen Krankenstuben, im Lager 13 wurde er an Leute verteilt, die vom Arzt als “besonders bedürftig” festgestellt wurden, im Fleischkombinat nach laufender Nummer der Lagerliste an alle; nur hier gibt es so was nicht. Dafür schleichen nach dem offiziellen Abendbrot alle die, die mir schon am ersten Morgen durch ihre bessere Kleidung aufgefallen sind, mit ihren Kochgeschirren zur Küche; immer dieselben, und meist Leute, die kaum schwere körperliche Arbeit leisten . . . Ebenso, wie damals der Kumpel sagte: “Beziehungen brauchste . . .”.

So ist es nicht verwunderlich, dass auf der Baustelle kein Mensch mehr Lust hat, überhaupt noch etwas zu tun. Alle Versuche, etwas in der Baugrube zu erreichen, führen sowieso zu nichts; also fangen wir erst gar nicht an . . . Das ist zwar bei den russischen Natschalniks und ihren Gehilfen und erst recht bei den deutschen BKs nicht sehr gern gesehen, aber mit der Zeit kriegt man da ein dickes Fell . . .

Damit sieht unser Arbeitstag nun so aus: Früh um 7 Uhr wird geweckt, Waschen fällt aus, weil das Wasser in den Waschräumen eingefroren ist, Essenholen am Küchenschalter - der halbe Liter dünne Brühe, der die Morgensuppe darstellen soll, wird irgendwie verzehrt, das Stück Brot von 150 Gramm dazu; dann raus auf die Baustelle. Dort organisiert sich jeder irgendein Stück Holz (das nicht unbedingt immer Brennholz sein muss, aber sehr schnell dazu gemacht wird), und dann ziehen wir in unseren Graben und machen uns ein ordentliches Feuer. Wenn der Grusdew, der Ingenieur, der die Tiefbauarbeiten leitet, kommt, dann schnappt sich jeder ein Werkzeug und schlägt wie wild auf die Grabenwand ein - erreicht aber in der Regel nichts Nutzbringendes damit - und ist er wieder weg, sitzen wir wieder am Feuer und wärmen uns. Mittags wird dann das Feuer beiseite geräumt und der aufgetaute Boden ausgehoben. Es erscheint seltsam, aber wir kommen damit schneller in die Erde als mit richtiger Arbeit . . .

Mittag ist von 12 Uhr bis 13 Uhr. In dieser Zeit müssen über 400 Mann von der ganzen Baustelle zum Tor laufen, antreten, gezählt werden, geschlossen die 500 Meter bis ins Lager marschieren, gezählt werden, Essen empfangen, aufessen und wieder raus aus dem Lager . . . Das mag ja zu schaffen sein, wenn alles klappt; aber es wird immer fast 12.30, bis die letzte Brigade da ist und wir von der Baustelle runter kommen. Bis dann alle 400 Mann Essen haben, ist es reichlich 13 Uhr. Die ersten, die Essen fassen, können grade so mit Löffeln fertig werden; die letzten schlucken noch, wenn sie schon wieder auf der Straße sind, oder sie stellen die Suppe aufs Bett, stecken das Brot in die Tasche und gehen mit knurrendem Magen und mit dem Risiko in den Nachmittag, am Abend bestenfalls noch das Kochgeschirr, nicht unbedingt aber die Suppe wieder vorzufinden.

Am Nachmittag wiederholt sich das ganze Theater mit dem Holz, dem Feuer, dem gespielten Arbeitseifer bei “Besuch” und dem Abräumen des aufgetauten Bodens noch einmal, und wenn es dämmert und die Krähen vom Dnjeprufer zur Stadt hin fliegen, sammelt sich wieder alles am Baustellentor und wartet auf irgendeine Brigade, die noch schnell mit irgendeiner Arbeit fertig werden muss, obwohl sie wie alle übrigen auch den ganzen Tag nichts Wichtiges getan hat, oder die am Feuer den Feierabend verpasst und die Sirene um 5 Uhr überhört hat. Meist sind es die “oberen Zehntausend”, auf die wir warten müssen, die Schlosser, die ohnehin im Warmen arbeiten, aber trotzdem erst so kurz vor 6 mit ihrer Arbeit fertig sind, und auf die dann alle warten müssen. Dann geht´s ins Lager, Zählung - stimmt nie, der Ludwig ist nicht nur nicht ganz normal, der kann obendrein nicht mal addieren - dann geht der Kampf um die vorderen Plätze beim Essenholen los, dann wird gegessen, und dann fällt man auf seinen Strohsack, freut sich beim Einschlafen, dass es morgen früh wieder Essen gibt, und hat gleichzeitig ein Grauen vor dem Tag, der nach diesem Essen folgt, und vor seiner Arbeit . . .

Einen Sonntag scheint es hierzulande nicht zu geben, jedenfalls nicht für uns. Sonntags wird genau so lange gearbeitet wie an den übrigen sechs Wochentagen, allerdings nicht auf der Baustelle, sondern bei irgendwelchen anderen Dienststellen oder Betrieben, auf die man sonst die ganze Woche nicht kommt. Allgemein wird behauptet, dass das Geld, was wir dort erarbeiten (denn umsonst gehen wir dort bestimmt nicht hin . . .) - dass also dieses Geld in die privaten Taschen von Oberleutnant Alexandrin geht, der in der Lagerkommandantur für unseren Arbeitseinsatz verantwortlich ist. Ob's stimmt? Wir hätten sowieso nichts davon, wenn wir's genau wüssten . . .

Wer Sonntags nicht hinausgeht zu einem Arbeitseinsatz, der wird vom Lagerführer im Lager beschäftigt, und beim Ausknobeln von Gelegenheiten dafür ist Ludwig unermüdlich. Es ist scheinbar für ihn unerträglich, wenn irgendwo irgendwer mal fünf Minuten Ruhe hat. Da kann es dann passieren, dass er Schnee schaufeln lässt - einen Gang zur Latrine, “damit'r bequemer zum Scheißen kommt, ihr Wurzelzwerge!” - Dafür stellt er 25 Mann an, und bei anderthalb Meter Breite, so daß man sich also bequem auf dem Weg begegnen kann, sind die damit nach einer knappen Stunde fertig. Ludwig kommt kontrollieren – “Was, fertig seid'r? Macht'n noch emol so breit!”. Nach wieder einer Stunde ist der Weg drei Meter breit. Was nun? In einem Anflug von Galgenhumor sagt einer von uns: “Na, doch sicher noch einmal so breit . . .”, da kommt Ludwig. “Was steht'r hier rum? Fertig? Bei mir wird keiner fertig - marsch, noch mal so breit!” - Zu Mittag ist der Weg sechs Meter breit - und nach dem Essen stehen wir wieder da und schippen. Noch mal so breit! Am Abend könnte man dann mit einem Zug in Linie auf den Donnerbalken marschieren, denn da ist der Weg doch wirklich gute 10 Meter breit und verläuft zwischen zwei mindestens drei Meter hohen Schneewällen. Aber wir waren den ganzen Tag beschäftigt . . .

Als ich dahinter gekommen ist, wie das mit der Sonntagsarbeit im Lager läuft, glaube ich, besonders klug zu sein, schnappe mir am nächsten Sonntag auf eigene Faust eine Schaufel und fange an, von der Wachstube am Tor zum Haupteingang des Gebäudes einen Weg frei zu schaufeln. Der wird nämlich wirklich und von allen gebraucht, und dort wurde bisher der Schnee immer nur festgetreten. Als ich die ersten Meter frei habe, kommt Ludwig angetrampelt. “Wer hat denn dich langes Gestell hierher gestellt?”. Ich bin frech und sage: “Du selber; ich soll doch hier Schnee fegen!” – “Ich . . .? Ach so, na klar, nu freilich; un schön orntlich machste das . . . hol dein'n Pott und lass dir vom Schorsch 'nen Schlag Suppe geben!”. Ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. “Was guckst'e so blöd'? Musst dir wohl mal die Ohren waschen? 'nen Schlag Suppe sollst'e dir holen!”. Ich stelle meine Schaufel ordentlich auf die Seite und ziehe los, um mein Kochgeschirr zu holen. Als ich um das Haus biege, kommt mir Ludwig von der anderen Seite entgegen. “He, du, der Lange da - was loofst'e hier rum, hast'e nischt zu tun?” – “Ich will mein Kochgeschirr holen . . . " – “Was willste jetzt mit'n Kochgeschirr, Arbeit brauchst'e, kein Kochgeschirr!”, und nimmt mich mit zu ein paar anderen Kumpels, die in dem großen Schuppen neben dem Haus dabei sind, die Stämme, die dort als Brennholz abgeladen worden sind, aufzustapeln. “Hier fass mit an, dann haste Arbeit . . . von wegen Kochgeschirr holen . . .?”

Einen alten Bekannten habe ich hier im Lager nun doch gefunden; eigentlich ja zwei, aber davon, daß die kleine dicke Njura, die uns im Lazarett mit ihrer “Hygiene” manchmal zur Verzweiflung gebracht, hier die zuständige russische Militärärztin ist, habe ich eigentlich gar nichts. Dass der deutsche Lagerarzt Dr. Beckenhaub ist, könnte schon wichtiger sein; aber irgendwie scheint er auch nicht so zu können, wie ich das aus dem Lazarett von ihm gewohnt war. Wahrscheinlich hat der Verein, der das Lager hier regiert, das Ganze so fest in der Hand, daß er auch nichts machen kann . . .

Irgendwelche Parolen gehen um, daß ein Ziegeleikommando, daß es früher schon mal gegeben hat, wieder aufgestellt werden soll. Ziegelei . . .? Da müsste es doch eigentlich schön warm sein, denke ich mir; wenigstens habe ich Ziegeleien im letzten Winter beim Transportkommando so kennen gelernt. Wenn man da mit hinkönnte . . .

Der frühere Brigadier des Ziegeleikommandos, der Schwitters, arbeitet in der gleichen Baugrube wie ich; also halte ich mich an ihn und frage ihn ein bisschen aus. “Willst wohl gerne mit, wenn's wieder losgehen sollte? Glaub' ich dir gerne, wenigstens ein bisschen mehr Wärme könntest du schon vertragen . . . Mal sehen, was sich machen lässt . . .”.

Ein paar Tage später wird morgens beim Ausmarsch zur Arbeit eine Liste vorgelesen, auf der auch mein Name steht. “Eto neue Brigade Kirpitsch-Fabrik!”, verkündet Ludwig uns in seinem Kauderwelsch. Also Ziegelei . . . Ein LKW holt uns ab, das gefällt mir von vornherein. Auto zur Arbeitsstelle - das bedeutet einen weiten Weg, da gibt es was zu sehen, da kommt man ein Stück weg von diesem Affenstall von Lager; es bedeutet aber meist auch Mittag am Arbeitsplatz, und das heißt, dass man endlich mal in Ruhe und ohne Hetzjagd und Gedränge essen kann . . .

Die Ziegelei ist ein kleiner Betrieb; der Ringofen hat nur acht Kammern, ein- und ausgefahren wird mit Schubkarren, geheizt wird mit Torf, und der wird über eine Schrägrampe in großen Kisten, die an Holzgriffen von zwei Mann getragen werden, auf den Ofen transportiert. Das wird meine Arbeit, gemeinsam mit Ulli aus Pommern, der etwa so alt ist wie ich. Scheinbar hat der Brigadier diese Arbeit extra den beiden Jüngsten im Kommando zugewiesen . . .

Endlich wieder mal eine Arbeit, bei der man sieht, was man schafft . . . Wir sollen zu zweit 30 Kubikmeter Torf auf den Ofen schaffen. Die Trage fasst etwa drei Viertel Kubikmeter - also 40 Tragen voll am Tag. Bis zum Mittag schaffen wir ohne zu hetzen 25 Tragen; wenn wir am Nachmittag noch 20 dazu holen, ist die Norm übererfüllt.

Nach der stumpfsinnigen Beschäftigung in der Baugrube ist diese Arbeit direkt eine Erholung. Zwar ist man den ganzen Tag auf den Beinen, aber das hat doch wenigstens einen Sinn . . . Unten vor dem Ofen wird der Torfberg immer kleiner, obendrauf werden die Hügel größer, trotzdem laufend davon geheizt wird, mindestens die Hälfte der Arbeitszeit ist man auf dem Ofen im Warmen, man kann in Ruhe sein Mittag essen, außerdem schaffen wir die Norm und kriegen also die bessere Verpflegung mit 600 Gramm Brot und Kascha auch zum Abendessen - soweit die sonstigen Zustände im Lager das zulassen, könnte man direkt zufrieden sein . . .

So geht es etwa 10 Tage; dann kommen morgens ein paar Mädels und nehmen uns unsere Trage weg. Das ist jetzt ihre Arbeit; wir beiden sollen nun mit den anderen Steine karren. Ich versuche es . . . Um die Norm zu schaffen, muss ich die Karre mit mindestens 25 Steinen beladen - aber nicht mit fertigen Backsteinen, die etwa sieben Pfund das Stück wiegen, sondern ungebrannte Steine, nur vorgetrocknet, die fast das Doppelte an Gewicht haben! Das heißt, mit 25 Steinen habe ich so ungefähr drei bis dreieinhalb Zentner auf der Karre, und damit werde ich nicht fertig. Für die erste Karre voll brauche ich fast eine Stunde, bis ich sie im Ofen habe; das würde in 8 Stunden Arbeit also 200 Steine machen - aber die Norm sind 1200! Nicht zu schaffen, aus, Feierabend . . .

Mittags gehe ich zu Schwitters und sage ihm, dass das so keinen Zweck hat. Es ist wohl besser, wenn er sich jemand anderen sucht und mich zu einer anderen Brigade schickt. Schließlich kann ich ja nicht erwarten, dass die anderen für mich mitarbeiten . . . “Wenn Du das so meinst”, sagt er, “na gut - aber Baugruben schachten willst Du doch sicher nicht?” – “Wenn Du da etwas tun könntest?”, sage ich . . .

Am nächsten Morgen schickt mich Ludwig zum Kommando “Drei-Etagen-Haus”. Hat der Brigadier also Wort gehalten . . .

Der Name des Kommandos ist längst überholt. Das Haus mit den drei Etagen (Erdgeschoss und zwei Stockwerke nach russischer Zählart) ist längst bewohnt, aber der Name ist aus alter Gewohnheit geblieben. Die Brigade schippt in der Nachbarschaft des Hauses Fundamentgruben für Standardhäuser, die die Zimmerlehrlinge vom Sägewerk aufstellen. Die Fundamente hier sind aber ganz etwas anderes als drüben auf der großen Baustelle; jedes Haus steht nämlich wie auf Stelzen auf 16 kleinen Ziegelsteinsäulchen, und die Löcher dafür heben wir aus.

Weil ja der Boden hier genauso tief und hart gefroren ist wie in den Fundamentgruben der großen Baustelle, wird auch genauso gearbeitet wie dort: Holz sammeln, Feuer machen, Boden auftauen und mittags und abends dann die Erde ausheben. Der Unterschied zur großen Baustelle ist, daß das hier ganz offiziell so geht, und dass das Holz, das wir hier verbrennen, speziell zu diesem Zweck angefahren wird. Auch werden, da ja 16 Löcher für jedes Haus gebraucht werden, immer gleich mehrere Feuer auf einmal angezündet. So ist es eigentlich bei dieser Arbeit recht schön warm, nur - eine Norm wird auch hier nicht erfüllt. Na, ist schließlich auch egal; außer der Ziegelei und den Schlossern bringt sowieso kein Kommando mehr seine 100 % nach Hause.

Die Standardhäuser, die hier aufgestellt werden, sind eine feine Sache. Für 2000 Rubel kriegt man einen Haufen fertig zugeschnittener Balken, Bretter und Latten - als wenn man sich einen großen Baukasten kauft. Wenn das Ganze richtig zusammengesetzt wird, steht am Ende ein nettes Holzhaus mit vier Zimmern da, mit Fußboden, Dach, Fenstern, Türen - und das Aufstellen dauert nur etwa vier bis fünf Tage!

So nebenbei bietet sich auch eine Möglichkeit, die Lebensmittelversorgung für den Einzelnen etwas aufzubessern. Bei den Leuten, die ringsum in den Häusern wohnen, ist Heizmaterial offensichtlich knapp; für unsere Feuerchen aber wird aus dem Sägewerk jeden Tag ein LKW voller Holzabfälle herangefahren. So machen wir kurzerhand unsere Feuer etwas kleiner (uns wärmen sie schon noch genug) und versuchen, mit dem übrigbleibenden Holz in den Wohnungen ringsum Geschäfte zu machen. Das klappt auch, und von Brotstücken bis zu grünen Dreirubelscheinen bringt dieser Handel, wie es schon in einem Spruch meiner Großmutter heißt, mehr als Arbeit ein.

Mittlerweile ist auch die Zeit herangekommen, in der man sich zu Hause auf Weihnachten vorbereitete, und irgendwie möchte man doch auch hier, dass dieser Tag sich von den übrigen unterscheiden soll . . . Vom Lager aus wird, wie ich den Laden bisher kennen gelernt habe, dazu nicht viel zu erwarten sein; also muss man selbst für die Weihnachtsüberraschungen sorgen. Aus dem Brennholzverkauf habe ich 12 Rubel “eingenommen”. Das ist nicht allzu viel, und für ein einigermaßen ansehnliches Weihnachtsessen müsste schon etwas mehr sein. Also muss etwas vom Inventar verkauft werden . . . Aber was? Eigentlich ist nichts mehr zu entbehren - vielleicht außer dem Nickelstahl-Siegelring, den mir im Sommer mal ein Kumpel für die Reparatur seines Kochgeschirrs verehrt hat. (Im Krieg machten bei Stock & Co. die französischen Arbeiter solche Ringe aus den großen Nirosta-Muttern.) Er bringt noch mal zehn Rubel ein. Mein Kochgeschirr könnte ich auch verkaufen; dafür habe ich schon öfter Angebote gekriegt, weil es so ausnahmsweise groß ist. Aber woraus esse ich dann? Aus einer Konservendose, wie es hier viele tun, mag ich nicht. Ein Zinkblechtopf, wie er bei den Schlossern zu haben ist, kostet allein schon zehn Rubel; da müsste ich für das Kochgeschirr schon 20 Rubel kriegen, damit das Geschäft sich lohnt.

Als ich bei den Schlossern wegen der Anfertigung so eines Blechtopfes anfrage, komme ich mir richtig dumm vor. Wenn ich nur Blech und Werkzeug hätte - ich würde Töpfe bauen, schöner als ihre - und billiger! Das Blech ist auf der großen Baustelle geklaut (es soll dort zum Dachdecken benutzt werden), gebaut werden die Töpfe in der Arbeitszeit - und dann verlangen die Kerle zehn Rubel? Ich denke mir, daß eigentlich 5 Rubel auch genug sein sollten . . .

Soviel biete ich denn auch erst mal an. Mein Verhandlungspartner sieht mich erstaunt an; er ist offensichtlich nicht gewohnt, dass jemand ihm widerspricht. “Für fünf Rubel kannste dir dein Topp alleine machen!”, sagt er. “Ja, das werd' ich denn auch tun”, sage ich und drehe mich um. “Mensch, warte doch mal! Kann man denn mit Dir nicht reden? Haste neun Rubel?” – “Nein”, schüttle ich den Kopf, “sechse, wenn ich sehr suche . . .” und will wieder gehen. “Herrgott, kann man denn mit Dir kein vernünftiges Wort reden? Wenigstens sieben?” - Ich überlege nicht lange, sondern sage sofort: “Einverstanden!” - und er langt unter seine Pritsche: “Hier ist der Topf - wo ist das Geld?”.

Hinterher könnte ich mich eigentlich ärgern. Den Topf wollte der loswerden, auf dem war der irgendwie sitzen geblieben - wenn ich bei meinen anfänglichen fünf Rubel geblieben wäre, hätte ich ihn mit einiger Geduld wahrscheinlich auch dafür gekriegt. Na ja - ein Händler bin ich noch nie gewesen, und drei Rubel habe ich immerhin noch gespart.

Gewissermaßen als Ausgleich kriege ich für das Kochgeschirr, das ich von Tür zu Tür im Drei-Etagen-Haus anbiete, dann aber auch glatt 25 Rubel ohne zu handeln - und bin mir hinterher nicht sicher, ob da nicht vielleicht auch 30 Rubel drin gewesen wären . . .

So verfüge ich nun über einen Barbestand von 40 Rubeln. Gemessen an den Preisen auf dem Markt ist das nicht allzu viel; aber immerhin reicht es für zwei Wassergläser voll Hirse und für zwei Stückchen fetten Speck, jedes etwa so groß wie eine Streichholzschachtel. Seit Anfang Dezember schon habe ich die täglichen Zuckerportionen gesammelt - nun steht einem dicken Hirsebrei mit Zucker und ausgelassenem Speck als Weihnachtsessen eigentlich nichts mehr im Wege . . .

Dann kommt der 24. Dezember heran, und als wir abends von der Arbeit in unsere Stuben kommen, glauben wir, unseren Augen nicht zu trauen. Irgendeine mitleidige Seele hat in jedem Quartier eine kümmerliche Kiefer hingestellt und ein paar Hände voll Glaswolle draufgeklatscht. Es sieht recht dürftig aus, aber immerhin . . . Wie wir vom Lager-Innendienst erfahren, ist es Ludwig selbst gewesen, der das angeordnet hat: “Was´n das hier für'n trauriger Verein? Issa schließlich Weihnachten, wa? Da sollt'r Euch freu´n - un wenn'r Euch freut, daß'r noch lebt, wa? Los, dawai, alles, was kriech'n kann, raus, Weihnachtsbäume hol'n!” - und dann musste tatsächlich der ganze Lagerdienst, Schuster, Schneider und Friseure, in den Wald und Kiefern holen.

Für mich - und nicht nur für mich - kommt jetzt ein recht schwieriges Problem. Es soll ja ein Weihnachtsessen geben, und das muss gekocht werden; nur - Kochen ist im Lager verboten . . . Die Möglichkeit dazu ist zwar ohne weiteres vorhanden, denn alle die Feuerstellen in den Stuben haben eine richtige eiserne Herdplatte, und von den Kumpels wird wohl kaum einer was dagegen haben (soweit sie nicht selbst ein Weihnachtsessen im Topf haben und deswegen auch an den Herd wollen). Was aber, wenn Ludwig in seiner neu entdeckten Leutseligkeit heute Abend noch durch die Stuben geht . . .?

Grade habe ich meinen Topf voll Wasser aufgesetzt, da geht die Tür auf, und der, den ich jetzt am meisten befürchtet und am wenigsten erhofft habe, kommt rein. Schnell will ich mir meinen Topf schnappen und ihn irgendwo unter der Pritsche in Sicherheit bringen; aber er hat ihn schon gesehen. “Lass' dein' Pott ruh'g steh'n, Langer; heut sollt'r euch freu'n, is doch Weihnachten! Nu sitzt nich da wie bekloppt alle miteinander, singt lieber 'n Lied! Los, Stille Nacht! Fertig-drei-vier!” - und tatsächlich finden sich einige, die in das Gegröle einstimmen, das er anfängt. “Na, seht'r! Is doch gleich Weihnachtsstimmung inne Bude!” - und raus ist er wieder.

Bis mein Wasser zum Kochen kommt, gehe ich schnell mal über den Flur in die Nachbarstube. Dort steht genauso eine krüpplige Kiefer, mit ein paar Handvoll Glaswolle “geschmückt”, auf dem Tisch, auf dem Feuer stehen genauso die Kochgeschirre, und die Kumpel sitzen da und starren vor sich hin oder den Baum an. Gerade will ich von Ludwigs Ausbruch von guter Laune und Menschenfreundlichkeit erzählen, da geht die Tür auf und er kommt persönlich. “Was'n hier los? Wer kocht'n hier? Wißt'r doch genau, daß Kochen auf den Stuben verboten is, wa? Wem gehör'n die Pötte hier?” - Alle sitzen wie erstarrt, und keiner rührt sich. “Was'n, die gehör'n keinem? Auch gut - sin se meine, wer'n se kassiert!” - und sammelt die Töpfe vom Ofen und verschwindet mit ihnen. Ich verdrücke mich auch in unsere Stube und hoffe inständig, dass er die Runde nicht noch einmal macht . . .

Am Ende meiner Bemühungen stehen dann zwei Liter schönen dicken Hirsebreis, und der ausgelassene Speck und der Zucker machen das Ganze so richtig festlich, auch, wenn sie zunächst gar nicht so recht zusammen zu passen scheinen. Sicher, braune Butter wäre besser gewesen . . .

Das wäre denn aber auch schon Weihnachten gewesen. Mehr wird nicht; aber dafür fällt Neujahr aus dem Trott der üblichen Tage heraus. Wir gehen nämlich nicht zur Arbeit. Seitdem ich hier in diesem Lager bin, ist das der erste Tag, an dem wir nicht zu arbeiten brauchen; selbst Ludwig findet im Lager nichts weiter zu tun für uns, als dass wir den ganzen Vormittag unsere Strohsäcke “zum Lüften” von einer Seite des Hofes auf die andere spazieren tragen müssen. Sicher auch notwendig; aber muss das ausgerechnet Neujahr sein?

Im neuen Jahr geht es dann wieder auf unseren Bauplatz, Holz verbrennen; und das ist eigentlich gut so, denn es ist saumäßig kalt geworden. Die Kumpels, die im “Flößerkommando” am Dnjepr Stämme aus dem Eis picken, bringen von der Eisgangsstation die Außentemperaturen mit. Die schwanken zwischen 20 und 30 Grad unter Null, meist näher an den Dreißigern. Wer jetzt nicht aufpasst, kann sich sehr schnell die Nase erfrieren. Gut, daß wir für diese Temperaturen wenigstens die richtigen Schuhe gekriegt haben - Postenschuhe der Deutschen Wehrmacht aus den Winterfeldzügen. Die sind zwar mächtig schwer - wegen der dicken Holzsohlen - und viel zu groß, weil sie ja als Postenschuhe eigentlich über der normalen Fußbekleidung getragen wurden, aber dafür geht außer den Füßen noch eine Menge Heu und Lumpen hinein. Das hält wenigstens die Füße warm. Die “oberen Zehntausend” allerdings haben richtige Filzstiefel gekriegt. Na ja, die braucht man ja in der geheizten Schlosserei auch . . .

Mit meinem linken Bein stimmt irgendetwas nicht. Zwischen Schienbein und Wadenbein, da, wo immer der obere Rand der “Schuhe” scheuert, ist auf der Haut ein diffuser roter Fleck, der ganz gemein schmerzt. Der Sanitäter im Revier hat mich erst gar nicht bis zum Arzt vorgelassen: “Das ist eine kleine Prellung, das ist morgen wieder weg . . .”. Glaub' ich nicht so recht; eine Prellung müsste auf einem der beiden Knochen liegen und nicht zwischen ihnen, und dann habe ich die Angelegenheit auch schon ein paar Tage, also nichts mit “morgen wieder weg . . .”. Soweit ich mich auf meine Sanitätererfahrungen verlassen kann, scheint das eine waschechte Phlegmone zu werden . . .

Fünf Tage schleppe ich mich mit dem schmerzenden Bein noch auf den Bau. Der Weg ist ja nicht weit, und wenn ich erst da bin, brauche ich mich nur zwischen Holzstoß und Feuerstelle zu bewegen, da geht das schon. Als aber in diesen fünf Tagen der Fleck immer größer wird und zum Schluss dann sogar in der Mitte grün-gelb wird, bin ich meiner Diagnose sicher und denke, auch der Sani wird nun nicht mehr an eine Prellung glauben. Die Schmerzen sind auch täglich stärker geworden; irgendetwas sollte jetzt wohl unternommen werden, denn ohne Verbandzeug werde ich damit nicht fertig, und etwas Ruhe müsste ich nun auch haben . . .

Der Sani stellt mich denn auch tatsächlich sofort dem Doktor vor, der sieht nur einmal hin, sagt: “Da hast Du Dir aber eine saubere Pyodermie eingehandelt!”, legt mein Bein auf einen Hocker und sterilisiert über der Spiritusflamme ein Skalpell. Als er dann mit dem heißen Skalpell in die Eiterblase hineinstechen will, platzt die von selber, und ein reichliches Schnapsglas voll Eiter läuft in die Nierenschale, die er mir zum Darunter halten gegeben hat. Na also . . .

Damit ist der Eiter raus, und ich werde krankgeschrieben, mit einem dicken Wickel aus Zellstoff und Papierbinde ums Bein (Papierbinde - das ist so etwas Ähnliches wie unperforiertes Klosettpapier und stammt aus den letzten Kriegsmonaten von der Deutschen Wehrmacht); aber die Schmerzen waren vorher besser zu ertragen. Kein Wunder, denn jetzt habe ich ja auch ein Loch von der Größe eines kleinen Hühnereis im Bein und weiß nicht, wie ich das Bein halten soll. Stehen geht nicht, Sitzen geht nicht, Liegen geht nicht - einer gibt mir den (nicht ernst gemeinten) Rat: “Wenn gar nichts geht, dann hilft nur aufhängen!” - und er hat Recht. Ich hänge nicht mich auf, sondern das Bein in ein Stück Schnur, das ich an der Pritsche über mir festgemacht habe (zum Glück habe ich einen unteren Schlafplatz), und habe damit tatsächlich Erleichterung.

Sehr unangenehm ist nur, dass sich nebenbei noch ein ganz dummer Durchfall einstellt. Das Essen konnte ich mir ja noch mitbringen lassen, aber es dann wieder wegtragen, muss ich notgedrungen selbst, auf die Latrine kann ich schlecht einen anderen schicken; und das ist jetzt etwa in halbstündigen Abständen notwendig . . . Dabei brauche ich schon für den Weg hin zum Donnerbalken ungefähr 10 Minuten, und zurück auch wieder; da bleibt nicht mehr viel Zeit zum Liegen.

Die Temperaturen sind weiter gefallen. Das merkt man aber nur am Thermometer (wenn man eins haben sollte) oder an der Nase, die viel schneller weiß wird, als einem lieb sein kann. (Wenn es so weit ist, dann hilft nur - sofort mit viel Schnee abreiben . . .) Bei Temperaturen unter minus 35 Grad gehen die Brigaden nicht mehr arbeiten, und selbst Ludwig darf dann keine Außenarbeiten mehr für uns erfinden. Wie man sagt, brauchen auch die Russen dann nicht zu arbeiten, und sogar die Schule fällt aus . . .

Man könnte fast eine Uhr danach stellen, glaube ich; alle halbe Stunde schnappe ich mir meine selbstgebastelte Krücke und humpele zur Latrine. Wenn es nur ein wenig wärmer wäre, würde ich mich am liebsten dort häuslich einrichten, um den Weg zu sparen. An dem Loch im Bein ändert sich nichts; aber außer einer frischen Papierbinde alle zwei Tage wird ja auch nichts daran gemacht, keine Salbe, kein Puder, nicht einmal ein Desinfektionsmittel. So etwas hat der Doktor nicht, sagt er . . .

Zwischendurch ist dann auch mal wieder eine Kommissionierung gewesen - Heinzelmännchens Nacktparade . . . Interessant, wie sich die seit November eingefrorene Wasserleitung im Waschraum auf uns ausgewirkt hat; Gesicht, Hände und eventuell der Hals haben eine einigermaßen normale Hautfarbe, der ganze Rest des Körpers ist braun wie nach einem Sonnenbad. Was willst du machen; die Küche gibt kein Wasser ab – “Du spinnst wohl? Stell dir vor, da kämen alle . . .”, hat der Schorsch mich angeblafft, als ich schüchtern gefragt habe; und Eimer, in denen man Schnee auftauen könnte, sind geheime Verschlusssache, die hat nur die Elite des Lagers. Also bleibt man ungewaschen, denn das Kochgeschirr voll Wasser, das man nach Feierabend aufgetaut kriegt, reicht beim besten Willen nur für die Hände und das Zifferblatt . . . Saubere Wäsche habe ich auch zum letzten Mal Anfang November im Fleischkombinat gekriegt, stelle ich bei der Gelegenheit fest; das Hemd könnte man in die Ecke stellen - wenn es dann nicht sofort geklaut würde . . .

Bei der Kommissionierung bin ich OK geworden. OK - das ist die Abkürzung für "Otduchnije kommando - Erholungsabteilung”; der Pleni hat, um sich was drunter vorstellen zu können, “ohne Kraft” daraus gemacht, und für mich trifft das jetzt auf alle Fälle zu. Das verdammte Loch im Bein, dazu der - glücklicherweise langsam ausklingende - Durchfall . . . Und im November bin ich als Arbeitsgruppe 2 hier angekommen . . .

Wie schon im vorigen Winter, so braucht auch jetzt die OK nicht zu arbeiten. Na, das habe ich die letzten beiden Wochen sowieso nicht getan; aber als anerkanntes OK-Mitglied muss ich nun auch in die OK-Stube einziehen. Gescheiter Weise ist die im ersten Stock, so dass ich nun mit dem Bein auch noch Treppen steigen darf, und das fällt verdammt schwer. Ich bitte Helmut, der auf der Pritsche neben mir “wohnt”, mir Strohsack, Decke und Gepäck nach oben zu tragen; ich habe zu tun, mich selbst da hinauf zu befördern.

An sich sind mir OK-Leute nichts Neues mehr. Allein im Erholungsheim im vorigen Sommer waren wir ja immer so etwa 300 Mann davon . . . Aber so etwas wie den größten Teil der Leute, die hier auf der OK-Stube liegen, habe ich bisher noch nicht kennen gelernt. Zugegeben, richtig sauber kann sich unter diesen Umständen hier kaum noch jemand halten, und der an den Feuern zugebrachte Winter hat mit Funkenflug und Brandstellen von der Kleidung seinen Tribut gefordert; aber hier scheint sich das alles in höchster Konzentration zusammengefunden zu haben . . . Und dabei haben die OK-Leute als einzige im Lager die Möglichkeit, mal an einen Eimer heran zu kommen; denn zu ihren Aufgaben gehört die Zimmerreinigung, und für die Zimmer der Lagerdienstler gibt es Scheuereimer . . .

Der Schmutz und die Lumpen sind das erste, was mir auffällt. Das zweite sind die “Tischmanieren” . . . Wie zuhause am gedeckten Tisch kann hier ja keiner essen, das ist mit dem Kochgeschirr oder dem Weißblechnapf und dem Löffel als einzigem Tischgeschirr kaum möglich; aber in den Brigaden hat man sein Essen unter diesen Bedingungen eben einfach gegessen, und das war's dann. Hier dagegen . . . Das fängt schon am Ausgabeschalter an: Der eine streitet jedes Mal völlig sinnlos mit dem Mann mit der Kelle, weil angeblich immer gerade er nur das Dünne von der Suppe kriegt, der zweite leckt, kaum dass er den Topf zurück hat, alles ab, was beim Einkellen vorbei gegangen ist und nun außen am Geschirr klebt, der dritte hat schon vorher irgendetwas Undefinierbares im Kochgeschirr (“Geriebene Kartoffelschalen - da wird die Suppe dick von . . .”) und lässt sich das Essen drauf füllen; da kommt einer, der lässt sich Suppe und Kascha in einen Topf füllen und brockt noch auf dem Rückweg in die Stube das Brot darein – “Dick muss es sein, dass der Löffel steht!” - ein anderer setzt seine Konservenbüchse mit der Suppe, kaum dass er sie zurück hat, an den Hals und schmatzt sie auf dem Weg ins Quartier gierig in sich hinein; wieder einer trägt das Kochgeschirr mit der Suppe, den Deckel mit der Kascha und das Stück Brot auf einem Stück Brett vor sich her, als müsste er in einer Gaststätte servieren . . .

Am großen Tisch in der Stube geht der Zirkus weiter. Am normalsten scheinen noch die, die das Essen mit unglaublicher Hast verschlingen (dabei ist das gar nicht nötig; kein Mensch pfeift für sie zum “Raustreten zur Arbeit”, bevor sie fertig sein könnten). Dafür gibt es andere, die zögern das Essen so lange hin wie es nur geht, essen nur löffelspitzenweise und zerlegen das Brot mit dem Messer in lauter kleine Würfelchen, bevor sie's in den Mund stecken. Einer hält mir einen Vortrag über einen gewissen Fletcher, einen englischen Arzt, der das Kauen erfunden hat: jeden Bissen zwölfmal kauen und dann erst runterschlucken, sonst werden die Speisen nicht richtig aufgeschlossen . . . Manche sammeln die Fleischfasern in der Suppe, um sie zum Schluss zu verzehren, und am verrücktesten erscheint mir einer, der diese Fleischfasern verschenkt, weil er überzeugter Vegetarier ist.

Dann gibt es schließlich noch die, die nur Suppe und Kascha essen und mit dem Brot irgendwo in den Schlafräumen der Brigaden verschwinden, um dort irgendwelche Geschäfte zu machen. Brot gegen Tabak, Brot gegen Salz, Brot gegen Rubel . . . Als wenn das Essen nicht ohnehin schon knapp genug wäre! 

Unter all diesen mehr oder weniger seltsamen Figuren fällt mir mein Bettnachbar deswegen besonders auf, weil er diesen ganzen Unsinn genauso wenig mitmacht wie ich, weil seine Kleidung relativ geflickt ist und weil er jeden Tag versucht, sich zu waschen und dann den Eimer regelmäßig mir anbietet. Ich habe richtig einen Schreck gekriegt, als er damit zum ersten Male ankam . . . Er heißt Ludwig, ist ein Jahr älter als ich, Uhrmacher von Beruf, stammt aus Magdeburg. Er bringt mir auch mein Essen mit, denn das Laufen - besonders die Treppe rauf - macht mir noch erhebliche Schwierigkeiten.

 Ludwig erinnert mich in vielen Dingen an Rudi; allerdings ist er kein Mathe-As, sondern glühender Schiller-Verehrer. Zu meiner Schande muss ich feststellen, daß da außer dem “Handschuh” und den “Kranichen des Ibikus” und der “Bürgschaft” bei mir nicht viel geblieben ist, wenn man von Schillers Lebenslauf mal absieht; und den kenne ich eigentlich auch nur, weil ich ihn im Kino gesehen habe . . .

Wenn das “Im-Kopf-Behalten” nicht so schwer geworden wäre, könnte ich von Ludwig eine Menge lernen. Der zitiert ganze Passagen aus den “Räubern”, der “Jungfrau von Orleans” oder dem “Wallenstein” auswendig und erzählt die Handlung so wie wir früher die Filme, die uns besonders imponiert hatten . . . Aber jetzt bleibt bei mir im Kopf nichts mehr drin. Was ich mal gelernt habe, ist zwar noch da, und was es vorgestern zum Essen gegeben hat, behalte ich auch noch; aber viel mehr ist nicht, und ganz besonders fällt mir das Lesen schwer. Postkarten von zu Hause gibt es jetzt so ziemlich regelmäßig alle vier Wochen, und genauso dürfen wir auch schreiben; aber was das jedes Mal für ein Aufwand ist, den Text auszuformulieren, der auf die Karte soll, oder aber rauszukriegen, was die Zuhause als Antwort geschrieben haben: Immer, wenn man ein Wort verstanden hat, muss man nach dem vorigen sehen, weil man's schon wieder vergessen hat . . . Ob das mit der Ernährung - oder vielleicht auch mit der Kälte - zusammenhängt?

Unterdessen hat draußen der Februar angefangen. Draußen . . ., denn in unserer Stube scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Mittlerweile kennt man die Schrullen und die Besonderheiten von jedem und wartet schon darauf, dass bei den entsprechenden Anlässen die fest dazugehörenden Witze erzählt werden, oder dass ein bestimmter Mitbewohner bei bestimmter Gelegenheit den immer gleichen Rappel kriegt und sich mit immer den gleichen Worten über immer dasselbe aufregt . . .

Das kann einen auf die Dauer anöden, und schließlich fällt mir sogar Ludwig mit seinem Schiller auf die Nerven. Also verziehe ich mich an die frische Luft. Mein Bein bereitet mir zwar immer noch Schwierigkeiten, und warm ist es draußen noch lange nicht, aber immer besser als in unserer Höhle. Irgendetwas muss es doch da draußen auch für mich zu tun geben - es war doch sonst immer so viel Arbeit da . . .

Eine Beschäftigung, die mir zusagen könnte, habe ich auch sehr bald gefunden; nur habe ich sie noch nicht und muss es recht geschickt anfangen, damit jemand merkt, was ich will . . . Jeden Vormittag holt der Robert, das ist einer der Köche, mit einem Schlitten die Kartoffeln und den Sauerkohl für den Tag aus dem Kartoffelkeller, der etwa 500 Meter vom Lagertor entfernt liegt. Der Schlitten ist beladen, offensichtlich nicht ganz leicht, und Robert muss sich zusammen mit einem der Küchenaufwäscher ziemlich anstrengen, um ihn zu bewegen. Den beiden müsste man doch helfen können, und dabei könnte dann doch wohl mal ein Schlag Suppe rausspringen . . .?

Also lauere ich den beiden am nächsten Tag auf, als sie vormittags den Schlitten holen, und fasse dann kräftig mit zu, als sie die Kartoffelkörbe und das Sauerkohlfass aufladen. Dann schiebe ich mit am Schlitten und komme tatsächlich mit durch das Lagertor und bis zum Kartoffelbunker. Da erst scheint Robert zu merken, dass er heute einen Mann mehr hat. Er sieht mich an, zieht die Brauen hoch, sagt aber nichts. Jetzt heißt es, möglichst angenehm aufzufallen . . . Ich fasse zu, als wenn ich zwei gesunde Beine hätte und Arbeitsgruppe 1 wäre. Ganz egal, was das Bein dazu sagt; ausruhen kann ich später, und wenn ich den ganzen Nachmittag liegen muss. Jetzt muss es klappen, daß ich in Zukunft auch gebraucht werde!

Die Kartoffeln sehen mich verführerisch an, und es würde vielleicht auch gar nicht auffallen, wenn ich mir eine Hand voll Sauerkraut in den Mund stecken würde - aber nicht heute . . . Heute muss ich ganz anständig und ehrlich aussehen, damit ich diese Möglichkeit öfter habe . . .

Zu dritt schieben wir den Schlitten dann zurück, und voll beladen hat er wirklich ein ganz beachtliches Gewicht. Die Schmerzen im Bein werden ziemlich heftig, aber ich halte durch bis vor die Tür zur Küche und bis wir abgeladen haben; und dann sagt Robert zu mir: “Geh, hol' dein' Topf - und morgen um die gleiche Zeit . . .”.

Das hat also geklappt. Von da an habe ich jeden Vormittag einen zusätzlichen Schlag Suppe, und je länger ich dabei bin, desto einfacher wird es, im Kartoffelbunker etwas von dem, was dort gelagert wird, für mich abzuzweigen. Nicht von dem, was wir dort empfangen; das gehört den Kumpels, und da gehe ich nicht ran. Aber das, was dort liegt - das gehört den Russen, und soweit ich das beurteilen kann, werden wir von denen in diesem Lager auch beklaut. Freilich, wenn Robert mich jetzt dabei erwischen sollte - dann könnte ich mich auf was gefasst machen; denn ich bin ziemlich sicher, dass unser bekloppter Lagerführer in solchen Sachen erst recht kein feiner Mann ist . . .

Leider geht das nur etwa anderthalb Wochen so; dann merke ich, dass ich abends wieder Fieber kriege, dazu Kopfschmerzen, Husten, - fast genauso wie vor einem Jahr. Also melde ich mich bei Dr. Beckenhaub, und der stellt “eine Grippe oder so etwas” fest und legt mich ins Revier. Bevor ich einziehe, gebe ich aber Ludwig noch den Tipp, sich vormittags am Tor aufzuhalten; vielleicht kann er an meiner Stelle einsteigen?

Im Revier lässt es sich aber einigermaßen aushalten. Zu Essen gibt es ja auch nicht mehr als draußen (komisch - mindestens die 200 Gramm Weißbrot, die zur Krankenverpflegung gehören, müsste es doch wohl geben?), aber dafür ist es im Vergleich zu der ständig unruhigen OK-Stube ein herrlich ruhiger Ort. In den zwei Wochen, die ich krank im Bett liegen muss, tue ich fast nichts anderes als schlafen und gelegentlich essen, und das bekommt mir ausgesprochen gut. Dann ist das Fieber weg. Mein Bein allerdings ist trotz des Papierwechsels alle zwei Tage unverändert - ein Loch wie ein kleines Hühnerei mit einem rot entzündeten Rand drum rum. Von Heilung keine Spur . . .

Während meines Revieraufenthaltes hat der Ludwig, der Lagerführer, offenbar wieder mal eine Blitzidee gehabt und alle im Lager anfallenden Arbeiten fest vergeben. Rudi ist das Kartoffeln holen geblieben; aber für mich, der ich nun neu in dieser Organisation bin, ist wieder mal nichts übrig.

Im Revier habe ich entdeckt, dass wir die Zeitung mit dem schwarz-weiß-roten Band im Kopf - die “Nachrichten für deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion” - hier ziemlich regelmäßig kriegen; nur kommt sie nicht bis zu uns in die Stuben, sondern bleibt in Lagerleitungsbüro und Revier liegen. Weil ich ja nun wieder mal Zeit in unbegrenzter Menge habe, nehme ich mir vor, etwas für meine Bildung zu tun, gehe täglich auf den Revierflur und versuche, zunächst mal wieder einigermaßen flüssig lesen zu lernen. Das strengt auch nicht viel weniger an als die Arbeit in der gefrorenen Erde . . .

Dabei entdecke ich denn auch neben der Tür zum Büro der Lagerleitung eine große Anschlagtafel, so eine Art "Schwarzes Brett" wie früher in der Kaserne. Oben drüber steht “Wandzeitung”, und dort hängen alle möglichen Ausschnitte aus der Zeitung, Aufrufe zu besserer Arbeit bei der Wiedergutmachung oder zur Freundschaft mit der Sowjetunion - als ob so etwas von uns hier abhinge? Arbeite mal besser, wenn man dich bei 30 Grad Frost zum Schachten schickt . . . Dazwischen ein handgeschriebener Zettel:

Zirkel zum Studium des dialektischen und historischen Materialismus
Meistert die Zukunft mit der Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels !
Alle interessierten Kameraden sind herzlich eingeladen
und treffen sich am Dienstag Abend um 20  Uhr
im Klubraum (ehem. Büro der Lagerleitung)

Ich stolpere zunächst über “die Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels”. Ist das vielleicht das, was ich in dem Buch vorigen Sommer nicht verstanden habe? Na ja, wenn das nun einer erklären würde . . .? - Alle Kameraden - das hört sich wieder so verdammt kommiss-dienstlich an; ob das auch so militärisch aufgezogen wird? “Kollegen”, hätte mir besser gefallen. Na, und “ehem. Büro der Lagerleitung” - das ist ganz neu, dass dort jetzt ein Klubraum sein soll. Für wen hat denn der Ludwig da auf sein Heiligtum verzichtet? - Auf alle Fälle muss man sich das durch den Kopf gehen lassen . . .

Je länger ich über diese Angelegenheit nachdenke, desto mehr Erwartungen setze ich in diesen “Zirkel zum Studium”. Ob ich da vielleicht so viel lerne, dass ich das, was hier um mich herum vorgeht, wenigstens etwas besser verstehe? Dementsprechend gespannt steige ich am Dienstag Abend die Treppe zum neuen “Klubraum” hoch. Der erste Eindruck nach dem Öffnen der Tür - tatsächlich, das ist ein ganz netter und wohnlicher Raum geworden. Tische, Bänke mit Rückenlehne, ein hölzerner Kronleuchter mit 6 Glühlampen in aus Papier gefalteten Schirmen, Bilder von Marx und Engels und von Lenin und Stalin an den Wänden, eine rote Fahne, Aschenbecher auf den Tischen - richtig ungewohnt zivilisiert.

Der zweite Eindruck: Ich habe mich wohl gründlich verlaufen. Die ganze Lagerelite sitzt da an den Tischen - die Schlosser, die Brigadiere, die BKs - und alle sehen mich an, als wenn sie sagen wollten: “Wie kommst denn du hier rein?”. Aber jetzt bin ich stur; auf dem Zettel stand “Alle Kameraden . . .”, und so denke ich, dass ich auch gemeint bin, suche mir einen freien Platz und setze mich hin.

Der Vortrag ist dann auch nicht so recht das, was ich mir vorgestellt habe. Zuerst zwar, als der Propagandist vom “Nationalkomitee” zur Einleitung spricht und immer wieder darauf zurückkommt, welche Bedeutung die Lehre von Marx und Engels für die große Sowjetunion hat, da denke ich immer, er müsste gleich etwas aus meinen vielen Fragen beantworten; aber dann “erteilt er dem Seminarleiter, dem Kameraden Claus, das Wort zu seinen Ausführungen” - und da bin ich denn schon ziemlich enttäuscht, denn der “Kamerad Claus” ist der Lagerschreiber, der Eberhard, ein kleines, unscheinbares Männchen von etwa 40 Jahren, der mir eigentlich bisher nur aufgefallen ist, weil er mich sehr an einen meiner ehemaligen Lehrer erinnert und wohl auch Lehrer gewesen sein soll . . . 

Soweit ich die Sache richtig verstehe, handelt es sich bei dem “historischen und dialektischen Materialismus” um eine Art, die Welt im Allgemeinen und die Geschichte der Menschheit im Besonderen zu betrachten, und da denke ich, dass mir das nicht schaden kann; denn das meiste, was ich aus meinem bisherigen Geschichtsunterricht noch weiß, passt zumindest für die neuere Geschichte nicht so recht mit dem zusammen, was ich bisher selbst erlebt habe. Leider fängt der Eberhard Claus aber nicht mit der Gegenwart, sondern mit der fernsten Vergangenheit an, mit Neandertalern und Cro-Magnon-Menschen, und erläutert uns lang und breit, wie die in ihrer “Urgemeinschaft” zusammengelebt und zusammengearbeitet haben müssen. Ob das wohl mal das wird, was ich suche?

Mittlerweile fängt es draußen an zu tauen. Die Schneehaufen, die wir in vielmaliger Sonntagsarbeit rings um das Gebäude aufgetürmt haben, werden kleiner, der Matsch auf allen Wegen wird tiefer, die Luft wird spürbar wärmer und alles wird feucht. Ringsum wird es grau - vom Himmel bis zu den Bäumen und Häusern. Das einzige, was ein bisschen Farbe in die Landschaft bringt, sind die mittlerweile rund 40 Standardhäuser, an deren Bau ich damals mitgearbeitet habe. Ihr frisches Gelb fällt richtig wohltuend auf.

Es macht zwar furchtbar Mühe, den Vorträgen von Eberhard Claus zuzuhören; aber ich zwinge mich dienstags abends immer von der Pritsche hoch und gehe in den Klub. Mittlerweile hat er die Sklaverei vor und erläutert sie am Beispiel des römischen Imperiums und der griechischen Stadtstaaten - und ich werde den Verdacht nicht los, dass er in Zivil nicht nur Lehrer, sondern sogar Lateinpauker gewesen sein muss. Wie er da von der römischen “res publica” und “SPQR” schwärmt und uns den Übergang von den “consules” zu den “caesares” nahe zu bringen versucht - ich habe immerzu eine Heidenangst, dass er plötzlich anfängt und lateinische Vokabeln abfragt . . .

Kommissionierung - und die Ruhepause in der OK-Stube hat soweit zu meiner Erholung beigetragen, dass ich wieder Arbeitsgruppe 3 bin. Dass das Loch in meinem Bein immer noch nicht verheilt ist, spielt keine Rolle - das wird ambulant weiter behandelt, und damit kann man arbeiten gehen. Sind doch bloß 6 Stunden am Tag für die AG 3 . . . Na gut, ist ja auch schön, mal wieder aus dem Stacheldraht rauszukommen. Für die AG 3 ist das Kommando “Eisenbahn” eingerichtet worden, und dem werde ich jetzt zugeteilt.

Wir bauen Schmalspur-Gleisanlagen, aber der Arbeitsplatz ist auch hier die Großbaustelle. Das, was dort entsteht, soll ein großes Sägewerk werden, und wir verlegen die 60-cm-Gleise für den Holztransport im Werk. Wir schütten Dämme auf und montieren die Gleisrahmen, und für den Erdtransport benutzen wir unsere eben erst verlegten Gleise. Die Arbeit ist zwar körperlich anstrengend, aber zu schaffen, denn es drängelt keiner.

Der Antifa-Propagandist, der im Winter ins Lager gekommen ist und von dem wir bisher (außer dem “Zirkel" von Eberhard Claus) nicht viel zu sehen oder zu hören gekriegt haben, wird mit einsetzender Wärme auch mobil. Jetzt hat er alles, was noch nicht 20 Jahre ist, zur Bildung eines “Antifa-Jugendausschusses” eingeladen. Die Leitung hier hat der Muhri-Franz, ein Österreicher, der mir bisher immer nur aufgefallen ist, weil er als einfacher Pleni verhältnismäßig sauber angezogen und mit einem großen rot-weiß-roten Wappenschild an der Mütze rumläuft. Der will mit uns - ich bin nämlich auch mit hingegangen - Lieder singen, die wir bisher noch nicht kannten – “Arbeiter von Wien” und “Brüder, seht die rote Fahne”, und bei der Gelegenheit lerne ich denn auch die “Internationale” kennen - aber erklären tut er nichts, und fragen will auch keiner etwas, und so verläuft sich der ganze Ausschuss sehr schnell wieder.

Die Arbeit auf der “Eisenbahn” ist eigentlich nicht so schwer; wir bauen unser Gleis “vor Kopf”, das heißt, wir schütten den Damm so hoch und so breit auf, wie der Heinz, der Brigadier, das aus der Zeichnung herausliest und mit einem richtigen Theodoliten im Gelände vermisst und absteckt, dann legen wir einen ganzen Gleisrahmen darauf und holen auf diesem Gleis Material für das nächste Dammstück. Das Material ist der Sand, den wir im Winter aus den Baugruben gepickt haben, und zum Transport dient eine Kipplore. Leider hat die die hässliche Eigenschaft, an den Schienenstößen oder in engen Kurven aus dem Gleis zu springen, und wenn sie voll ist, heißt das, etwa 4 Tonnen wieder auf das Gleis aufzusetzen; und das ist eine ganz erhebliche Schinderei. Meist hilft da wirklich nur Abkippen und neu wieder aufladen, und so kommen wir nur an wenigen Tagen auf die Norm. Das spielt aber keine so große Rolle für uns, denn die Verpflegungsabzüge für das Nichterfüllen sind wieder abgeschafft worden.

In den Zirkelabenden aufzupassen und mitzudenken wird immer schwieriger. Die ungewohnte körperliche Arbeit und die ebenso ungewohnte viele frische Luft machen mich dermaßen müde, dass ich Mühe habe, überhaupt wach zu bleiben. Außerdem habe ich den Eindruck, daß der Eberhard Claus gar nicht mehr so recht weiß, was er eigentlich von uns will oder mit uns soll; er ist immer noch bei der Sklaverei in allen möglichen antiken Staaten und Stadtstaaten und zitiert an laufenden Bande irgendwelche griechischen Philosophen und römischen Staatsmänner aus dem Kopf und in den Originalsprachen; ich glaube, den hat man da an sein Steckenpferd rangelassen, und nun tobt er sich aus . . . Schade; aber das gibt mir einfach nichts, da bleibe ich besser weg und schlafe mich aus.

Auf dem Bau haben wir jetzt richtiges Frühlingswetter mit viel Sonnenschein; da riskiere ich es und mache den Verband von meinem Bein ab, nachdem ich mir die Hosenbeine hochgekrempelt habe. Vielleicht, dass die Sonne mir das Loch im Bein austrocknet, daß es endlich mal zuwächst; denn es kann ja wohl nicht richtig sein, dass die Geschichte fast drei Monate nach dem Entstehen immer noch nicht abgeheilt ist?

Einer der russischen Arbeiterinnen, die neben uns beschäftigt sind, fällt das auf, und sie kriegt mich beim Arm und bringt mich in eine kleine Baracke, an der auf einer Sperrholztafel “MEDPUNKT” neben einem roten Kreuz steht. Medpunkt - das ist scheinbar die Unfallhilfsstelle des Baus - was soll ich da, das ist doch kein Unfall bei mir? Aber darauf kommt es wohl gar nicht an; eine Schwester besieht sich das Bein, pinselt die Wundränder mit einer Flüssigkeit ein, die wie Jodtinktur brennt und wie aufgelöster Kopierstift aussieht, streut aus einer Flasche ein gelbliches Pulver darüber und verpasst mir dann einen wunderschönen Mullverband. Anschließend macht sie mir klar, dass ich in drei Tagen wiederkommen soll.

Am nächsten Abend bin ich zum Verbinden ins Revier bestellt. Der Sani ist zunächst ob meines schönen Verbandes erstaunt und zeigt ihn dem Doktor, und der will wissen, wer und warum und mit was und so weiter. Viel kann ich ihm nicht sagen, aber als er den Verband abwickelt, stellt er selber fest: “Methylviolett und Bärlapppuder - ist bei uns nicht üblich, und hier im Lager haben wir das auch gar nicht; aber lass sie ruhig weitermachen, es scheint zu helfen. Die Binde behalten wir aber hier!”.

Eines Morgens taucht bei der Arbeitseinteilung am Tor ein neues Gesicht auf, ein junger Unterleutnant, der die Zusammenstellung und das Ausmarschieren der Kommandos befehligt. Der Oberleutnant, der das bisher gemacht hat, der Alexandrin, ist nicht zu sehen, und es fällt allgemein auf, wie ruhig und zurückhaltend sich Ludwig, der Lagerführer, benimmt. Später läuft dann das Gerücht um, der Unterleutnant sei die Ablösung für den Alexandrin, und der wäre abgesetzt und eingesperrt, weil er in die eigene Tasche gewirtschaftet hätte . . . Möglich ist das schon, aber woher wollen wir das wissen? Uns erzählt doch keiner was Offizielles . . . Aber fest steht - der Alexandrin wird seitdem nicht mehr gesehen . . .

Dann ist der 1. Mai heran, und für den hat sich der Antifa-Mann allerlei Besonderes ausgedacht. Nun müsste mir eigentlich mal jemand erklären, warum die Russen diesen Tag feiern, den wir doch auch unter Hitler jedes Jahr gefeiert haben; aber das tut keiner, und zu fragen habe ich nach dem missglückten Besuch im “Zirkel” auch keine Lust mehr. Egal - wichtig ist, dass nicht gearbeitet wird . . .

Dafür hat es eine “Demonstration” und ein “Meeting” gegeben. Zur “Demonstration” sind wir mit Musik (Schlagzeug, Schifferklavier und Trompete) und Gesang (“Brüder zur Sonne”), einer roten Fahne und einem Schild “Für Frieden und Völkerverständigung” einmal am Zaun entlang um das ganze Lagergelände gezogen, und zum “Meeting” haben wir dann auf dem Appellplatz gestanden und der Propagandist hat eine Rede geredet, von Frieden und Völkerverständigung, und wie schön alles wird, wenn wir wieder zu Hause sind. Mitten in die Rede hinein hat es plötzlich angefangen zu schneien, ganz große Flocken, und weil wir ja am 30. April alle Wintersachen abgeben mussten und nur mit den Sommergarnituren dastanden (und das sind bei den meisten alte Uniformen von der Roten Armee), ist alles in die Stuben geströmt, und weil keiner mehr da war, hat er dann mit der Rede auch aufgehört.

Nach dem Mittagessen ist in der großen Halle, in der im Winter das Brennholz gelegen hat, eine Theateraufführung. Irgendwie hat mein Freund Ludwig (der Schillerverehrer) mit seinem Gedanken, die “Räuber” aufzuführen, bei dem Antifa-Menschen Anklang gefunden, und irgendwie müssen wohl die dabei vorauszusehenden Probleme (vom Beschaffen der Textbücher bis zur Zeit für die Proben) zu lösen gewesen sein; jedenfalls führt der “Dramatische Zirkel” das Stück auf, und nicht nur mangels besserer Beschäftigung gehe ich gespannt hin.

Die Kumpels geben sich große Mühe, auch, wenn sie mit dem Textbuch in der Hand spielen und das Ganze ohne Kostüme, in unserer normalen Garderobe, darstellen. Der Zirkelleiter, erfahre ich jetzt, ist in Zivil Schauspieler an irgendeinem Kleinstadttheater, und mein Freund Ludwig spielt den Spiegelberg. Bisher hatte ich das Stück nur gelesen, aber es - selbst unter diesen Umständen - auf der Bühne zu sehen, ist doch ganz was Anderes. Nun wird mir klar, warum der württembergische Großherzog den Schiller einsperren lassen wollte . . .

Danach ist “Konzert”. Es haben sich da ein paar Mann zusammengefunden, denen hat der Propagandist Musikinstrumente besorgt, und die sind nun unsere Lagerkapelle: ein Schifferklavier, eine Trompete und eine Geige, und ein Schlagzeug hat sich der vierte aus Sperrholz und Blech selbst gebaut. Die spielen so aus dem Hut alles mögliche, am besten aber drei Stücke, die aus dem amerikanischen Jazz stammen sollen (von dem ich bisher überhaupt nichts weiß): “Alexander´s Ragtime-Band” und “Begin The Beguine” und “In A Persian Market”. Das letztere kommt mir irgendwie bekannt vor, und schließlich fällt mir ein, dass mein Vater es auf einer Grammophonplatte hatte; aber das ist so lange her, das muss noch vor Hitler gewesen sein; es ist fast ein Wunder, dass ich mich dran erinnere . . .
Am Abend gehen wir dann im Klub des Sägewerks ins Kino. Nicht so etwas Provisorisches wie vor fast zwei Jahren in Gomel, sondern ein richtiger Kinosaal, mit Vorhang vor der Bühne und Vorführapparat in einem separaten Raum; und gespielt haben sie für uns den “Fall von Berlin”. Den habe ich ja nun zwar nicht hautnahe, aber immerhin doch miterlebt, denn schließlich gehörten wir ja zum “Verteidigungsgürtel Reichshauptstadt”; aber für einen großen Teil besonders derjenigen, die schon länger in Gefangenschaft sind, wird scheinbar erst jetzt so richtig klar, was da eigentlich zuhause losgewesen ist . . .

Wir bauen jetzt die Gleisanlage vor dem zukünftigen Trockenschuppen. Dort werden auf einer großen Freifläche 12 Gleise nebeneinander verlegt, um später das fertige Schnittholz leichter umstapeln zu können. Die Freifläche muss aber erst planiert werden, und da die Gleise ja noch nicht liegen, kann das nicht mit der Lore, sondern muss mit Schubkarren erledigt werden. Vor Schubkarren habe ich seit der Ziegelei einen Heidenrespekt, und was das hier werden wird, wo neben den Bohlen, auf denen die Karre laufen soll, rechts und links lose geschütteter Sand ist, weiß ich schon gar nicht . . . Außerdem ist ja mein Bein immer noch nicht so weit, dass ich es voll belasten kann. Was das wohl wird . . .

Es kommt, wie ich es geahnt habe - ich kann die volle Schubkarre einfach nicht regieren. Das Bein schmerzt wahnsinnig, die Karre rutscht schon nach den ersten Metern von der Bohle ab, und das Rad mahlt sich bis an die Nabe in den lockeren Sand. Der Kumpel mit der nächsten Karre hinter mir hilft mir, sie wieder aufzusetzen; aber sie rutscht, kaum dass ich die Holme angehoben habe, schon auf der anderen Seite wieder weg. Das wird nichts . . . Wir stellen die Karre neben den Bohlen ab, und ich setze mich auf die Holme und verschnaufe einen Augenblick.

Genau in dem Moment kommt jemand, den ich hier und jetzt am wenigsten erwartet habe. Der Lagerführer, der Ludwig . . . Der hat sich bisher noch nie hier sehen lassen, und ausgerechnet jetzt . . . Aber ist nun auch schon egal. Ich will mich ja gar nicht drücken, ich kann das einfach nicht, das muss doch sogar der einsehen . . .

Der muss gar nichts einsehen. Er hat mich kaum erblickt, da steht er auch schon vor mir und brüllt, dass die Russenfrauen, die nebenan Betonsockel für Trockengerüste gießen, erstaunt aufhören zu arbeiten - was ich mir einbildete, ich sei ein Simulant, wenn alle arbeiten könnten, brauchte ich mich nicht auf ihre Kosten auszuruhen . . . Ich versuche, ihm zu erklären - aber ich komme nicht weit. Wenn der brüllt, dann brüllt er, und je mehr ihm dabei zuhören, desto länger brüllt er, und je länger, desto lauter; und weil die Russenfrauen mit ihrer Arbeit aufgehört haben und nun im Bogen um uns herumstehen, schimpft und flucht er mal auf Deutsch und mal auf Russisch - "Sabotasch, Faulpelz, Parasit, Beine machen, na karzer budish, Drückeberger, Simulant, Hammelbeine lang ziehen, on nje chotschet rabotatj, wenn du jetzt nicht bald anfängst, komm du man zu Mittag ins Lager, ich sperr' dich ein, na karzer, Wasser und Brot, du lernst bei mir noch arbeiten . . ."

Wenn ich nur könnte - ich würde ja, schon, um dieser Szene hier ein Ende zu machen; aber ich kann doch nicht . . . Ich versuche noch mal, die Karre wieder auf die Bohle zurückzukriegen, aber da wird der Schmerz in dem kaputten Bein so stark, daß es einfach den Dienst versagt, und ich falle vornüber auf die Karre, und die kippt um und ihm vor die Füße. “Auch noch frech werden - na warte - heute Mittag - gehst sofort in den Bau . . .” - und dreht sich um und stiefelt weiter. Die Leute um uns herum verlaufen sich wieder, und ich bleibe mit meiner umgekippten Karre allein zurück.

Für den Rest des Vormittags ist mir alles egal. Wenn ich sowieso in den Bunker muss, ist es doch gleichgültig, ob ich noch etwas zustande bringe oder nicht; und so suche ich mir oben auf dem Steilufer des Dnjepr eine ruhige Stelle, setze mich in die Sonne und lasse mir das Bein bestrahlen.

Als wir zu Mittag dann wieder ins Lager kommen, steht Ludwig schon mit einer Liste am Tor und sortiert sich seine Leute heraus. Anscheinend hat er noch etliche mehr gefunden, die er einsperren will, denn da steht schon ein Haufen von etwa 20 Mann hinter ihm, und ich bin der letzte, den er sich raus angelt.

Wir müssen warten . . . Die anderen holen ihr Mittag und essen, aber wir stehen immer noch am Tor. Plötzlich fällt mir auf - der LKW da draußen hinter der Wachbude - das ist doch der 6-Tonner “Tatra” vom Stab? Was will denn der hier? Ob der etwa . . .? Wie viel Mann sind wir? Ich zähle - exakt 25 Mann, genau die richtige Zahl für einen Transport - und dort kommt die Konni, die große Schwester aus dem Lazarett . . . Vielleicht kommt alles ganz anders?